Maximilian Schmidt
Der Zuggeist oder die erste Zugspitzbesteigung
Maximilian Schmidt

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XV.

Mit dem Grauen des Morgens hatte der Regen gänzlich nachgelassen und der Himmel wölbte sich wolkenlos über das felsige Gipfelmeer. Die Offiziere und ihre Begleiter machten sich, nachdem sie ein kräftiges Frühstück zu sich genommen, voll froher Hoffnung auf den Weg. Der Schaftoni wünschte ihnen Glückauf! blickte ihnen aber kopfschüttelnd nach.

Bald gelangten sie an den Fuß des sogenannten Platts, eines in ziemlich schiefem Winkel hinansteigenden Gebirgrückens von beträchtlicher Breite, auf dessen oberen Teil der Schneeferner ruht. Hier gab es zwischen losem Geröll nur hin und wieder verkrüppelte Latschen, Bergwachholder und einige am Boden hinkriechende Weiden. Die Spitzen und Schroffen des Gebirges wurden von der Morgenröte rosig angehaucht und erglühten allmählich wie brennende Lichter. Angesichts des glänzenden Schneeferners, der gleichfalls mit Rosenblüten und Diamanten besät erschien, machte der Anblick dieser Morgenbeleuchtung einen geradezu überwältigenden Eindruck auf die Offiziere und Mathies bezeugte seine Freude daran durch fröhliches Juchzen.

Der schwarze Görgl dagegen dachte nur an das Gold im Innern des Berges und an die Springwurzel, welche ihm diese Schätze erschließen sollte. Dabei ging er aber mit voller Sicherheit voran über das Platt zum 158 Schneeferner. Hier angelangt, bewaffneten alle ihre Füße mit Steigeisen, und mit verdoppelten Schritten und von Begierde getrieben, gelangten sie bei plötzlich eingetretenem, heftigem, kaltem Winde nach etwa vierstündiger Wanderung an die Grenze hinter dem Zugspitz. Hier sollte der erste Versuch zur Ersteigung desselben gemacht werden.

Das chaotische Steinmeer, welches sie hier überraschte, gab ihnen ein grauenvolles Bild von der unaufhaltsam fortschreitenden Zerstörung, die in dieser unwirtsamen Gegend stattfindet. Die zahllosen, in der Tiefe mit Schnee gefüllten Kessel in einem Rücken, den sie von unten für flach hielten, die unaufhörliche Bewegung und das beständige Abrollen von Felsen und Geröll an den Rändern des Ferners, die vielen Eis- und Schneeklüfte von unergründlicher Tiefe und von den verschiedensten Breiten und Richtungen: alles dieses wäre schon allein hinreichend gewesen, die Bergsteiger für ihre Mühe vollauf zu entschädigen. Nun aber war der Ausblick von der Höhe, auf welcher sie sich befanden, auf die stolzen Felswände des Rainthales und über dieselben hinweg auf eine Gipfelflut, ähnlich den Wogen der sturmbewegten See, dann auf die Zinnen der Tiroler Berge, von der neugierig aus der Leutasch herüber blickenden »Hohen Munde« bis zum »Wormser Joch«, von den Bünder Gletschern bis zu den in den blauen Aether tauchenden, weißen Gipfeln des östlichen Tirols, geradezu sinnberauschend.

Dieses Entzücken wurde freilich durch einen heftigen schneidenden Wind, der ihre Glieder erstarrte, beeinträchtigt und eine Eiskluft von einigen tausend Fuß Tiefe, welche den Ferner von der zu erklimmenden Zugspitzwand schied, suchte sie von ihrem Vorhaben zurückzuschrecken. Ihr Mut 159 siegte jedoch, kühn überschritten sie die Eiskluft, deren Breite nicht bedeutend war, und begannen, nachdem sie die Rucksäcke bis auf das Nötigste und leicht Tragbare entleert hatten, das Klettern die steile Felswand hinan.

Görgl kletterte rüstig voran. Es war die Stelle, an der er schon im vorigen Jahre aufzusteigen versucht hatte. Doch plötzlich machte er Halt. Er rief den Folgenden zurück, daß ein weiterer Aufstieg an dieser Stelle unmöglich sei, zumal auch seine Hände ganz erstarrt wären. Vergebens rief ihm Naus zu, den Mut nicht sinken zu lassen, man versprach ihm doppelten, dreifachen Lohn. Görgl, welchen die widerfahrene Demütigung bei der Schützengilde nicht nur moralisch, sondern auch körperlich entmutigt und geschwächt hatte, hörte nicht darauf; er war bereits wieder im Abstieg begriffen und die Uebrigen mußten widerwillig dasselbe thun.

Hauptmann von Jeetze und Leutnant Aulitschek waren dafür, den Versuch der Ersteigung aufzugeben und den Rückweg anzutreten. Leutnant Naus und Mathies aber wollten einen neuen Versuch wagen und letzterer hatte nach einem kräftigen Schluck aus der Schnapsflasche bereits den Anstieg wieder begonnen. Naus wünschte den übrigen ein glückliches Wiedersehen für Abend in der »Flohhütte« und folgte dem unerschrockenen braven Burschen nach.

Der schwarze Görgl konnte nun wohl nicht anders, als sich den Steigern ebenfalls wieder anzuschließen, denn das wollte er sich doch nicht nachsagen lassen, daß der Flößerknecht ein besserer Steiger sei, als er, und der Gedanke an die Springwurzel flößte ihm ebenfalls wieder neuen Mut ein. Bald mußten sie in einem steilen Graben, einem sogenannten Kamin, zwischen zwei Wänden 160 aufwärts klimmen, wobei ihre Hände durch das beständige Anfassen der Felsen erstarrten. So gelangten sie an eine Wand, welche senkrecht vor ihnen in die Höhe stieg. Rechts seitwärts zeigte sich eine Kluft nach aufwärts, die sich jedoch – etwas hervorragend – auch gegen zweihundert Fuß tief senkrecht nach abwärts erstreckte. In dieser Kluft nun zwängte sich der kühne Mathies neun Fuß hoch aufwärts, wobei Naus von der andern Seite zum Schutze vorstand. Jener erreichte glücklich das Ende der Schlucht, wobei er jedoch noch einen Schlund von beinahe fünf Fuß Breite überschreiten mußte.

Einige Steine, die bei diesem halsbrecherischen Aufstieg abrollten, begrüßten den etwas zurückgebliebenen Görgl so unsanft, daß er sich nur auf die ermunternden Zurufe seiner Vorgänger hin entschloß, ihnen zu folgen. Sie kamen alle drei glücklich an das Ende dieses Kamins, da Mathies von oben kräftig Hilfe leistete. Nun glaubten sie, frei atmen zu können; doch war die Gefahr noch nicht vorüber. Am lockeren Geschröffe nach der Seite hinklimmend, zur Rechten stets einen Abgrund von mehreren hundert Fuß, von Windstößen um die Sicherheit ihres Trittes gebracht, erreichten sie in schräger Richtung eine glatte Steinplatte, welche gegen zwölf Fuß über sie aufragte, während sie sich nach abwärts gegen vierundzwanzig Fuß verlängerte. Auf dieser Steinplatte erblickten sie zu ihrem nicht geringen Schrecken einen riesigen Geieradler, der wohl auf diesem unzugänglichen Felsen seinen Horst gebaut hatte und nun den Ankommenden unter mächtigen Flügelschlägen, welche sausende, unheimliche Töne verursachten, seinen hakenförmigen Schnabel entgegenstreckte, als wollte er jeden Augenblick auf sie hassen und sie mit 161 der ungeheuren Kraft seiner Flügel hinabkehren in die schauerliche Tiefe.

»Jeß, Maria und Josef, der Zuggeist!« schrie Görgl. »Aus is's! Aus is's!«

Auch Mathies war mehr als verhofft.

Aber der junge Offizier riß die Pistole aus seinem Gürtel und unter dem verzweifelt komischen Ausrufe: »Platz da!« feuerte er einen Schuß auf den unvermuteten Wegelagerer. Es dröhnte wie ein Kanonenschuß.

Die Kugel mußte den Adler gestreift haben, nur unbedeutend zwar, aber er sah sich doch veranlaßt, den Platz zu räumen. Pfeilschnell schoß er den Abgrund hinab, aus welchem er sich jedoch rasch wieder erhob, um den Felsengipfel in weitem Kreise zu umschweben.

162 »Dös is der Zuggeist!« beteuerte Görgl; »der wird uns itz a Dunnerwetter übern Hals schicken, auf daß ma elendi z' Grund gehn.«

»So ist keine Zeit zu verlieren, unser Werk zu vollenden,« feuerte Naus an. »Vorwärts, wir sind bald am Ziele!«

Er stemmte sich an die Seitenwand, setzte seinen Bergstock in einen Einschnitt im Felsen und im Nu war er einer Gemse gleich oberhalb der Steinplatte, welche dann mit Hilfe des Seiles auch von den anderen erklommen wurde. In einer Viertelstunde erreichten sie, auf Händen und Füßen kriechend, einen kleinen Grat, dessen Begehung gut von statten ging.

Schon glaubten sie alle Hindernisse überwunden zu haben, als sie sich ganz unerwartet an einer etwa 27 Fuß langen Schneebank sahen, die eine Scharte des Grates ausfüllte. Sie war nicht zu umgehen, da ihre beiden Seiten steil wie ein Kirchendach nach den beiden Fernern abfielen, man mußte also über die Schneide, die keinen Zoll breit war. Es blieb nichts übrig, als hinüber zu reiten, denn die weitere, allerdings ziemlich steile Strecke bis zum Gipfel bot keine Schwierigkeiten mehr.

Gegen elf Uhr stand der vorauseilende Leutnant Naus auf dem höchsten Punkte Deutschlands, auf dem noch von keinem Menschen bestiegenen, so verschrieenen Zugspitz!

Ein lauter Jubelruf hallte aus seinem Munde, und den Hut schwingend, brachte er auf diesem erhabenen Standpunkte dem Könige und allen biederen Bayern aus freudig bewegter Brust ein herzliches Lebehoch dar.

Dann nahm er nochmals seine Doppelpistole hervor 163 und schoß den noch geladenen Lauf ab als Freuden- und Ehrenschuß für diesen ewig denkwürdigen 27. August 1820 Auch Mathies stimmte mit ein in diesen Jubel; Görgl aber sehnte sich nur nach dem Momente, wo der Offizier von der Spitze herabsteigen würde, die nur Platz für einen Mann hatte, und für diesen höchst gefährlich war, denn wenn er strauchelte, stürzte er in die tiefsten Abgründe, unrettbar verloren und den Raubvögeln eine willkommene Beute.

Und ein solcher Raubvogel kreiste, wie Görgl bemerkte, in größerer Entfernung ohne Unterlaß um die Spitze. Mit einer gewissen Bangigkeit blickte der Bursche nach demselben, aber auch nach der von Naus besetzten Spitze, in welcher sich die Springwurzel befinden sollte. Dabei bemerkte er wohl, wie sich von Westen her eine dunkle Wolke mit Blitzesschnelle näherte, und er gedachte der Sage, daß die Berggeister die Elemente in ihrer Gewalt hätten und die Sterblichen mit Blitz und Donner vertreiben könnten.

Der Offizier achtete aber weder auf die Wolken, noch auf den kreisenden Adler. Er umspannte mit wonnetrunkenem Blicke das zauberische Gipfelmeer und das unbeschreibliche großartige Panorama zu seinen Füßen. Wer vermöchte jene Gefühle zu schildern, welche den jungen Mann und selbst Mathies auf diesem hehren Standpunkte ergriffen und bestürmten!

Die Aussicht umfaßt in größerer Ferne die majestätische Tauernkette mit dem Ankogel und Großglockner, die Stubaier und Oetzthaler Gruppe, den Ortler und Bernina, das bayerisch-tirolische Grenzgebirge mit dem hohen Göll und Watzmann, die Lechthaler, Algäuer und Vorarlberger Gebirge, die Schweizeralpen mit der Jungfrau und 164 dem ehrwürdigen Montblanc, die rauhe Alb, den bayerischen Wald, zahlreiche Seen vom Bodensee bis zum Chiemsee und das unermeßliche Flachland mit zahllosen Städten, Märkten und Weilern, unter welchen die Frauentürme Münchens aus blauer Ferne herangrüßen. In der nächsten Umgebung staunt man die zahllosen, hoch emporstrebenden Gipfel an und starrt hinab in das grausige Höllenthal, in dessen Tiefe das Auge nur Wildnis, Zerstörung, Felsengeröll, Eisklüfte und Klammen erspäht. Westlich, fast senkrecht unter dem Zugspitz, erblickt man den melancholischen Eibsee mit seinem schwarzgrünen Wasserspiegel, weiterhin am Fuße des Zuges die Thörlen mit dem nebenstehenden Daniel, dann das obere saftig grüne Loisachthal, aus welchem der Markt Lermos freundlich heraufwinkt und den grauenvollen Anblick der im Hintergrunde erstarrenden Hochalpen und Gletscher des Vorarlberges und des Bündner Landes mildert.

Das mit dem Fernglase bewaffnete Auge des Offiziers verweilte bei diesem lieblichen Bilde am längsten. Es war ihm, als sende ihm dieser Ort freundliche Grüße herauf auf die lichte Höhe. Er gedachte mit überwältigender Rührung seiner mit ihm oft dort gewesenen, nun längst in Frieden ruhenden braven Eltern; – die glückliche Kinderzeit tauchte lebendig vor seinem Geiste auf, und jetzt hielt er sein Glas lange, lange auf eines der hervorragendsten Häuser mit hohem Giebeldache gerichtet. Dort weilte sein liebes, armes Bäschen, von dort blickten vielleicht in diesem Augenblicke zwei treue Augen zu ihm herauf, zwei Augen, für die er freudig hätte sein Leben geben können, die sich aber bald für immer schließen sollten. Eine unbeschreibliche Sehnsucht, in diese treuen Augen blicken zu können, 165 erfaßte ihn, und als wäre dies durch sein Fernglas möglich, sah er starr und regungslos nach dem so teuren Platze. Da erkannte er deutlich eine lange, schwarze, sich nach dem Friedhofe hinbewegende Linie, er vermochte sogar einige Fahnen zu unterscheiden, kein Zweifel, es war ein Leichenzug.

Unwillkürlich bebte sein Herz, eine unendliche Traurigkeit, eine düstere Ahnung erfaßte ihn und mit thränenden Augen rief er: »Bertha! Bertha!«

Durch die Thränen wurd das Glas getrübt, er suchte es wieder klar zu machen, doch als er wieder hindurch blickte, hatte die von Westen heraneilende, schwarze Wolkenschichte alles verdeckt. Es war ihm, als würde über sein Glück, über seine Liebe ein schwarzes Leichentuch gebreitet, und die ganze schöne Welt zu seinen Füßen schien ihm plötzlich öde und ausgestorben.

Mathies Zuruf, daß es höchste Zeit sei, den Rückzug anzutreten, da die verhängnisvolle Wolke sich mit Blitzesschnelle näherte, brachte den jungen Mann wieder zur Besinnung. Ein nochmaliger Blick nach jener Richtung überzeugte ihn, daß der hohe Daniel bereits in der Wolkenmasse verschwand. Es waren seit Ankunft auf der Spitze kaum fünf Minuten vergangen.

»Der Zuggeist schickt uns a Wetter,« schrie jetzt auch Görgl. »Herr Leutnant machen's, daß vom Spitz kemma.«

Der Offizier war jedoch kaum herabgestiegen, als Görgl, welcher schon vorher die Pyramide, soweit als thunlich, untersucht, ein paar Sprünge auf die Spitze machte, sich zu Boden warf und knieend und kriechend überall herumspähte. Während Naus schnell einige Notizen machte, drängte sich auch Mathies zur Spitze hinan. Er wollte 166 ebenfalls auf dem höchsten Punkte stehen und von dort schickte er zu seinem Heimatdörfchen einen hellen Juhschrei hinab.

Görgl kroch noch immer auf Händen und Füßen umher und untersuchte jede Ritze, doch nirgends entdeckte er die Springwurzel.

Vergebens mahnte ihn Mathies, daß der Rückzug angetreten werden müsse, daß Gefahr im Verzug sei, erfolglos waren auch die immer dringenderen Rufe des Offiziers, und doch vernahm man bereits deutlich den Donner des heranziehenden Gewitters; Schauer und Schneegestöber stürmten heran. Jede Sekunde des Verweilens brachte Gefahr. Der schwarze Görgl war nicht weiter zu bringen, und so flüchteten der Offizier und Mathies rasch von dannen.

Kaum aber waren sie etwa zwölf Schritte von der Spitze entfernt, da betäubte sie ein Blitz und zu gleicher Zeit erfolgte ein Donnerschlag, daß alles ringsum erbebte.

Der schwarze Görgl ward an den Fuß der Spitze geschleudert, doch ermannte er sich sofort wieder. Furcht, Schrecken, Entsetzen veranlaßten ihn, schleunig den Vorausgeeilten zu folgen. Nochmals aber wandte er seinen Kopf, denn ein furchtbares, heiseres Geschrei drang an sein Ohr – da sah er den riesigen Raubvogel, einen Gegenstand im Schnabel haltend, pfeilschnell sich über den Abgrund gegen das Höllenthal entfernen.

Für Görgl war es jetzt klar, das war der Zuggeist, der die Springwurzel in Sicherheit brachte, der seine Hochwarte mit Blitz und Donner verteidigte gegen die kühnen Ersteiger, die er zurücktrieb und zu vernichten drohte.

Die Voraneilenden hatten sich hinter einer kleinen 167 Felsenwand vor den durch die Erschütterung losgewordenen und hinter ihnen herkollernden Steinen zu retten gesucht, aber Görgl, plötzlich nur für sein Leben fürchtend, machte sie jetzt auf die immer mehr wachsende Gefahr des Abwärtssteigens unter dem bereits starken Schneegestöber aufmerksam, und so suchten alle drei auf dem benutzten Herwege wieder abwärts zu steigen. Der gefährliche Grat ward wieder überritten, aber die plötzlich eingetretene starke Dunkelheit ließ sie kaum vier Schritte vorwärts sehen und wohl mit Recht fürchtete jeder, im nächsten Augenblicke abzufallen und im Abgrunde zu zerschmettern.

Der Weg führte bei wieder zunehmender Helle durch eine Klamm, innerhalb welcher eine Wand von ungefähr 14 Fuß abzuspringen und dann eine noch viel größere Distanz von mindestens fünfzig Grad Neigung auf hartem Schnee abzufahren war. Dabei galt es, unten auf einem zwei Quadratschuh Fläche bietenden Vorsprung richtig eintreffen. Was hier die Gefahr noch vermehrte, war der Umstand, daß sich das Regenwasser in dieser Rinne anhäufte und keinen festen Tritt machen ließ, ja sogar an mehreren Stellen ihnen über Kopf und Rücken stürzte. Endlich mußten sie am südlichen Fuße des Zugspitzes, am Anfange des Schneeferners, noch eine gefährliche Passage zurücklegen, eine Art von Schneebrücke, die einen Fuß dick, einen breit und mehrere lang, über die Schlucht zwischen Wand und Ferner führte. Kein Ausweg war möglich, man mußte sich diesem schwachen Gewölbe anvertrauen.

Naus war der erste, der hinübersetzte; als Mathies darüber hinwegschritt, ward ein eigentümliches Krachen vernehmbar, so daß Görgl es nicht mehr wagen wollte, zu folgen. Die anderen sprachen ihm jedoch Mut zu und 168 endlich wagte auch er unter dem Ausrufe: »Mei' Lebta führ i 'n Zuggeist nimmer in Versuchung!« den Uebergang. Da – beim letzten Schritte wankte der Boden; der Bursche hatte aber glücklicherweise dem seiner harrenden Mathies den Arm entgegengestreckt und dieser zog ihn mit Riesenkraft und einem raschen Ruck an den rettenden Rand.

So gelangten sie nach ungefähr zwei Stunden auf den Schneeferner und setzten ihren Marsch über diesen und das Platt eiligst fort. Eine Stunde später trafen sie endlich wieder auf der Angerhütte ein, von den zurückgebliebenen Offizieren und dem Schaftoni, die sie schon für verunglückt hielten, mit freudiger Ueberraschung bewillkommnet.

»Es war die heftigste Schlacht, die ich jemals mitgekämpft!« meinte der Leutnant.

Nun aber that ihm und seinen beiden Gefährten die Ruhe und die improvisierte Mahlzeit wohl.

Als sie dann die erlebten Abenteuer erzählten, meinte der Schaftoni: »Es is, wie's mir gschwant (geahnt) hat, der Zuggeist wehrt eam (sich), so lang er's vermag, aber über Leib und Seel hat er koa' G'walt, und den Blitz, den er loslaßt, den leit' der Woudi nach sein' Sinn. Aus und gar is von heunt an sei' Regiern da obn, mit Dunner und Blitz hat er z'ruckmüassen in d' Höll auf ewige Zeiten. Gott sei's gedankt! Und daß's ös wißt's: der erste, der enks nachi macht, bin i, der Schaftoni!«

Das Nachtlager ward auf den Bänken im rauchigen Kaser genommen, man wollte sich die Ruhe nicht wieder verderben lassen. Es waren die verschiedenartigsten Gedanken, mit welchen die kühnen Zugspitzeroberer einschlummerten.

Der junge Offizier gedachte wieder des von der 169 Hochwarte aus gesehenen Leichenzuges und wieder erzitterte sein Herz unter traurigen Ahnungen. Er nahm sich vor, sogleich nach seiner Rückkehr in Partenkirchen den Hauptmann um ein paar Tage Urlaub zu ersuchen und nach Lermos zu eilen, und der nie versiegende Quell der Jugend, die Hoffnung, ließ ihn trotz all der trüben Ahnungen an ein freudiges Wiedersehen des geliebten Bäschens denken.

Mathies dagegen dachte an den Moment, in welchem er dem Bärenmartele die wirkliche Ersteigung des ZugspitzesDie erste Besteigung der Zugspitze ist unter Benützung des äußerst interessanten Tagebuches des Leutnants Naus geschrieben. Die zweite Besteigung derselben fand 1823 durch den Maurermeister Simon Resch von Partenkirchen in Begleitung des »Schaftoni« statt. Die dritte im September 1834 durch denselben Resch mit seinem Sohne Johann und dem Zimmermannssohn Johann Barth vulgo Hanni. Acht Tage später wurde der Bergriese, also zum vierten Male, von dem für die Vaterlandskunde und die Naturgeschichte begeisterten k. Forstgehilfen Franz Oberst, der später als Oberförster a. D. in Aibling lebte, in Begleitung seines Kollegen Schwepfinger erstiegen. Oberst kommt das Verdienst zu, zuerst einen umfassenden Bericht über die Besteigung veröffentlicht zu haben, welchen auch der Verfasser neben dem erwähnten Tagebuche des Leutnants Naus und seinen persönlichen Erfahrungen seiner Arbeit zu Grunde gelegt hat. Den Impuls zu dieser Erzählung gab aber des bekannten Münchner Alpinisten, des Kaufmanns Max Krieger vortreffliche Brochüre »Die Geschichte der Zugspitzbesteigung,« welche derselbe zum Besten der Gemeinden Garmisch und Partenkirchen erscheinen ließ, und hiermit aufs beste empfohlen wird. berichten und als schneidiger Bua von ihm respektiert würde, er dachte an Afra, er sah sie schon als seine Hochzeiterin und – selig träumte er weiter.

Der schwarze Görgl aber brütete still in sich hinein. Der Triumph der ersten Ersteigung hatte für ihn keinen 170 Reiz; was er dabei erhofft, hatte er nicht gefunden; es war ihm, als wäre sein Geist in jenen lichten Regionen dort oben ebenfalls lichter geworden. Je mehr er alles überdachte, desto natürlicher erschien ihm die Sache. Springwurzel, Zuggeist, Bergfräulein, die Reichtümer in den Felsengewölben: sollten es doch nur lauter Märchen und Erfindungen sein?

Einmal daran zweifelnd, brach ein morsches Steinchen nach dem andern von dem Fundamente dieses Wunderglaubens, von all den langjährigen Träumereien seines müßigen Lebens, wie ein Kartenhaus brach das Gebäude seiner Hoffnungen auf Reichtum zusammen; es war ihm, als falle er selbst in einen bodenlosen Abgrund, in wüste Finsternis. Mit dem Glauben an die Märchen war ihm auch jener an Gott, an Himmel und Hölle entschwunden. Nur ein Sternlein winkte ihm in all dieser grausigen Nacht des Zweifels und dieses Sternlein hieß Afra. Sie zu gewinnen, auch ohne den geträumten Reichtum, das sollte jetzt seine Aufgabe sein, und wer ihm im Wege stünde, den wollte er mit Gewalt beseitigen. Daß ihm das Mädchen wohl gesinnt, das wußte er und darauf setzte er jetzt all seine Hoffnung. Himmel oder Hölle mußten sich für ihn entscheiden – er wollte beide herausfordern, siegen oder untergehen. 171


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