Maximilian Schmidt
Der Zuggeist oder die erste Zugspitzbesteigung
Maximilian Schmidt

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XII.

Leutnant Naus hatte seine Terrainaufnahme auf der nördlich von Partenkirchen gelegenen Gebirgsgruppe, dem Eckenberge, Fricken, Bischof und Krotenkopf begonnen und fortgesetzt. Mathies diente ihm als Meßgehilfe, Görgl als Bergführer, und der Offizier hatte alle Ursache, mit den Leistungen der beiden zufrieden zu sein.

Zur Arbeit wurde in der Regel um vier Uhr früh aufgebrochen und nie vor acht Uhr abends heimgekehrt. An den Regentagen war der Offizier zu Hause mit Reinzeichnen beschäftigt, während die Burschen frei hatten.

Görgl benützte solche Tage zur Pürsch auf Rehe in des Bärenmartele Jagdrevier, und hatte so öfters Gelegenheit, in Obergrainau vorzusprechen, Mathies aber suchte an solch freien Tagen durch Schindelkluiben seinen Verdienst.

Bei den anstrengenden Bergtouren war es nicht zu verwundern, daß Herr und Diener oft sehr ermüdet nach Partenkirchen zurückkehrten; dies that jedoch ihrer Heiterkeit keinen Eintrag. Mathies juchzte von den Bergspitzen, daß es eine helle Freude war, und der Offizier hörte ihm stets mit Vergnügen zu, wenn er seine Lieder zum besten gab. Es traf sich oft, daß sie, vom Wetter überrascht, auf einer Sennhütte oder in einem Jägerhaus übernachten mußten, wo der Offizier dann Gelegenheit fand, das echte 126 Gebirgsleben kennen zu lernen. Bei solchen Gelegenheiten schrieb er dann oft für seinen Freund Kobell die Lieder auf, die er da und dort vernommen, und wünschte ihn nicht selten sehnlichst an seinen Platz, um mit ihm das Volksleben beobachten und studieren zu können. Aber auch mit seinem Bäschen in Lermos beschäftigte er sich in solchen aufgenötigten Ruhestunden oft und gern, an sie dachte er mit immer wärmerer Sehnsucht, und es freute ihn herzlich, wenn Mathies zu Ehren seiner Ungenannten die sinnigsten Schnadahüpfeln sang. Die anstrengende Arbeit hatte es ihm in den ersten Wochen nicht gestattet, dem Zuge seines Herzens zu folgen und die teure Verwandte zu besuchen. Er verschob dies auf zwei sich unmittelbar folgende Feiertage, und freudig kehrte er am Vorabende des ersten desselben nach Partenkirchen zurück, von wo aus er am andern Morgen seine Fahrt nach Lermos antreten wollte.

Doch wie groß war seine Ueberraschung, als er in seinem Standquartier, im »Stern«, angelangt, Bäschen Bertha mit ihrer Mutter antraf, und noch freudiger stimmte ihn die Nachricht, daß dieselben im nahen Kainzenbad für drei Wochen Aufenthalt genommen und er nun ganz in ihrer Nähe weilen könne.

Das in der Freude des Wiedersehens erglühte Gesicht des holden, jungen Mädchens ließ freilich auf den ersten Blick nicht erkennen, warum es »das Bad der blassen Jungfrauen,« wie der Kainzenbrunnen scherzhaft genannt wird, aufzusuchen gezwungen war, aber als die erste Freudenwallung vorüber, bemerkte der Offizier, daß sich über Berthas Gesicht eine krankhafte Blässe gebreitet hatte. Diese Blässe wurde durch die üppigen dunkelbraunen Haare und die großen, dunklen Augen des Fräuleins nur noch gehoben, 127 doch gestatteten die natürliche Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit, welche sich in diesen seelenvollen Augen und in ihrem ganzen Wesen spiegelten, keinen Platz auch nur dem geringsten leidenden Zug in diesem jugendlich schönen Antlitze.

Schon am nächsten Morgen machte sich der junge Offizier auf den Weg nach dem Kainzenbade zum Besuche seiner Verwandten. Dieses Bad liegt eine Viertelstunde südöstlich von Partenkirchen am Fuße des »hohen Eselsrücken« in dem stillen saftgrünen Partnachgrunde. Wenn je ein Plätzchen der Erde sich zu einem Badeorte eignete, so ist es dieses Thal, das durch hohe Gebirgsmauern vor rauhen Nordwinden geschützt und durch üppigste Alpenvegetation ausgezeichnet ist. Am äußersten Ende des Thales ragen die gewaltigen Marksteine der heimatlichen Landesgrenze, die ungeheuren Felsenwände des Karwendelgebirges hervor, und bilden mit den übrigen Isarbergen den pittoresken Hintergrund des grünen Thales. In südlicher Richtung streift der Blick über den üppigen Wiesengrund, durch welchen sich der Kankenbach schlängelt, in die Weite des Loisachthales mit dem gewaltigen, die ganze Breite des Hintergrundes einnehmenden »Kramer«, endlich vor uns lagert die ansehnliche Höhe des Eckenberges, an welchem sich die Kunststraße nach Mittenwald hinzieht.

Der heilkräftige, schwefel- und jodhaltige Brunnen ist schon seit Jahrhunderten bekannt und es ist nachgewiesen, daß schon die badelustigen Römer sich in dem wunderthätigen Naß erquickten. Neben den vorzüglichen Eigenschaften der Mineralquelle ist es aber die milde, balsamische Luft dieses herrlichen Gebirgsthales, der Genuß, welchen der Naturfreund in dem reichen Wechsel mannigfaltiger 128 Erscheinungen, von der gigantisch himmelanstrebenden Felsenmasse bis zu den duftigen, grünenden Wiesen herab findet, welche dazu beitragen, die segensreiche Wirkung eines reinen, ungetrübten Naturgenusses auf Geist und Körper zu bethätigen.

Dieses Kainzenbad ist auch von historischem Interesse, insofern hier der Königsmörder Herzog Johann Parricida, gequält von Gewissensbissen, den Rest seines Lebens vertrauerte.Im Frühling 1308 eilte der deutsche König Albrecht von Österreich in die Schweiz, wo die Stammgüter der Habsburger lagen, um die Aufständischen von Schwyz, Uri und Unterwalden, welche sich gegen die Tyrannei der Landvögte auflehnten und am 7. Dez. 1307 auf dem Rütli am Vierwaldstätter See den Bund der Freiheit beschworen hatten, zu züchtigen. Herzog Johann von Schwaben, der Sohn seines Bruders Rudolph, begleitete ihn. Dieser hatte seinen Oheim schon mehrmals um das rechtliche Erbteil an den habsburgischen Gütern gebeten, doch stets vergebens. In Verbindung mit vier gleichgesinnten Edelleuten brütete er deshalb Rache und es gelang ihm, den König in dem Thalgrunde der Reuß, an der Ueberfahrt bei Windisch, von seinem Gefolge zu trennen. Arglos setzte Albrecht, von seinen Todfeinden umgeben, über den Fluß und zog, jenseits angekommen, ruhig weiter. Schon blickten die Zinnen der Habsburg über die Hügel, da griff Herzog Johann in wilder Wut plötzlich nach dem Speere und rannte ihn dem Oheim in den Hals. »Hier der Lohn des Unrechts!« rief er dem Sinkenden zu. Zu gleicher Zeit durchbohrte auch Rudolf von Balm den König und Walter von Eschenbach spaltete ihm mit einem gewaltigen Streiche das Haupt. Ein armes Weib, welches den furchtbaren Vorfall sah, eilte herbei und in seinem Schoße verblutete der unglückliche Fürst. Die verbündeten Mörder aber sprengten eiligst in verschiedenen Richtungen davon, um sich in diesem Leben nie wieder zu sehen. Nur Rudolph von Balm wurde ergriffen und starb am Orte der entsetzlichen That eines schmachvollen Todes; gleich dem gemeinsten Verbrecher endete er am Rade. Die anderen beschlossen gleich Herzog Johann ihr Leben in irgend einem unbekannten Winkel der Erde.

Hiezu giebt es nun freilich jetzt keine Gelegenheit mehr, denn während der schönen Sommermonate erwacht im Kainzenbade manch fröhlicher Tag. Und fröhliche und glückliche Tage waren es auch, an denen es dem Leutnant vergönnt war, mit der Tante und dem Bäschen dort zusammen zu sein. Er kam niemals, ohne einen selbst gepflückten, frischen Alpenstrauß mitzubringen, und mit den Blüten vertraute er dem holden Bäschen manch süßes 129 Geheimnis und empfing zum Danke dafür die Geständnisse inniger Gegenliebe.

Doch schon nach kurzer Zeit ward dieses Glück jählings unterbrochen; Bertha wurde ganz unerwartet von einem Blutsturze befallen. Der rosige Hauch, den das Glück der Liebe im Vereine mit der würzigen Bergluft auf ihre Wangen gezaubert, wich einer Totenblässe, es schien, als sollte dieses junge Leben schon in seiner schönsten Blüte erlöschen. Berthas Vater, der Doktor von Lermos, wurde herbeigerufen und er fand es für gut, die Tochter schleunigst wieder nach der Heimat zu bringen.

Das war ein schmerzbewegter Abschied, als die beiden jungen Leute sich das letzte Mal die Hand reichten. Der Doktor, welcher eine Verbindung seiner Tochter mit dem jungen Offizier als seinen schönsten Lebenswunsch bezeichnete, gab der Hoffnung Raum, daß sich die Leidende wieder gänzlich erholen könne, verhehlte aber dem jungen, besorgten Manne auch nicht, daß die Wiederkehr eines solchen Anfalles zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß geben müßte.

130 »Auf baldiges, frohes Wiedersehen!« rief Bertha dem Leutnant unter Thränen noch vom Wagen aus zu. Dabei drückte sie den Rosenstrauß, sein Geschenk, an ihre bleichen Lippen.

Mit thränenfeuchten Augen blickte der junge Mann ihr nach, so lange er den Wagen verfolgen konnte, dann aber suchte er die Einsamkeit auf und gönnte sich jene Weihestunde, welche das bebende Herz in schweren Zeiten wieder beruhigt und es stark macht gegen das Schicksal.

In womöglich noch erhöhter Thätigkeit vergingen ihm die folgenden Tage, und als ihm ein Brief des Doktors, dem auch ein Schreiben Berthas beigeschlossen war, meldete, daß deren Genesung in raschem Fortschritte begriffen und jede Gefahr beseitigt sei, da blickte auch der junge Offizier wieder freudig auf zum blauen Himmel und schickte über die Zugspitze hinweg seine Liebesgrüße dem geliebten Mädchen zu.

Dort oben an jener Spitze hing vielleicht auch ihr Auge, von dort oben konnte man die teure Stätte sehen, wo sie weilte, auf jene Spitze wollte und mußte er hinauf. Von jener riesenhohen Warte wollte er hinabschauen, sie grüßen, und er beschloß, das Wagnis dieser Besteigung in jedem Falle zu bestehen.

Am kommenden Sonntag, den 25. August, an welchem Tage das Geburts- und Namensfest des Kronprinzen Ludwig durch ein großartiges Festschießen in Graseck bei Partenkirchen feierlich begangen werden sollte, erwartete er die Ankunft seines Sektionschefs, des Hauptmanns Freiherrn von Jeetze, und des Leutnants Aulitschek, welche beiden Herren an den zunächst angrenzenden Positionsblättern arbeiteten, und behufs der Anschlüsse ihrer Arbeiten 131 in Partenkirchen eine Zusammenkunft für diesen Tag festgesetzt hatten. Bei dieser Gelegenheit wollte er die Kameraden einladen, mit ihm die Besteigung der höchsten Hochwarte Bayerns zu versuchen.

Mathies war über dieses Vorhaben des Offiziers höchst erfreut. Er hatte sich während der wenigen Monate eine große Gewandtheit im Bergsteigen angeeignet und nun hielt er es nicht mehr für unmöglich, auch den Zugspitz zu ersteigen. War das doch der beste Weg zum Herzen des Bärenmartele, wie ihm sein altes Ahnle gesagt. Aber vorher wollte er beim Schießen in Graseck seinen Mann stellen und sich so bei dem Bärenbauer in Respekt setzen. Voll froher Hoffnung schwang er seinen Hut gegen den Zugspitz und rief:

»Hui auf! An' Punkt auf der Scheib'n und an' Juchaza von dort ob'n – Afra – an mir soll's itta fei'n (fehlen)!« 132

 


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