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Der Bärenmartele hatte eine gute Nacht gehabt und konnte, den Arm in der Schlinge tragend, in Haus und Stall Umschau halten und die nötigen Befehle geben.
Die alte Mariannl hatte sich frühzeitig eingefunden, um sich nach dem Patienten zu erkundigen und die Einreibungen mit Seifengeist anzuordnen. Afra dankte ihr herzlich für die dem Vater geleistete Hilfe und dieser fragte die Alte:
»No', was is 's mit dein' Mathies? Braucht er an' Arbet?«
»Der is schon, wie der Tag graut hat, marschaus,« erwiderte die Alte. »Er handelt si' Schindelbaam ein, daß er für 'n Winter Arbet und Verdeanst hat.«
»Der sorgt schon frühzeiti für 'n nächsten Winter,« meinte der Bauer lächelnd;»is der jetzi kaam rum. I wollt wetten, daß 's heunt no' schneit.«
»Ja no',« entgegnete Mariannl, »er nutzt halt sei' Zeit dahoam aus; in etli Tag geht 's Floßg'schäft wieder an und er geht wieder auf etli Wochen dahin. Mei', wär mir aa lieber, wenn i nit alleweil so alloa' sein muaßt; aber dös kannst vordersamst nit ändern.«
Die Alte blickte dabei vielsagend nach Afra.
»Es wird schon bald anders,« flüsterte ihr diese zu. Und von freudiger Hoffnung erfüllt, ging die Alte von dannen.
72 Schlag acht Uhr begann Marteles Dienststunde als Gemeindevorstand, die jeden Mittwoch und Sonntag stattfand. Der Gemeindediener, welcher in Untergrainau seinen Wohnsitz hatte, und unter dem Namen »der Gmoa'wastl« bekannt war, schritt soeben mit einem gewissen Selbstbewußtsein dem Hause des Vorstandes zu. Länge und Hagerkeit wetteiferten bei dem Manne, der sich außerdem durch einen Glatzkopf, große Augen und eine Habichtsnase, auf welcher eine große Brille saß, auszeichnete. Sein Rock bestand aus dunkelblau gefärbter Leinwand und reichte ihm bis über die Waden hinab. Auf der rotpassepoilierten, dunkelblauen Mütze mit breitem, eckigem Schirm, war das Emblem G. D. (Gemeindediener) eingestickt.
Der Gmon'wastl war seines Zeichens ein trefflicher Gebirgsschuster und als solcher von Jägern und Holzarbeitern viel gesucht. An den Gemeindetagen aber reinigte er sich von dem penetranten Pechgeruch, und sobald er den Dienstrock angezogen, Mütze und Brille aufgesetzt, fühlte er sich als Beamter, und hatte er zumal ein paar Akten oder sonstige Schreibereien unter dem Arm, so wußte er ein solch bureaukratisches Gesicht zu machen, als wenn er der Landrichter von Werdenfels selbst wäre, dem er es ganz genau »abgeguckt, wie er sich räuspert und spukt.«
Heute nun hatte er solche Schreibereien unter dem Arm und hielt mit der andern Hand ein riesiges, rotes Regendach sorgsam über sich. So stolperte er dem Hause des Vorstandes zu, und wagte es jemand, ihn, so angethan mit der Amtstracht, in Sachen der Schusterei um etwas zu fragen, so konnte er eines derben Verweises sicher sein. Der Gemeindediener sprach dann von dem »Schusterwastl« in einer Weise, als wäre dieser eine ganz andere Person. Fragte 73 ihn du jemand: »Wastl, was is's? I brauchet meine neu'n Schuah,« so entgegnete er: »Werd' mit 'n Schuasta Rücksprach nehma, wenn i hoamkimm. Für jetzt bin i Beamter, und da giebt's koa' Schuasterei.«
In die Stube des Vorstandes eingetreten, wünschte er diesem in soldatischer Haltung einen »gehorsamsten, guten Morgen« und händigte die ihm vom Garmischer Boten übergebenen Schreiben aus. Da der Martele heute nur einen Arm gebrauchen konnte, hieß er Wastl die Schreiben öffnen, was dieser gravitätisch thut, nebenbei aber, nachdem er aus seinem Schmalzlerglas eine tüchtige Prise genommen, dem Vorstande die ihm bereits bekannte Arretierung des schwarzen Görgl mitteilte.
»Recht gschicht eam, dem Loder!« rief der Vorstand;»jetzt bei der Hegzeit a Hochwild schießen und no' dazua wildern! Und z'naachst an meiner Jagdgrenz! Den solln's amal exemplarisch strafen. Wie san's denn auf eam kemma?«
Der Gemeindediener erzählte nun, daß die Wagnerin von Untergrainau es dem Förster, welcher den verendeten Hirsch gefunden, verraten habe, daß ihn Görgl geschossen haben müsse.
»Pfui Teufel!« sagte Martele, denn so sehr er auch Görgls Wilderei verdammte, so abhold war der ehrliche Mann dem Verrat.
Der Gmoa'wastl mußte dasselbe pflichtschuldigst mitfühlen und auch er sagte: »Pfui Teufl!« und sein Brisilglas hervornehmend, fuhr er fort: »Herr Vorstand, is a Pris' gfälli? A selmgmachter!« Er stübte ihm eine tüchtige Prise auf die gesunde Hand und wiederholte dasselbe bei sich selbst.
74 Tiefe Stille war in der Stube, denn so eine Schnupferei geschieht stets mit einer gewissen, feierlichen Umständlichkeit und wird erst durch ein wohlgefälliges »aah!« beendet.
»Und also, was steht in dem Schreiben?« fragte dann der Vorstand. Wastl reichte es ihm hin und der Bärenmartele las laut und vernehmlich:
»Sämtlichen Gemeinden des Landgerichtes wird hiermit bekannt gegeben, daß demnächst drei Herren Offiziere des königlichen topographischen Bureaus, als: Hauptmann Freiherr von Jeetze, Oberleutnant Aulitschek und Leutnant Naus behufs militärischer Aufnahmen die hiesige Gegend besuchen. Denselben darf bei Begehung der Felder, Wiesen und Wälder und des Gebirges in keinerlei Weise irgend ein Hindernis in den Weg gelegt werden, vielmehr ist ihnen so viel als möglich in jeder Weise an die Hand zu gehen und sind ihnen auf Wunsch der Gegend bestens kundige Führer und Bergsteiger mitzugeben. Derartige Individuen sind umgehend dem königlichen Landgerichte in Vorschlag zu bringen und wird bemerkt, daß dieselben während des ganzen Sommers einen ständigen und namhaften Verdienst zu gewärtigen hätten. &c.«
»Jetzt da schau her,« rief der Vorstand, »an' bessern Verdeanst könnt's für den Loder, den Görgl, gar nit geb'n, dös wär der recht Mann dazua, und mei' Jagd hätt' a etli Zeit a Ruah vor eam. Aber er is schon a etli Mal rückfälli und wenn's 'n jetzt drin beim G'richt wegen Wilddieberei wieder verdonnern, so kimmt der Hirgst, bis er wieder frei wird und nacha guate Nacht Rehböck! Dös is scho' z'wida!«
»Ja, ja, z'wida!« echote der Gemeindewastl, wieder sein Brisilglas hervornehmend und sich und dem Vorstand eine Prise applizierend. Solche Prisen sind bei den 75 Gebirglern oft steigende Inspirationsmittel, oft Refrain und Knoten des Gespräches.
Nun ertönte vom nahen Turme das allen wohlbekannte Zügenglöcklein und fast im gleichen Augenblicke traten Lisbeth und Afra in die Stube mit der Nachricht, des schwarzen Görgl Mutter sei gestorben.
»Der soll die ewi Ruah wohl thuan!« wünschte der Bauer, worauf ein dreistimmiges »Amen« erfolgte. Eine Pause trat ein, während welcher alle für die Abgeschiedene ein stilles Vaterunser beteten.
Jetzt eilte die alte Mariannl zur Thüre herein:
»Bärenmartele!« rief sie erregt, »so ebbs is ja dengerscht no' nit dahört worn. Grad hör i, daß 's 'n Görgl von der Leich seiner Muatta weg verarretiert hab'n. Der Bursch is ganz ausanand vor Kümmernis und Elend. D' Gendarm kemma auf hierher mit eam. Leg di ins Mittel, dös is ja oa'mal z' hart.«
»Mei' liaba Himmel!« rief Lisbeth, »der arme Mensch möcht eam ja dabarma!«
»Vata, leg di ins Mittel,« bat auch Afra, »mach, daß 'n wieder frei lassen.«
»Es is scho merkwürdi,« entgegnete der Vorstand, »daß so a Loder allemal d' Weibsleut auf seiner Seiten hat. I werd da aa nix machen kinna, wenn's bewiesen is, daß er g'wildert hat, no' und a Thatsach is 's ja, weils 'n Hirschen gfunden hab'n, den der Lali liegen hat lassen; und d' Wagnerin von Untergrainau b'haupt aa, daß 'n gsehgn hat.«
»Was, die hat 'n verraten?« schrie die alte Mariannl. »Kann's denn no' an' irgern Drachen geb'n? Siehgst es, Vorstand, was dös für a schlecht's Leut is? Schon 76 z'wegn der wünschet i, daß eam nix passieret. Von der Leich weg verarretiern, dös is ja aus der Weis'!«
»Sag mir's amal genau, wo is denn der Hirsch g'fundn worn?« fragte der Vorstand den Gemeindewastl.
»Drent beim Bachl, dös vom Gschwandwald awalauft, kaam a Viertelstund von enkern Revier.«
»Vata,« sagte jetzt Afra leise, »du kannst ja sagn, du hast eam's erlaubt, in dein' Revier auf d' Jagd z' gehn. Wenn der angschossn Hirsch über d' Grenz lauft, dafür kann der Schütz nix. Moanst nit?«
»Jeß, da bringen's 'n schon daher!« schrie die alte Mariannl. »Und wie der Mensch aussiehgt! Tropfatnaß und dadadert vor Kälten! O du liawe Zeit!«
Alles war an die Fenster geeilt, die herannahende Eskorte mit dem Gefangenen zu sehen.
»Dös is wirkli zum Dabarmen!« rief Afra und nicht nur ihre, sondern die Augen aller Anwesenden füllten sich mit Thränen, als jetzt die Gendarmen mit Görgl in die Stube traten.
Sämtliche Bewohner Grainaus, die schon die Neugierde, für wen das Zügenglöckl geläutet werde, hergetrieben hatte, ebenso mehrere Einwohner von Hammersbach, welche der Eskorte in einiger Entfernung gefolgt waren, hatten sich vor dem Hause versammelt und die Fenster förmlich belagert.
Man nahm fast allgemein für den Burschen Partei und drohende Worte wurden gegen die Wächter des Gesetzes laut. Man suchte den sonst nicht eben gut beleumundeten Burschen von der besten Seite zu betrachten, die schönste 77 und wirksamste aber blieb, daß seine Mutter zur Zeit auf dem Totenbette lag und Görgl über ihren Verlust bitterlich geweint hatte.
Die Thränen, welche bei anderen im gleichen Falle als ganz natürlich und selbstverständlich angesehen worden wären, fielen bei dem Loder ganz bedeutend in die Wagschale und gewannen ihm rasch die leichtbeweglichen Herzen besonders des weiblichen Geschlechtes.
Drinnen in der Stube aber änderte sich die Sachlage in einer allen unerwarteten Weise. Als nämlich der Stationskommandant dem Gemeindevorstand die vorschriftsmäßige Meldung über die Arretierung gemacht, schrie der Bärenmartele den Arrestanten scheinbar erzürnt an:
»Di soll je dengerscht der Teufl holen! I verlaub dir, daß d' in mein' Revier Schnepfen und Auerhuhn ausgehst und dran genügt's dir nit; in Staatswald gehst ummi und schießt an' Hirschen, jetzt in der Hegzeit. Was is dir denn eing'falln? Oder aber is 's, daß d' 'n Hirschen in mein' Revier geschossen hast und daß er si' no' ummigschleppt hat über d' Grenz? So thua halt dei' Maul auf und gieb Antwort!«
Görgls Augen leuchteten jetzt plötzlich auf. Er war bis jetzt der Meinung, der Bärenmartele, in dessen Jagdrevier der Badersee lag, hätte seine Arretierung mit veranlaßt, nun aber erkannte er, daß ihm dieser in der großmütigsten Weise heraushelfen wollte. Auch Afras Augen sah er teilnahmsvoll auf sich gerichtet und diese Augen leuchteten freudig auf, als jetzt der Vater ihrer Einflüsterung gemäß sprach, denn sie hatte mit dem Burschen, den sie gestern, 78 als er unter ihrem Fenster Gasselreime sang, auslachte, heute, da er in Not war, aufrichtiges Mitleid.
»No', hat's dir d' Red verschlagn?« fragte der Vorstand, als Görgl vor Ueberraschung unfähig war, sofort zu antworten.
»Herr Ostler,« begann jetzt Görgl, »i schaam mi völli, daß i's eing'stehn muaß, daß i zu dera Zeit auf an' Hirschen gschossen hon. No' ja, i hon's tho', und auf Ehr und Seligkeit, unt' is's g'schehn am Badersee. I hon vermoant, i hätt' 'n g'fehlt, sunst weret i 'n nit frei liegn lassen habn, so dumm is koa' Wilderer, viel wen'ger a Jaga, dem 's Revier vom Jagdherrn erlaubt is. Und daß der Hirsch drenta der Grenz verend't hat, dafür bin i nit straffälli.«
»No', z'wegn was wollt's 'n denn nacha g'schlossen einiführn auf Garmisch?« fragte der Vorstand den Kommandanten.
»Von dem all'n hat er koa' Wörtl g'schnauft,« antwortete der Gendarm. »Wenn sich die Sach so verhalt, so soll der Görgl wieder frei sein, auf Eure Verantwortung hin, Herr Vorstand.«
Nun wurden dem Arrestanten die Handketten abgenommen und der Kommandant erklärte ihm, daß er wieder frei sei.
Görgl wollte mit Dankesbezeugungen auf den Vorstand zueilen, dieser aber merkte es und hielt es fürs beste, ihm nochmals einen »ordentlichen Wischer« zu geben, daß er so unweidmännisch gehandelt habe.
Die Gendarmen schickten sich hierauf an, sich zu entfernen, aber der Kommandant konnte nicht umhin, leise und lächelnd zum Vorstande zu sagen: »Gedanken sind 79 zollfrei. Der Kerl hat mi übrigens heut auch dauert. Ein andersmal aber, wenn die tot' Mutter nimmer Trumpf is und der Vorstand nimmer zuagiebt, is's G'spiel auf unserer Seiten, und i mein, das erleben wir bald.«
»Vergelts Gott!« rief Görgl seinem Retter mit dankbarem Blicke zu, als die Thüre sich hinter den weggehenden Gendarmen geschlossen hatte.
»Staad bist!« entgegnete dieser leise. »Mei' Dirndl hat mir den Gedanken eingeb'n, deiner toten Muatta z'liab is's g'schehn. Wend di, werd a Mann, und du sollst an' B'schützer an mir habn. I woaß a Verwendnug für di, daß d' auf a etli Monat an' ständigen Vodeanst kriegst. Nach der Leich red'n ma davon. Vordersamst bist als Jagdaufseher bei mir eindingt und kannst aufs Gflüg ausgehn, wie 's d' magst; a guat's Schußgeld is dir g'wiß. Jetzt rast di aus und d' Weiber wern sorgn, daß d' was Warms z'essen kriegst.«
Lisbeth und Afra überboten sich sofort in Werken der Barmherzigkeit, und Görgl, der in seinem Leben nie mit solcher Aufmerksamkeit behandelt worden, glaubte zu träumen. Die alte Mariannl war fortgeeilt, trockene Kleider aus dem Schranke ihres Sohnes zu holen, Afra brachte ihm warme Suppe und Liesbeth ein Glas Enzian und ein Stück weiße Leinwand zum Leichentuch für seine verstorbene Mutter. Der Bärenbauer aber steckte ihm gar ein paar harte Thaler zu, als Vorschuß, wie er sagte, und versprach ihm außerdem, daß für die Beerdigung seiner Mutter die Gemeinde sorgen werde.
Der Gmoa'wastl wollte bei all diesen Liebeswerken auch nicht zurückbleiben und bot dem Görgl eine Prise 80 Schnupftabak. Dabei sagte er ihm ins Ohr: »Is's, daß d' auf d' Leich Schuah brauchst, i werd' mit'n Schuasta von Untergroana Rücksprach halten, du verstehst mi; er is auf d' Zahlung nit pressiert.«
Kurz, die Aufmerksamkeit aller drehte sich um den Loder und die zum Fenster hereingaffenden Neugierigen hatten ihre helle Freude daran.
Görgl fand sich allmählich selbst wieder, und je mehr dies der Fall, desto unbequemer wurde ihm die Aufmerksamkeit der anderen. Er hielt es fürs beste, sich davon zu machen, und schützte zu diesem Zwecke die Dringlichkeit einer Rücksprache mit dem Geistlichen wegen Beerdigung seiner Mutter vor. Dann wollte er ohne Verzug nach Hause eilen.
Auch das fanden die Anwesenden für sehr schön, und als er sich bedankte und dabei einem nach dem andern die Hand drückte, sagten sie ihm alle mit Thränen in den Augen tröstende Worte.
Als er zuletzt Afra ansprach, da leuchteten seine Augen und er sah sie so leidenschaftlich und durchdringend an, daß das Mädchen sichtlich errötete.
»Afra,« sagte er mit leiser Stimme, »dir dank i alles – für di gieb i mei' Seligkeit, mei' alles.«
»Thua r a guat,« erwiderte das Mädchen und wandte sich von ihm und den anderen ab. Sie fühlte, wie ihre Wangen heißer wurden. Was war das für ein brennender Blick gewesen!
Der schwarze Görgl hatte sich entfernt, nach ihm auch die anderen. Draußen stürmte und schneite es, auf den 81 rotweißen Apfelblüten wiegte sich der Schnee und die blumigen Wiesen wurden wie mit einem Leichentuche überdeckt. Der große Kachelofen in der Stube mußte geheizt werden, damit sich die Inwohner vor der empfindlichen Kälte schützen konnten. Afra aber suchte ihre Kammer auf und beschäftigte sich mit einer Näherei. Linnen und Nadel hatte sie wohl zur Hand, aber beide ruhten; das Mädchen mußte, vergebens wehrte sie sich dagegen, wie gebannt stets nur an eines denken – an den brennenden Blick des Loders. 82