Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Abiturienten hatten ihr Examen bestanden, die Kränzchenschwestern die Selekta absolviert, nun hieß es, »ins Leben hineingehen«.
Ueberall fand große Beratung statt, ob und welcher Beruf zu wählen sei.
Herta erklärte ihrer Mutter einfach: »Ich heirate.«
»Und wenn dies nicht der Fall sein wird, was wird dann aus dir, da unser Vermögen ein sehr bescheidenes und du leider verwöhnt bist?« fragte die Mutter.
»Mache dir keine Sorgen, Muttchen, es wird schon alles nach Wunsch gehen.«
Frau Major Wittner seufzte, mit diesem leichtsinnigen Kinde war nichts anzufangen.
»Ganz untätig darf kein Mensch sein,« erklärte Tante Carla, der sie ihr Leid klagte. »Aber laß sich alles aus sich selbst entwickeln. Zunächst werde ich der Herta klar machen, daß sie ihre Kenntnisse nicht brach liegen lassen darf. Ich werde sie mit auf meine Stadtmissionsgänge nehmen, und dort, wo es angebracht ist, soll sie Kinder unterrichten. Gewöhnt sie sich dadurch erst an eine Tätigkeit, ist schon viel gewonnen, und wir verbinden das Praktische mit dem Idealen.«
Hiermit war die Frau Major einverstanden, aber Herta streikte.
»Arme Kinder? – Hu, die schmutzigen Kleider, und das Armeleuts-Parfüm, keine Spur, da tue ich nicht mit. Wenn ich aber durchaus etwas unternehmen soll – bon, dann werde ich meine Malstunden fortsetzen, und eventuell mal Malunterricht geben. Das ist vornehm und mir nicht unsympathisch.«
Beglückt, daß ihre Tochter überhaupt darauf einging, sich zu betätigen, stimmte die Witwe gern zu. –
Bei Lutzners ging es bei der Beratung über Ilsens Zukunft stürmischer her. Ilse bat ihre Mutter, sie das Lehrerinnen-Examen machen zu lassen.
»Wozu?« fragte erregt ihre Mutter. »Hast du nötig, deine schönsten Tage mit Lernen zuzubringen? Du wirst jetzt in die Gesellschaft eingeführt werden – alles andere ergibt sich von selbst.«
»Ich stimme dir nicht bei, liebe Frau,« erhob sich die Stimme des Vaters. »Das Leben ist wunderlich genug – wenn wir auch unserem einzigen Töchterchen eine ihrer Erziehung entsprechende Mitgift geben können – wissen wir, was ihr das Leben noch für Wendungen bringen wird? Mein Beruf als Advokat hat mich gelehrt, daß in allen Gesellschaftsklassen die Ehen nicht immer so ausfallen, wie es vorher den Anschein hat; deshalb bin ich sehr dafür, daß die Frau so gestellt wird, um sich bei eintretenden Fällen selbst ernähren zu können. Da heißt es denn entweder Kenntnisse sammeln oder aber irgend eine Handfertigkeit erlangen. Will Ilse also ihr Lehrerinnenexamen machen, soll es mir nur recht sein.«
»Gott, Lehrerin,« fiel verdrossen Frau Rechtsanwalt ein, »sich mit fremden Kindern abärgern – mir kam der Beruf immer bemitleidenswert vor.«
»Kommt darauf an, von welchem Standpunkt man ihn betrachtet; übrigens ist das Examen als Bildungsabschluß bei allen zu ergreifenden Berufszweigen von großem Wert. – Also bitte, gib deine Einwilligung, Ilse geht aufs Seminar.«
»Ich will es mir überlegen,« entgegnete kühl Frau Lutzner, erhob sich und verließ das Gemach.
Bei Waldenburgs hielt man es für selbstverständlich, daß Edith nur Haustochter sei und nur die Pflichten einer solchen zu übernehmen habe. Desgleichen bei Lilli. –
Während der nun eingetretenen Ferien benutzten die jungen Mädchen zunächst ihre Freiheit, um Ausflüge, Spaziergänge und Radelpartien zu machen. Es war vor der Hand ein angenehmer Gedanke, sich so frei und fröhlich, aller Pflicht entbunden, herumtummeln zu können.
Heute hatte Edith Ilse zu einer Morgenpromenade abgeholt. Vom Wege telephonierten sie an Herta und Lilli. Letztere war in der Klavierstunde, erstere bereits fortgeradelt. So wandelten sie in der lauen Frühlingsluft allein und schmiedeten Pläne.
Edith vertraute der Freundin an, daß sie »lebensgern« Medizin studieren möchte. Es wäre doch zu interessant, sich als Studentin immatrikulieren zu lassen, und schließlich mache es sich pompös, wenn auf der Visitenkarte »Dr. med.« prange.
»Gewiß, das ist alles sehr schön, weißt du, mir möchte es wohl auch Spaß machen, Referendar zu werden und mit Herbert zusammen mal Papas Praxis zu übernehmen. Aber weißt du, Mutter hat recht, wir geben unsere Jugend daran. Ehe wir fertig sind, werden wir häßlich und alt sein, die schönen Bälle und alles andere versäumt haben. Schließlich machen sich die Männer nichts aus studierten Frauen. Schön sollen wir sein und ein Haus führen können, mehr verlangt man nicht. Ich mache mein Lehrerinnenexamen, damit bin ich schnell fertig, und es ist auch was fürs Leben.«
Edith lachte: »Weißt du, die erste Bedingung – »schön zu sein« – eröffnet uns beiden keine große Aussicht, denn mit unserem Lärvchen können wir keine Ansprüche machen, und die zweite Bedingung –«
»Gut Heil!«
Hertas Stimme, die auf ihrem Stahlroß den Freundinnen nachgeradelt war, ließ diese sich umschauen.
»Kommst gerade recht, steige ab, und nimm an unserer Beratung teil, wir machen Zukunftspläne.«
»Hu, an einem lachenden Vormittag schon so das Gehirn anstrengen, – nee, wißt ihr, ich bin froh, daß ich die Schule endgültig hinter mir habe, und nun wieder Pläne schmieden, nee, jetzt heißt es der Zukunft entgegenlachen.« Und sie stimmte mit schöner Altstimme an:
»Noch ist die blühende, goldene Zeit,
Noch sind die Tage der Rosen.«
»Uebrigens hat eine Großtante von mir endlich mal eine gute Idee gehabt, Kinder. Sie hat Mama und mich zu sich eingeladen. Wir werden schon die Ostertage bei ihr auf Rittergut Pomwitz verbringen. – Werdet ihr verreisen?«
»Weiß noch nicht,« antwortete Edith. –
»Glaube kaum,« meinte Ilse. »Wir gehen wie alle Jahre erst im Juni an die See.«
»Aber nun, was machen wir heute nachmittag? Die freie Zeit wollen wir doch noch recht ausnutzen. Kinder, zu gern ginge ich einmal in ein Café, denke es mir zu schön, sich ganz selbständig bestellen zu können, worauf man gerade Appetit hat,« sagte Herta.
»Im Café français gibt es wunderbare Cremetörtchen,« warf Edith ein und machte lyrische Augen.
»Werden wir aber allein dort hingehen können?« fragte die zaghafte Ilse, »ich glaube, es verkehren Studenten dort.«
»Dann gehen wir in ein Damen-Café, da kann doch niemand was drin finden,« warf Edith ein.
»Gut, also treffen wir uns um Punkt 4 Uhr bei Seiffart,« bestimmte Herta, »im Vorübergehen kannst du, Edith, der Lilli Bescheid sagen.«
»Nein, das kann ich nicht, wir haben unseren Spaziergang schon viel zu lange ausgedehnt; ich muß schnellstens heim, Papa kommt früh zu Tisch.«
»So gehe ich zu Lilli,« erbot sich Ilse.
»Oder schicke Herbert,« neckte Herta.
»Du Schelm!«
»Aber nun hoppla!« Herta schwang sich auf ihr Rad und heidi ging es von dannen. Die beiden Mädchen sahen ihr nach.
»Radelst du gern?« fragte Ilse.
»Nein, es macht mir wenig Spaß, ich finde auch nicht, daß es hübsch aussieht,« antwortete Edith.
»Laß uns zu Fuß durch die laue Frühlingsluft wandern, – sieh all die Gräser, die zart hervorsprießen, das junge Grün, dicht muß man bei ihm sein, es zärtlich betrachten zu können. Wie ist das Belauschen der Natur im Frühjahr etwas so Herrliches!«
Lachend stieß Edith ihre Freundin an.
»Du, wo hast du denn das so fein stilisiert gelesen? – Du sprichst ja wie eine Dichterin.«
»Das habe ich nirgends gelesen, das fühle ich in mir, ich möchte schon vor Tagesanbruch heraus.«
»Ich auch,« pflichtete Ilse bei, »aber weißt du, ich schlafe auch zu gern, im Bett ist es gerade zur Frühjahrszeit noch molliger als sonst, man ist so von wohliger Müdigkeit erfüllt.«
»Das macht die Bleichsucht,« warf Edith altklug ein, »Mutter meint, in unseren Jahren läge sie einem in den Knochen. Aber laß die Bleichsucht sein, stimmen wir ein Frühlingslied an.« Und mit hellen Stimmen ertönte es:
»Wenn der Frühling auf die Berge steigt
Und im Sonnenstrahl der Schnee zerfließt,
Wenn das erste Grün am Baum sich zeigt,
Und im Gras das erste Blümlein sprießt
Und vorbei im Tal
Nun mit einemmal
Alle Regenzeit und Winterqual,
Schallt es von den Höh'n
Bis zum Tale weit:
»O wie wunderschön
Ist die Frühlingszeit!«
Wenn am Gletscher heiß die Sonne leckt,
Wenn die Quelle von dem Berge springt,
Alles rings mit jungem Grün sich deckt,
Und das Lustgetön der Wälder klingt –
Lüfte, lind und lau,
Würzt die grüne Au,
Und der Himmel lacht so rein und blau,
Schallt es von den Höh'n
Bis zum Tale weit:
»O wie wunderschön
Ist die Frühlingszeit!«
Als sie geendet, küßten sie sich.
»Du bist meine erste Liebe,« sagte Edith und drückte die Freundin an sich.
»Ja,« antwortete diese schelmisch, »die bin ich.«
»Und nie,« fuhr Edith schwärmerisch fort, »soll eine neue Freundschaft unsere alte verdrängen. »Nein, niemals, Edith! Wie könnte dir auch wohl sein? wir haben uns doch Treue geschworen.«
»Ach, ich fürchte immer,« setzte Ilse sentimental ein, »du hast die Lilli noch lieber als mich.«
»Keine Spur, ich habe euch alle furchtbar lieb, aber wirklich, das kannst du mir glauben, dich doch am aller- allerliebsten.«
Wieder küßten sich die Mädchen, und sich umschlungen haltend, schritten sie nun wortlos dahin.
Von weitem erscholl ein dumpfes Geläute, Ilse sah nach der Uhr – »alle Wetter, es ist bald ein Uhr,« rief sie erschrocken, »nun aber trapp.«
An einer Straßenecke trennten sich die Mädchen.
»Also um vier Uhr!« Beide sagten es wie aus einem Munde und winkten sich nochmals freundlich zu.
*
Lilli setzte sich ihren mit rosa Rosen umkränzten weißen Filzhut vor dem breiten Spiegel auf. Ihre Rehaugen blickten vergnügt hinein, sie war wieder einmal sehr zufrieden mit ihrem Aussehen. Das rötliche Gelock quoll schwer unter dem breiten Hutrand hervor, ein zartes Rot bedeckte ihre Wangen. Nun noch das flotte Jackett über die weiße Tuchbluse, dann ging es fort. Zum erstenmal allein in einem Café; sie kam sich riesig erwachsen vor!
Herta machte umständlicher Toilette, diverse Mal wurde das Haar umgesteckt, endlich saß es. Verdrossen nahm sie ihren Hut aus dem Karton, er war nicht mehr frisch; gut, daß es bald einen Frühjahrshut gab. Sie trug ein goldfarbiges, geripptes Samtkostüm, das ihr trefflich stand. –
Als Edith sich von ihrer Mutter im blauen Tuchkleid und grauem Filzhut verabschieden kam, meinte diese bedächtig, »es ist mir gar nicht recht, daß ihr jetzt schon anfangt, Cafés zu besuchen; als ich jung war, wäre es keinem wohlerzogenen Mädchen eingefallen, dergleichen Gelüste zu haben.«
»Aber Muttchen, was ist dabei? Wir sind ja vier junge Mädchen und wollen doch so gern mal ganz selbständig sein!«
Die Mutter lachte, »selbständig Törtchen aussuchen, was?«
»Ja, Muttel, und wir sind ja schon über sechzehn Jahre!«
»Nun, so geht und amüsiert euch gut!« –
Ilse, ebenfalls im blauen Tuchkostüm, sah am unvorteilhaftesten aus; sie war bleich und zart und verstand es nicht, sich vorteilhaft anzuziehen. Der fahle Hut machte sie noch bleicher, als es ohnedies der Fall war. Sie war auch die Zaghafteste und stand lange, bevor sie die Konditorei betrat, auf der Straße. Sie hatte Herzklopfen und sah sich überall um, ob keine der Freundinnen in Sicht sei.
Währenddessen saß aber schon Lilli als Ersterschienene an einem runden Marmortisch bei Nußtorte mit Schlagsahne, die ganz frisch geschlagen, trefflich schmeckte.
Dabei kicherte sie vor sich hin, denn zwischendurch las sie ein Witzblatt. Hin und wieder blickte sie auch nach der Tür. Es war schon ein Viertel fünf Uhr, und noch war keine Kränzchenschwester zu sehen.
Da endlich trat Herta herein.
»'Tag Lilli,« sie reichte ihr die mit wildledernen Handschuhen bekleidete Rechte, und diese schüttelte sie so herzlich, daß die silbernen Armbänder klirrten.
»Habe ich gelacht – schau mal hier,« sie zeigte der sich neben sie auf das kleine rote Plüschsofa setzenden Herta das kolorierte Witzblatt.
Aber diese rümpfte die Nase, »für Witze bin ich nicht. – Kellner,« wandte sie sich an den Herantänzelnden, »bringen Sie mir,« und sie lispelte etwas so vornehm leise, daß sie der »Ober« nicht verstand, und verlegen hüstelnd nochmals fragen mußte.
»Apfeltorte mit Schlagsahne,« wiederholte sie von oben herab und lehnte sich in die Polster zurück.
»Apfeltorte ist leider nicht mehr da.«
»Dann bitte, Kirschtorte.«
»Gibt es in dieser Jahreszeit nicht!«
Herta wurde dunkelrot, ihr war es, als wolle der Schwarzbefrackte sie narren. Da hielt es Lilli für geboten, einzugreifen. »Nun was haben Sie denn für Torten? – oder Herta,« wandte sie sich an diese, »soll ich mal sehen, was das Büfett Gutes birgt? Oder komme mit, suche dir selbst etwas aus!«
»Nein, das tue ich nicht,« muckste diese und sah den Mann vor ihr feindselig an, als läge es an ihm, daß er ihre Befehle nicht ausführte.
Lilli kam mit zwei Cremetörtchen zurück, die aussöhnend wirkten, und danach bestellte sich Herta noch Schokolade mit Schlagsahne.
»Aber wo bleiben die andern?« fragten sich die Mädchen und blickten durchs Fenster.
Jetzt lachte Lilli laut auf.
»Da geht ja Ilse, der Hasenfuß, auf und nieder, hat sich gewiß nicht hereingewagt, warte, ich hole sie herein.«
Ilse, die merkwürdigerweise Hertas Hineingehen übersehen hatte, war froh, nun ebenfalls an dem runden, kleinen Tisch zu sitzen, und man wartete auf Ediths Erscheinen. Diese fuhr gar in ihrem Landauer vor, was Hertas Neid zu einer boshaften Bemerkung veranlaßte.
Aber lustig ging es nun doch her; die jungen Mädchen feierten ihren ersten selbständigen Ausgang als Halberwachsene, und ihrer Heiterkeit mußten gar viele der sich einstellenden Gäste stand halten.
Herta entnahm ihrem Täschchen einen Bleistift und zeichnete auf der Marmorplatte des Tischchens Karikaturen der anwesenden Damen.
Eine solche mit einem Hut, so groß wie ein Wagenrad, dazu ein schmales Gesicht, mit dito Nase, ward als Steinpilz gezeichnet, und eine Dame in steifer Haltung mit auffallend langem Hals, als Pelikan. Schließlich schlug Lilli vor, das Café in einen zoologischen Garten umzugestalten, und bald waren Frauen und Jungfrauen in Tierarten eingeteilt, was das Kleeblatt so zu amüsieren schien, daß das Gekicher kein Ende hatte.
Bald aber merkten sie, daß sie sich durch das Fixieren und Lachen unliebsam gemacht hatten, und hielten es für geboten, das Feld ihrer »Tätigkeit« zu räumen.
»Kellner, zahlen!« rief Lilli.
»Zahle nur alles zusammen,« flüsterte ihr Herta zu, »dann brauchen wir nur einmal Trinkgeld zu geben.«
Lachend zeigte Lilli ihr Portemonnaie, eine Mark und fünfzig Pfennig waren ihr ganzes Vermögen.
Währenddessen war der Zahlkellner mit gewichtiger Miene herangeschlichen und heimste von allen Kränzchenschwestern seinen Tribut ein.
Als sie durch das Lokal schritten, kam ihnen wieder das Kichern an, und sie hatten Mühe, sich mit Anstand zu entfernen.
Auf dem Heimweg folgten ihnen ein paar junge Herren, auf die sie natürlich nicht weiter achteten. Erst als sie sich verabschiedeten, fiel es Edith auf, daß einer derselben immer hinter ihr blieb.
Als sie zu Haus, ihres Jacketts und Huts entledigt, ans Fenster trat, sah sie den schlanken Jüngling noch auf und nieder wandeln.
»Das ist ja eine regelrechte Fensterpromenade,« dachte sie und lachte. Unwillkürlich blickte sie in den Spiegel.
Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen blitzten, wirklich, sie begann hübsch zu werden. Zufrieden nickte sie dem Bilde im Spiegel zu. »Edith, du wirst ein hübsches Mädel,« sagte sie übermütig und erschrak, daß sie so laut gesprochen.
Und nun hinab zu den Eltern, – denn es war Zeit zum Abendbrot, schnell noch einen Blick zum Fenster, wirklich, da stand er noch immer. Zu ulkig.
Am andern Morgen brachte das Stubenmädchen einen Brief, der für Fräulein Edith abgegeben worden sei.
Die Handschrift war dem jungen Mädchen vollständig fremd, wer konnte ihr schreiben?
Hastig öffnete sie das Kuvert – ein Gedicht, in Rundschrift geschrieben, fiel heraus.
Tief errötend las Edith:
»Du meine Herzenskönigin,
Ich leg' mich dir zu Füßen,
Mein ganzes Sein, mein treuer Sinn
Will dich allhier begrüßen.
Mein Abend- und mein Morgenstern,
Ich will dir folgen, nah und fern.
Doch willst du holder Stern entschwinden,
So lebe wohl, hab' Dank für deinen Schein,
Vielleicht, vielleicht werd ich dich wiederfinden!
Von nun an bin ich niemals mehr allein.«
Ganz ratlos hielt Edith noch lange das Gedicht in der Hand. Von wem konnte es kommen? – und was sollte sie nun wohl anfangen? – Sollte sie es der Mutter zeigen, oder mußte es ein lästiges Geheimnis zwischen ihr und der Mutter bleiben? Es war doch zu genant! Was sollte die Mutter wohl denken? – Ob es der Fremde von gestern war, der ihr nachgegangen? Er schien ein Primaner zu sein oder gar schon Student. Was sollte sie nur anfangen, sollte sie sich Lilli anvertrauen? – Viele Fragen wirbelten durch Ediths Hirn. Nein, lieber wollte sie zu Ilse gehen. –
»Nun,« fragte beim Frühstückstisch die Mama, »wie ist dir der erste Ausflug ins Café bekommen?«
Edith wurde rot. »O Mama, wir haben so viel gelacht, Herta hat ihren Spott über alle ausgegossen, es war sehr amüsant. – Darf ich heute zu Ilse? Wir wollen zusammen eine Handarbeit aussuchen, die sie ihrer Mutter zum Geburtstag schenken will.«
Bei Ilse ward natürlich zunächst das erhaltene Gedicht besprochen und hin und her geraten, wer wohl der stille Anbeter sein könne. Schließlich meinte Ilse, man dürfe gegenseitig kein Geheimnis haben, die andern Kränzchenschwestern sollten auch hiervon hören, denn es sei doch gar zu spaßig, daß eine von ihnen schon ein anonymes Gedicht erhalten habe. »Und weißt du, ich habe auch einen Vorschlag zu machen, da wir doch nun schon große Mädels sind und nicht nur Unsinn machen können, wollen wir einen anderen Ton im Kränzchen walten lassen, um unsere doch nicht geringen Kenntnisse zu verwerten. Ich schlage vor, bei der einen wollen wir Englisch sprechen, so gut es geht, bei der andern Französisch – weißt du, gerade hierin muß ich ja jetzt so wie so büffeln – – also sagen wir bei mir Französisch, bei dir Englisch, bei Lilli wollen wir unsere literarischen Versuche machen oder etwas lesen, und bei Herta, weil diese doch darin am meisten bewandert ist, wollen wir Bilder besprechen und Kunst kneipen.«
»Dabei wird was Schönes herauskommen,« lachte Edith, war aber wie immer, wenn ihre geliebte Ilse etwas sagte, damit einverstanden.
*
Der Mittwoch war gekommen. Edith, in ihrem weißen Teeschürzchen, das sie allerliebst kleidete, stand im dunkelgetäfelten Speisezimmer vor dem großen Tisch und ordnete denselben. Nun gab es schon Frühlingskinder; Schneeglöckchen in großen Büscheln und gelbe Mimosen zierten die Vasen, die vor jeder Tasse aufgestellt waren.
Jetzt ging Edith nochmals in ihr Stübchen und blickte in den runden Spiegel. Ihre dunkelblauen Augen hatten heute etwas Strahlendes, und die dicken Zöpfe, kranzartig aufgesteckt, standen zu dem schmalen, feinen Gesichtchen so allerliebst, daß sie sich zu freuen anfing. In der Schule waren sie und Ilse immer die wenigst Hübschesten gewesen, und es hatte sie oftmals bedrückt, aber jetzt schien es, als würde sie noch sehr niedlich und dessen freute sie sich, wie jedes junge Menschenkind.
Sie probierte verschiedene Bänder, und schließlich nahm sie ein hellblaues, das sie im Haar befestigte. Nun nochmals die Hände gewaschen, und dann wieder hinab. Jetzt holte sie den englischen Roman, den die Mama selbst ausgesucht hatte, und nun wiederholte sie noch schnell einige Vokabeln, damit die Begrüßungsformeln gut ausfielen, – denn für je zehn deutsche Worte mußten in die Kränzchenkasse dreißig Pfennig Strafe gezahlt werden. –
Sehr hübsch verlief der Nachmittag; die Vorlesung war ganz vorzüglich, nur hin und wieder hatte Ilse, die als zukünftige Sprachlehrerin das Präsidium übernommen hatte, etwas an der Aussprache zu korrigieren. Auch mit der Konversation ging es besser, als man gedacht hatte, und es klirrten nur einmal von Herta dreißig Pfennig in der aufgestellten Sparbüchse.
Bei dieser Gelegenheit ward auch mal die Kasse revidiert, und es zeigte sich, daß sich eine ganz nette Summe darin befand.
»Ich habe eine großartige Idee,« begann Lilli, und ihre Augen sprühten, »aber fein, sage ich euch, paßt mal auf! Das Geld wird zu einem großartigen Zweck verwendet. – Wir führen zum Geburtstag der Frau Rechtsanwalt Lutzner einen Einakter auf.«
»Hurra, Hurra!« rief es. Ilse flog Lilli an den Hals und küßte sie stürmisch.
»Du goldenes Tierchen, du Gute, Liebe, immer hast du so schöne Ideen! Wie wird sich mein Muttchen freuen. Ist das eine Ueberraschung!«
»Famos!«
»Ganz was Apartes.«
So klang es durcheinander, eine jede war von der Idee begeistert.
Theaterspielen, Komödie, wie gern tut da auch die Jugend schon mit, ohne zu ahnen, daß das Leben selbst oftmals Komödie ist!
»Aber was werden wir spielen?« nahm Edith das Wort.
»Wird sich finden, wollen uns aus der Leihbibliothek einige Sachen holen und dann große Beratung halten. Bei mir muß diese erfolgen, denn das fällt in das schöngeistige Gebiet, das ich am meisten beherrsche,« sagte Lilli gewichtig.
»Wir müssen natürlich bei der Wahl des Stückes darauf sehen, daß kein Aufwand an Dekorationen zu machen ist, denn sonst wird die Geschichte zu teuer,« warf Edith ein.
»Ja du,« meinte geringschätzig Herta, »du fängst schon wieder als Kaufmannstochter zu rechnen an. Wenn es nicht schön wird, dann verzichte ich. Wir brauchen doch Kostüme und möglichst viel Farben, da kann man die Geldfrage nicht in den Vordergrund stellen. Aber das ist so, wo viele mitzureden haben, da ist nichts –«
»Aha, die Damen sind schon im besten Zank! Silentium, meine Herrschaften, Herta und Edith haben das Wort,« amüsiert und ironisch lächelnd, sprach es Lilli.
»Bitte keinen Zank,« wehrte Edith ab. »Ich will nicht rechthaberisch sein, am wenigsten heute, wo ich Gastgeberin bin, aber –«
»Na also, verderbt uns die Stimmung nicht, Kinder,« gebot Lilli, »ich bitte die Beratung fortzusetzen!«
Die Gemüter hatten sich beruhigt, und man beschloß in corpore zur Bibliothek zu wandern, um sich einige Bücher zur Auswahl zu holen. Man hatte nur drei Wochen Zeit bis zur Aufführung. Deshalb brachen die Kränzchenschwestern früher, als es sonst der Fall war, auf.
Unterwegs kam es wie ganz von selbst, daß sich Edith wiederholt umschaute und Ilse anstieß, wenn sie glaubte, von der Ferne den »Dichter« zu erblicken. Aber in der Tat zeigte er sich nicht, und es blieb ein Rätsel, wer dieser gewesen. –
Eine Woche voll angenehmer Tätigkeit war vergangen. Die Mädchen waren ganz erfüllt von der Lust, Theater zu spielen, ein Stück nach dem andern wurde gelesen, besprochen – und verworfen.
Herta brachte ein sehr lustiges, aber es ergab sich, daß umfangreiche Kulissen dazu gehörten, und deshalb mußte man auch davon absehen.
»Wißt ihr was?« sprach eines Tages Lilli, »bei dem vielen Wählen vergeht die Zeit, und wir werden mit dem Einstudieren nicht fertig. Ich habe eine Idee. Ich bitte Väterchen, uns einen flotten Einakter zu verfassen. Gewiß wird er es gern tun. Vater hat ja schon historische Dramen geschrieben, wie ihr wißt.«
Herta stieß Ilse an, was diese mißliebig vermerkte, und flüsterte: »Aber aufgeführt wurde keins!«
»Uebrigens, – wenn du deinen Herrn Vater nicht bemühen willst – ich kenne eine Schriftstellerin, Mamas Freundin, vielleicht hat sie im Schreibtisch etwas Geeignetes liegen,« lenkte sie ab.
»Nun denn allons, nur gleich zu ihr,« drängte Lilli. Die Mädchen griffen nach ihren Hüten, und heidi ging es durch viele Straßen zu Fräulein Ott.
Vor dem Wohnhaus der Schriftstellerin blieben die Mädchen stehen.
»Das sage ich euch, ist sie etwa nicht zu Hause, wird nicht mehr hingegangen, dann sehen wir dies als Omen an.«
»Eigentlich sieht es doch auch putzig aus, daß wir alle viere zu ihr kommen.«
»Im Gegenteil,« meinte Lilli, »das riecht nach Ovation, und so etwas liebt jeder Künstler. Also los!« –
Sie war wirklich nicht zu Hause, und das verdroß die Backfische so, daß sie grollend nach Hause gingen.
Auf dem Rückweg blieb Ilse vor einem grauen Hause stehen.
»Seht mal hier, vielleicht –«
Aller Augen richteten sich auf ein kleines Schild, das am Hause angebracht war und worauf zu lesen stand:
»Gelegenheitsgedichte, Hochzeitscarmen
|
»Wollen wir uns etwas schreiben lassen?«
Sinnend standen die Kränzchenschwestern da.
»Eigentlich bin ich neugierig, wie solch ein Gelegenheitsdichter aussieht,« meinte Herta, rümpfte aber die Nase, als sie in einen düstern Hausflur hineinblickte.
»Na denn allons, man rin, wollen mal sehen, wer da haust,« drängte Lilli.
»Wollen wir wetten, wie die Dichterin aussehen wird?«
»Du, das ist ein Mann, ohne Frage, das ganze Schild sieht danach aus.«
»Und du?«
»Ich meine, es ist ein dicker, alter Herr, in schäbige Eleganz gekleidet.«
»Und du?«
»Ich denke mir einen Semmelblonden mit goldenem Pincenez auf der Nase.«
»Aber nun ›empor!‹« befahl die resolute Lilli, und die Kränzchenschwestern erstiegen zwei graue Treppen und standen etwas außer Atem vor einer Tür, an welcher wiederum ein Schild angebracht war.
Eine altmodische Klingel lud zum Ziehen ein, aber keine wagte sich heran.
Edith fing zu kichern an, und schließlich lachten alle viere, daß sie sich hin und her bogen. Die mollige Lilli fiel direkt gegen die Tür, und die unfreiwillige Anmeldung hatte zur Folge, daß man Schritte hörte und hastig geöffnet wurde.
Im Rahmen der Türe stand zu Ediths Entsetzen der Jüngling von neulich, der vermutliche Gedichtspender. Wie gebannt blieb auch er stehen und vermochte kein Wort hervorzubringen.
Die anderen kannten ihn natürlich nicht und stotterten ihre Frage, ob der Gelegenheitsdichter zu sprechen sei, hervor.
»Ich – ich – weiß nicht –,« stammelte verlegen der Jüngling, »aber ich will mal nachsehen –,« verschwunden war er.
Erst wollte Edith Ilsen zuflüstern: »Das ist er!« aber dann schämte sie sich, denn in welch anderer Umgebung hatte sie sich ihren »Anbeter« vorgestellt!
»Das wird ja gut!« flüsterte Herta, »eine echte Proletarierbude!«
»Was sagst du?« fragte ebenso leise Ilse.
Aber ehe Antwort gegeben werden konnte, trat ein älterer Mann mit einer so ominösen Nase heraus, daß letztere das Gelächter der jungen Mädchen herausforderte, was sehr beschämend für sie ward.
»Womit kann ich dienen?« fragte eine tiefe Stimme. Ilse kniff Edith in den Arm, Herta stieß Lilli an, aber zu sprechen vermochte keine.
»Ach, ach, ich sterbe!« stöhnte Herta, »ich komme um vor Lachen.«
»Aber man nicht hier,« flüsterte Lilli.
»Womit kann ich dienen?« wiederholte die tiefe Stimme. Wiederholtes Gekicher, was den arg beleidigten Dichter derartig in Wut brachte, daß er etwas von »dummen Gänsen« murmelte und dröhnend die Tür zuwarf. Eine erneute Lachsalve!
Edith sah noch durch das Guckloch der Korridortür ein Auge des Jünglings hindurchlugen, dann stolperten die Mädchen die Treppe hinab und begannen, sich endlich zu schämen, daß sie, angehende junge Damen, sich so albern benommen hatten. – –
Unterwegs konnte Edith doch nicht umhin, der Freundin Ilse zuzuflüstern, daß der »Blonde« der vermutliche Gedichtspender gewesen. Die Fensterpromenaden habe er jedenfalls gemacht.
»Na, dann kannst du auch mit Bestimmtheit annehmen, daß das Poem von ihm kam. Schade, ich habe ihn mir so anders gedacht! –«
Als Edith im Bette lag, ward ihr ganz heiß bei dem Gedanken, daß sie das erste Gedicht, das man ihr geweiht, unter ihr Kopfkissen gelegt hatte. Nun mußte sie sich doppelt schämen, denn nach ihren kindlichen Begriffen, konnte dies nur ein »gewöhnlicher« Jüngling sein, der so häßlich wohnte und einen Vater hatte, der so unglaublich lächerlich wirkte. –
Und dann sprang sie plötzlich auf, holte aus ihrer Kommode das wohlverwahrte Gedicht, las nochmals die Anfangsstrophen:
»Du meine Herzenskönigin,
Ich leg mich dir zu Füßen,
Mein ganzes Sein, mein treuer Sinn
Will dich allhier begrüßen.«
und zerriß es in kleine Stücke.
»So,« sagte sie noch trotzig, »jetzt könnt ihr in alle Winde hinausfliegen.«
Damit öffnete sie das Fenster und warf die Papierschnitzel hinaus.
*
Rrrrr, Rrrrr, das Telephon bei Lutzners läutete am frühen Morgen, während das Mädchen mit Aufräumen des Zimmers beschäftigt war.
»Hier, das Mädchen von Frau Rechtsanwalt Lutzner! – Nein, Fräulein Edith schläft noch. – Wecken? – ja, werde ich das dürfen? – Gut, ich hänge ab, wollen Sie bitte warten.«
Es klopfte an Ilses Tür.
»Wer ist da?« erscholl es verschlafen zurück.
»Fräulein Edith möchte ans Telephon kommen, Fräulein Flatow wünscht Fräulein Edith zu sprechen.«
»Sagen Sie, ich schliefe noch.«
»Das tat ich bereits, aber Fräulein Lilli meinte, ich solle nur Fräulein Edith wecken.«
Unmutig über die Störung im Morgenschläfchen, sprang Ilse auf, warf den Morgenrock über und lief, die Füße nur in zierlichen Pantöffelchen, an das Telephon.
»Hier, Ilse, – warte du Böse, mich so zu stören! – Wichtiges? na, was denn? – Na ja, das ist ganz nett, hätte es aber einige Stunden später erfahren können. – Woher denn? – Verstehe ich dich recht? – Als wir bei ihr waren, war die Schriftstellerin gerade auf Besuch bei deiner Mama? – und sie versprach, uns ein Stück zu schreiben? – sehr nett. – Also gut, ich komme gegen elf Uhr zu dir. Adieu, du Kobold, hast mich hübsch aus dem Bette gejagt, guten Morgen!«
Um elf Uhr trafen sich die Kränzchenschwestern pünktlich bei Lilli. Und wieder machten sie denselben Weg wie gestern.
Die Schriftstellerin empfing sie äußerst freundlich in einer mit Valenciennes durchsetzten Matinée, die Hertas Schönheitssinn sofort gefangen nahm. Da sie bereits wußte, worum es sich handelte, die jungen Mädchen auch etwas befangen waren und steif wie die Puppen dasaßen, bedurfte es nicht vieler Worte.
»Vielleicht sagt Ihnen dieser Einakter zu,« sagte die Dame und suchte in ihrem Schreibtisch herum.
Während sich Edith und Ilse die gediegene Zimmereinrichtung ansah, konnte Lilli ihren Blick nicht von einem Bilde wenden, das von der Mittagssonne beleuchtet, sie ungemein ansprach.
Eine Fischersfrau blickte, ihr Kind an der Hand, nach dem Meere aus. In der Ferne erblickte man ein Segelboot auf schaukelnden Wellen, das wohl den Fischer trug.
Herta betrachtete den griechisch aufgesteckten Haarknoten Fräulein Otts, ließ prüfend ihren Blick auf dem feinen Antlitz derselben ruhen, schnupperte ihr Parfüm auf, wußte mit Bestimmtheit ihren Freundinnen später zu sagen, daß es englischer Herkunft sei, und war mit dem Totaleindruck, den sie hier empfangen, vollständig zufrieden. –
Natürlich wurde am Nachmittag schon Leseprobe gehalten, und da ergab es sich wieder, daß das Stück für ihre Zwecke nicht geeignet war.
»Was nun?« hieß es.
Da kam Herta ein famoser Gedanke.
»Wißt ihr was? – ich weiß noch etwas weit Schöneres als Theaterspielen. Ganz gewiß, gerade jetzt, wo es dem Sommer entgegengeht, ist dafür nicht mal die richtige Stimmung. Ich weiß was viel Amüsanteres –«
»Aber so rede doch, wer wird denn so lange einleiten?« hieß es.
Aber Herta liebte es, die Spannung ihren Höhepunkt erreichen zu lassen und hielt noch hinter dem Berge. »Also, paßt mal auf – wir veranstalten eine Variété-Aufführung!«
»Wa–a–s?«
»Eine Varié –«
»Na, weißt du, solch ein Einfall –«
»Wieso denn? – Das ist doch mal was Neues – was Apartes, und hört nur, wie ich mir das gedacht. Paßt auf, unsere Mütter werden den originellen Einfall auch hübsch finden.«
»Wie hast du dir denn das gedacht?« forschte Lilli.
»Natürlich kommt erst das Podium. Weißt du, Ilse, da brauchen wir nicht mal große Umstände zu machen. Ihr habt doch die hübsche Estrade, die dient als Bühne. Das Fenster wird durch die Portière gedeckt, wodurch wir einen entsprechenden Hintergrund gewinnen.«
»Na ja, aber was sollen wir denn tun?«
»Das werdet ihr gleich hören. Die ganze Geschichte wird in Nummern eingeteilt: Als erste Nummer singt Lilli zur Mandoline. Dann, Edith, kommst du als Tänzerin.«
»Um Gott, nur ja nicht!«
»Nee, auf keinen Fall, vor all den Gästen tanzen – beim bloßen Gedanken habe ich schon Lampenfieber.«
»Willst du deklamieren?«
»Das eher!«
»Also bon.«
»Ich möchte Violine spielen,« meldete sich Edith, denn alle hatten sich nun doch einmal auf eine Vorstellung kapriziert, und viel Zeit zum Vorbereiten war nicht mehr da.
»Ja, und weißt du was? – Du spielst etwas aus der Dollarprinzessin,« bestimmte Herta.
»Halt! ich habe eine Idee!« fiel Lilli mit pfiffigem Gesichtsausdruck ein. »Rolf Jäger pfeift brillant, engagieren wir ihn als Kunstpfeifer.«
»Dann muß aber unser Herbert auch mitmachen,« warf Ilse ein.
»Was soll er denn vortragen?«
»Er könnte als Kunstschütze auftreten.«
»Unsinn! Das Knallen werden sich die Damen hübsch verbitten, und überhaupt, du denkst an die Nachmittagsvorstellungen im Kristallpalast, wir aber werden im Salon sein.«
»Na, wenn Rolf Jäger kommt, kann doch mein Bruder erst recht dabei sein, nicht? Es ist ja noch dazu bei uns selbst und zu Mutters Geburtstag.«
»Ereifre dich nur nicht so, wir haben ja gar nichts dagegen. Rolf schlug ich vor, weil er so gut pfeift – dann sage doch, was Herbert kann.«
Ja, da war guter Rat teuer, und niemand wußte, wo seine Befähigung auf »ulkigem« Gebiete lag, deshalb nahm man sich vor, ihn selbst zu fragen.
»Aber erst müssen wir mit uns selbst im reinen sein,« warf Edith hin. »Nun, schreibe mal auf, Herta.
Erste Nummer: Lilli als Sängerin, zweite Nummer: Ilses Deklamation.«
»Ich werde Schillers Handschuh deklamieren,« fiel diese ein.
»Nein, das geht nicht, es muß etwas Ulkiges sein.«
»Ach, ich hab's – wir lassen uns von Rolf Jäger eine Schiller-Parodie geben, das wird großartig! Seid ihr einverstanden?«
»Also gut! Als dritte Nummer käme dann Rolf Jäger als Kunstpfeifer.«
»Als vierte, Edith mit der Violine.«
»Als fünfte Herta, – aber als was willst du auftreten?«
Herta zuckte die Achseln; sie wußte es selbst noch nicht, und alle sannen nach.
»Ich hab's! ich hab's!« rief jetzt Lilli. »Du kommst als spanische Tänzerin! Deine dunklen Locken und Augen sind wie geschaffen dazu.«
»Ich glaube nicht, daß Mama ihre Einwilligung dazu geben wird!« Herta setzte ihre hochmütige Miene auf, was Ilse verletzte.
»Na, wißt ihr was,« warf sie hierauf spitz ein: »Aus der ganzen Geschichte braucht überhaupt nichts zu werden. Unserer Feier wegen braucht ihr euch nicht anzustrengen.«
Sie erhob sich etwas erregt und wollte gehen. Aber die anderen hielten sie zurück, und dann einigte man sich. Schließlich endete noch die sich stürmisch gestaltete Sitzung zu allseitiger Zufriedenheit.
*
Der Geburtstag war herangekommen. Ein großer Kreis von Gratulanten hatte sich in dem gastlichen Haus des Herrn Rechtsanwalts eingefunden, zahlreiche Blumen und Geschenke prangten auf dem Geburtstagstisch, und es herrschte eine überaus fröhliche Stimmung.
Die Kränzchenschwestern huschten hin und her, und sie taten so geheimnisvoll, daß jeder merkte, eine Ueberraschung stehe bevor! –
In Ilses Schlafzimmerchen, das sonst stets ein Muster an Sorgfalt und Akkuratesse war, lag heute alles drunter und drüber. Hier standen ein Paar Goldlackstiefelchen, dort Lackschuhe mit außergewöhnlich hohen Hacken; hier lag ein seidener Unterrock, dort eine spitzenbesetzte Untertaille. Kurzum, alles war durcheinander und glich dem Garderobenzimmer eines Theaters. Kichernd standen die jungen Mädchen vor den Spiegeln, die herübertransportiert worden waren, eine leichte Röte lag auf jedem Gesichtchen, und jedem sah man die freudige Erregung an.
Der Friseur, der eben erschienen war und mit Jubel begrüßt wurde, baute Edith eine kunstvolle Frisur; leicht und zierlich legten sich die unzähligen Löckchen um ihr kleines, zartes Antlitz, das heute so ungemein verschönt erschien.
»Bildhübsch siehst du aus, bildhübsch!« rief Lilli ein über das andere Mal, »du brauchst dich gar nicht schminken zu lassen, dein Teint ist wie Rosenblüte. Komm, laß dich küssen!« Und das temperamentvolle Mädchen umschlang ihre liebe Kränzchenschwester so heftig, daß die hinteren Locken arg in Verwirrung gerieten, und der Friseur nochmals seine Kunstfertigkeit zeigen mußte.
»Soll ich nicht ein bißchen Rot auflegen; das tun die Künstlerinnen doch immer,« fragte lächelnd Edith.
»Dies ist nicht nötig, gnädiges Fräulein,« flötete mit seiner Fistelstimme der Friseur, so daß die Mädchen glaubten, vor Lachen vergehen zu müssen. Sie wagten es nicht, sich in die Augen zu sehen, denn sonst wäre es um ihre Fassung geschehen gewesen.
Edith blickte nochmals in den Spiegel, sah sich von allen drei Seiten desselben prüfend und entzückt an und fand das Resultat über alles Erwarten gut.
Dann stand sie auf und machte Ilse Platz, die nun ihrerseits von dem »Hauptkünstler« in Behandlung genommen wurde.
»Bei Ihnen ist die Frisur schon schwieriger, mein gnädiges Fräulein,« flötete wiederum der Schwarzäugige, »Sie haben so viele kurze Haare. Aber ich werde es schon machen, ich mache Ihnen, gnädiges Fräulein, ganz passend zu Ihrem Gesicht, einen idyllischen Kopf.«
Das war zuviel für die junge Gesellschaft. Sie pruschten alle zusammen heraus. Lilli fiel auf Ilses Bett und wühlte sich dort hinein, Edith preßte gewaltsam das zusammengefaltete Taschentuch gegen ihren Mund, Herta lachte, daß ihr die Tränen herunterliefen, und Ilse hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen.
Der Friseur steckte eine beleidigte Miene auf; so etwas war ihm noch nicht vorgekommen. Er wollte so recht mit seinem Wortschatz den jungen Damen imponieren, und nun wurde er offenkundig ausgelacht.
Die Brennschere in seiner Hand flog hin und her, und nicht gar zu sanft bog er Ilsens Kopf nach hinten.
»Gnädiges Fräulein müssen sich richtig hinsetzen, sonst kann ich nicht frisieren.«
Der Ton klang ungehalten.
Als Ilse aufstand, fand sie sich nicht zu ihren Gunsten verändert, die hohe Tolle vorn auf der Stirn gefiel ihr nicht und machte sie älter.
Sie sagte aber nichts, denn noch waren Lilli und Herta zu frisieren und gebrauchten die kurze Zeit, die ihnen noch bis zum Auftreten gegeben war.
Ueber sich selbst so freuen, wie Edith, konnte sie sich aber nicht.
»Können Sie schminken, Herr Friseur?« fragte Lilli neugierig. »Ich möchte gern recht frisch aussehen, ungefähr so.« Und sie rieb sich mit einem Handtuch die Backen, daß sie knallrot erschienen.
»Das würde nicht schön aussehen,« meinte der Schwarzäugige und begann, Herta zu frisieren.
In ihrem Haar wurden einige rote Rosen befestigt, die zu ihrem Schwarzgelock prächtig kleideten. Sie hatte verschiedene Schmucksachen zur Auswahl mitgebracht und probierte diese nun abwechselnd an.
Vorn am Ausschnitt des Kleides steckte sie einen Schmetterling mit schillernden Flügeln, die kleinen Diamantsplitter darin blitzten hell auf.
Sie sah in einem tiefgelben Crêpekleide so schön aus wie ein lebendig gewordenes Bild.
»Kannst du aber wunderschön aussehen!« rief man ihr zu, »ganz gewiß kommt zu dir noch einmal ein Prinz aus dem Märchenlande und holt dich aus unserm Kreis.«
»Nein, bist du schön!«
Herta stand auf. Tief und lange senkte sich ihr Blick in den Spiegel, stolz, glücklich, geschmeichelt und hochmütig blicken ihre Augen. – – – –
Ein lautes Klopfen an der Tür.
»Können wir mal einen Augenblick hereinkommen?« fragte Herbert.
»Nein, ihr könnt nicht herein, wir sind noch nicht fertig. Auf keinen Fall!«
»Aber ihr müßt euch beeilen, wir können nicht länger warten, Fräulein Lilli hat die erste Nummer.«
»Ich bin noch nicht frisiert; können die Programmnummern nicht verschoben werden? Herta kann vor mir auftreten,« entgegnete Lilli.
»Nein, das tu' ich nicht, als erste trete ich nicht auf, dazu habe ich zu viel Angst!« entgegnete diese eigensinnig.
»Aber wir können wirklich nicht länger warten,« tönte Herberts Stimme.
»Dann gehe ich so, wie ich bin,« sagte Lilli. » Allons, kommt, wo ist meine Mandoline?«
Sie öffnete weit die Tür, und Herbert sah entzückt in ihr errötetes Gesichtchen, reichte ihr den Arm, und alle Mädchen folgten nach.
Nun stand Lilli auf dem Podium, angetan mit einem hellblauen Batistkleidchen, das mit Wachsperlen und leichten Spitzen garniert war. Ihre kleinen Füßchen steckten in schwarzen Lackschuhen, und weiße Strümpfe guckten ein wenig neugierig unter dem Kleide hervor. Ihr rotes Haargelock war gelöst und nur durch ein blauseidenes Band lose zusammengehalten. Es sah aus, als sei sie von purem Gold umflossen.
Die Flügeltüren zum Herrenzimmer öffneten sich, und vom »fahrenden Schüler« geführt, betrat die Gesellschaft den Raum, der in einen Saal umgewandelt war. In langen Reihen saßen nun die Herrschaften; in der Mitte der ersten Reihe thronte das Geburtstagskind, Frau Rechtsanwalt Lutzner, ihr zur rechten und linken Seite die Eltern der jungen Künstlerinnen.
Lilli verbeugte sich tief, und der Impresario Herbert stellte vor:
»Lia Lianus, die berühmte Straßensängerin, wird Ihnen ein Lied, gedichtet von Johannes Trojan, vorsingen. Es betitelt sich »Die Beste«.
Erst unsicher, dann aber merklich fester, glitten ihre schlanken, weißen Finger über die Saiten der Mandoline und dann hob sie lieblich zu singen an:
»Man sagt vielleicht, sie ist nicht schön!
Ich gab darauf nicht acht,
Weil ihr ins Angesicht zu seh'n,
Mir immer Freude macht.
Denn freundlich stets ist ihr Gesicht
Und nett ihr Kleid und Hut.
Sie putzt sich nicht, sie ziert sich nicht,
Doch läßt ihr alles gut.
Leis ist ihr Gang, kaum hört man sie,
Wenn sie nicht etwa singt.
Verdrossen macht sie keine Müh'
Und was sie tut, gelingt.
Es muß wohl Feengabe sein,
Daß jedes Ding ihr glückt.
Die Blumen, die sie zieht, gedeih'n
Und prangen buntgeschmückt.
Der Vogel ist in bester Hut,
Wenn ihre Hand ihn pflegt.
Ich glaube, ihr ist alles gut,
Was draußen nur sich regt.
Mich selbst erfreut sie stets aufs neu
Und macht mir nimmer Schmerz.
Das macht, sie ist in allem treu
Und hat ein gutes Herz.«
Als sie abtrat, wollte der Beifall sich gar nicht legen, und die kleine Künstlerin mußte sich immer und immer wieder verbeugen.
Nun kam Ilse. Sie zitterte und wollte streiken; ihr Bruder mußte ihr erst zureden, sich nicht zu blamieren.
»Fräulein Ilona Luzerna wird den Herrschaften den Handschuh von Schiller, in Bearbeitung von Rolf Jäger, vortragen,« rief er ins Publikum hinein.
Und sie entledigte sich dieser Aufgabe recht gut, und das Gedicht sowohl als der Vortrag wurden allgemein belacht.
Keck und wohlgemut trat der Kunstpfeifer, vom Impresario unter dem Namen »Rudolfo Jago«, eingeführt. Er imitierte allerlei Vögel und pfiff zuletzt aus der Zauberflöte:
»Ein Mädchen oder Weibchen
Wünscht Papageno sich.«
Auch er erntete reichlichen Applaus, und als er ins improvisierte »Künstlerzimmer« trat, wo die jungen Mädchen standen, reichte ihm Herta, die Stolze, die Hand, was ihn ganz besonders entzückte.
Edith zitterte so, daß sie kaum den Bogen halten konnte, der zur Violine gehörte.
Ilse ließ sie an einem Glase Wein nippen. Da jetzt »Pause« war, hatte der kleine Hasenfuß Zeit, sich etwas zu sammeln.
Herbert flüsterte aber doch besorgt seinem Freunde zu: »Wenn sie uns die schöne Vorstellung nur nicht verpfuscht! Ich sehe schon, bei der geht es schief,« und es war ihm gar nicht so behaglich, als er sie nun zum Podium führte und vorzustellen hatte.
»Miß Edi Wahler wird Ihnen etwas aus der Dollarprinzessin vorspielen.« Der Ansatz mißglückte ganz, hin und wieder nahm die kleine Miß auch einige Sätze zu hoch, aber trotzdem lief alles glücklicher ab, als man befürchtet hatte, und auch ihr ward reichlicher Beifall zuteil.
Und nun sollte die Glanznummer kommen, der Star der kleinen Truppe, und mit besonderem Schwung meldete der Impresario:
»Signora Erta Ittini, die erste Tänzerin der Welt!«
Schon die ersten pas verrieten Hertas Sicherheit und Selbstbewußtsein. Graziös schwebte sie dahin, den Schleier wallen lassend, wie sie es von der Ballettmeisterin gelernt.
Hin und her wirbelte sie, bog sich hinüber, herüber und glitt in weichen Linien dahin, daß es eine Freude war, dem schönen Mädchen zuzuschauen.
»Bravo, bravo,« erklang es, und ein stürmischer Applaus durchbrauste das große Gemach. »Da capo,« rief man.
Frau Major Wittner küßte stolz ihr Töchterchen, alle andern drängten sich um sie und um die andere Künstlerschar, die, nun die Vorstellung ihr Ende erreicht hatte, das Zimmer betrat.
Ganz besonders aber dankte das Geburtstagskind, Frau Lutzner, der man den Tag so verschönt hatte. »Es sei der schönste Geburtstag ihres Lebens gewesen,« meinte sie.
Die Backfischchen selbst sagten sich erst recht, daß dieser Tag der schönste und ereignisvollste in ihrem jugendlichen Leben gewesen. –
Herr und Frau Lutzner aber berieten noch vor dem Schlafengehen, womit sie nun ihrerseits den kleinen »Künstlerinnen«, die so reizend die Geburtstagsfreude zu erhöhen gewußt hatten, einen Dank abstatten könnten, und kamen schließlich überein, vier gleiche Broschen zu kaufen, die den jungen Mädchen zugesandt werden sollten. –
Herbert hielt am andern Tage seiner »Truppe« eine Anrede, in der er in launiger Weise ihnen seine Bewunderung über ihre wohlgelungenen Produktionen aussprach.
Dann überreichte er einer jeden der Künstlerinnen zum Andenken an den vortrefflich verlaufenen Abend ein Album, wobei er witzig bemerkte, daß er sich als bescheidener Mann zuerst eingeschrieben habe.
Natürlich brannten die Kränzchenschwestern darauf, zu sehen, was er für jede einzelne zusammengebraut hatte, aber sie waren alle etwas verlegen und hielten die fein verpackten Poesie-Albums uneröffnet in den Händen.
Kaum aber hatte Herbert das Zimmer seiner Schwester verlassen, als heidi, die Schnürchen gelöst wurden, und alle vier Mädchen die in Leder gebundenen Bücher hervorholten.
In allen stand von Herberts »Bismarckhandschrift« ein Vers, den die Backfische einander vorlasen.
Ilses Vers war am putzigsten; sie hatte auch schon eine Neckerei ihres Bruders geahnt und öffnete begierig ihr Paketchen.
Und richtig, in Anspielung auf ihre Liebhaberei für Nürnberger Pfefferkuchen, stand zu lesen:
Ich denke, du solltest im Leben versuchen,
Zu sein wie ein Nürnberger Pfefferkuchen.
So frisch, appetitlich und kerngesund,
Nicht grade eckig und doch nicht rund.
Zu vieler Zucker taugt nicht zum Essen
Und bitte, den Pfeffer auch nicht zu vergessen!
Doch unverdaulich sei nie und nimmer,
Von durchschlagendem Erfolge immer.
Bist du zu hart, meine kleine Maus,
Dann beißt man an dir sich die Zähne aus.
Und bist du hingegen wieder zu weich,
So verschluckt dich ein jeder im Augenblick gleich.
Ich meine, du wirst zu dem Pfefferkuchen
Dir selber das richt'ge Rezept schon suchen.
Und wirst durch guten Geschmack bekannt,
Beliebt und begehrt im ganzen Land,
Und läßt dich in feinen, vornehmen Kreisen
Zu guter Letzt mit Gesundheit verspeisen.
»Das ist wirklich nett.«
»Das ist goldig von deinem Bruder!«
»Daß er so witzig sein kann!«
Lachend und scherzend klang es durcheinander, und die drei Kränzchenschwestern baten, es sich abschreiben zu dürfen.
Ilse strahlte über das ganze Gesicht.
»Lest nur mal weiter, ich bin neugierig, was mein Bruder euch geschrieben haben wird. Und besonders dir, Lilli, seiner Herzenskönigin.«
Lilli wurde blutrot und sträubte sich, laut zu lesen. Aber die Mädchen drängten sich um sie herum und guckten in das Buch. Hier stand:
Aus Knospen werden Blumen,
Möge die Blume werden, was die Knospe verspricht!
»Du, Knospe,« spottete Herta, die sich schon an Lillis Verlegenheit weidete, »wenn du Blume wirst, bitte, es mich wissen zu lassen!«
»Immer mußt du spotten!« zürnte Lilli und begann zu weinen.
Es war aber auch zu häßlich von der Kränzchenschwester, sie jetzt, wo sie ganz weich gestimmt war, zu hänseln.
Die anderen waren starr, man hatte Lilli bisher nie zum Weinen geneigt gefunden.
»Siehst du, so bist du immer,« zürnte auch Ilse der Herta und legte liebevoll ihren Arm um Lilli.
»Weine doch nicht, Lilli, sie hat es nicht böse gemeint, nur kann sie das Necken nicht lassen. Komm, schnell, trockne die Tränen, wir werden es ihr heimzahlen. Jetzt kriegst du auch einen Albumvers, aber was für einen. Warte nur!!«
»Ihr seid ja geradezu lächerlich, wie könnt ihr euch denn so haben, ich habe einen Scherz gemacht, nichts weiter!«
Erzürnt rief es Herta, nahm Hut und Handschuhe und sagte »Adieu«. –
Am anderen Tage bekam sie wirklich einen »Vers« zugeschickt Dieser lautete:
»Aus schnippischen Mädchen
Werden garstige Frauen.
Drum hüte dich fein
Ein solches zu sein.«
»Hm,« machte Herta, »solch ein Unsinn.« Aber im Innern war sie sehr ärgerlich über sich selbst und doch beleidigt über den guten Rat. –
Nachdem das Gespanntsein der jungen Mädchen einige Tage angehalten hatte, kam der Kränzchentag heran, der diesmal bei Lilli stattfinden sollte. Da sie annahm, daß es Herta peinlich sein würde, unaufgefordert zu ihr zu kommen, schrieb sie ihr ein paar freundliche Zeilen, und zwar suchte sie hierzu eine Postkarte aus, auf welcher eine Friedenstaube gemalt war. Sie bat die Freundin, recht pünktlich zum Kränzchen zu kommen, da man etwas zu lesen beabsichtigte.
Edith hatte vor, ein Buch mitzubringen, das sie kürzlich zum Geschenk von ihrer Tante erhalten hatte.
Froh, daß alles wieder eingerenkt war, saß man um den runden Tisch.
»Kinder,« nahm Lilli das Wort, »ihr seht, ich habe weder Blumen auf dem Tisch noch sonst außergewöhnliche Geschichten. Ich will euch erklären, weshalb: Mein ganzes Taschengeld ist flöten gegangen für all den Tand zur Aufführung. Und Mama kann ich unmöglich bitten, mir auch zu Dekorationszwecken Geld zu geben, deshalb ihr hohen und höchsten Herrschaften, nehmet allein mit geistigen Genüssen vorlieb, die ich euch ehrerbietigst überreiche.«
Damit legte sie einen dicken Band auf den Tisch und setzte sich vergnügt auf ihren Platz.
Herta hatte es sich zwar vorgenommen, gerade heute sich still zu verhalten, aber es ging doch über ihre Kraft, den Mund zu halten.
»Das Buch – um Gottes willen, wie lange sollen wir daran lesen? – das ist ja dick wie eine Bibel – Und was ist es denn?« – Sie schaute hinein.
»Ach! Na, ich danke, dazu sind wir doch wirklich schon zu erwachsen; ich darf schon Romane lesen, wenn Mama sie durchgesehen hat.«
Eigentlich hatte sie recht, das Buch, das dort lag, war schon nichts mehr für sie.
Lilli sagte liebenswürdig, »ich kapriziere mich nicht gerade hierauf, wir können auch etwas anderes lesen.«
»Ja, etwas aus dem Lesezirkel, ihr haltet ihn gewiß auch. Geh', hole die Journale, wir suchen etwas.«
Lilli holte die Journalmappe, man sah gemeinschaftlich die Hefte durch, überflog die Illustrationen und fand schließlich eine Geschichte, die in einer Nummer zu Ende geführt war.
»Wer soll lesen?« fragte Ilse.
»Ich denke, wir lesen jede von uns der Reihe nach.«
»Ach nein, ich mag nicht,« sagte Herta, »ich will sticken, das Kissen muß bald fertig sein, eine Tante von mir soll damit beglückt werden.«
»Ich lese auch nicht gern,« sagte Edith, »ich habe Halsschmerzen.«
»Also,« warf Lilli ein, »ich sehe schon, mir soll die Aufgabe blühen. Na, denn also, bitte, meine Damen, Silentium.«
Sie legte das Journal vor sich hin und begann:
» Seine Wirtschafterin.
An einem regnerischen Tage schritt ein stattlicher Herr durch die öde daliegende Straße einer Kleinstadt. Sein bleiches Gesicht war ungewöhnlich ernst, und als er vor einem breiten Hause stehen blieb, um es zu erschließen, zögerte er. Es war, als wollte er sich wieder abwenden – dann aber drehte er entschlossen den Schlüssel im Schlosse herum und trat nun in einen tiefen Hausflur.
Von den breiten Steinfliesen hallten seine Schritte unheimlich wider; sonst hörte man keinen einzigen Laut im ganzen Hause. Hastig öffnete er jetzt eine Stubentür.
Einen Moment stand er auf der Schwelle, dann trat er seufzend tiefer ins Zimmer hinein. Es überkam ihn die ganze Schwere des Verlassenseins, ein Gefühl, das ihm das Herz zusammenschnürte.
Lange saß er unbeweglich in einem Sessel, die Hand über die feuchten Augen gelegt und hing seinen Gedanken nach.
»Als ich wiederkam,
Als ich wiederkam,
War alles leer.«
hallte es in seiner müden Seele.
Ein Windstoß fuhr gegen die Fenster, sie klirrten; nervös fuhr er zusammen. Dann erhob er sich, nahm aus dem Handköfferchen, das er mitgebracht hatte, ein Buch heraus und ging mit bedächtigen Schritten zum Schreibtisch.
Hier schrieb er, bis es zu dunkeln begann, in großen Zügen:
»Als junger, fröhlicher Student, mit keinem Pfennig in der Tasche, aber mit lichtem, hoffnungsvollem Herzen, verließ ich vor vielen Jahren die Stadt, die mir durch die Liebe meiner Verwandten zur zweiten Heimat geworden, und heute betrete ich sie wieder als gereifter Mann, mit vielem Weh und vielen Enttäuschungen in der Brust.
Reich geworden durch die Güte derer, die mein verwaistes Leben wie Sonnenstrahlen durchwärmten, und wiederum arm im Herzen durch ihr Dahinscheiden. Denn sie, von denen ich alles ererbt, haben in diesem nun verödeten Hause geweilt und gewirkt.
... Ich befinde mich im Wohnzimmer.
Auf dem kleinen Arbeitstischchen steht ein Körbchen mit einem Strickzeug. Davor hatte sie immer gesessen, die Frau, deren ganzes Dasein ein Lichtstrahl gewesen, und unweit davon der Onkel, in dem großen, grünen Polsterstuhl, die Pfeife im Munde, den Dampf mit gutmütigem Lächeln vor sich hinblasend, und erzählte ewig neue Geschichten aus seinem Leben. Wie oftmals er dann im Erzählen innehielt und sich zu mir wendend, sagte:
»Wenn du in die Welt kommst, mein Sohn, wirst du dieses oder jenes auch kennen lernen!«
Jawohl, ich habe es kennen gelernt, und es hat Gift in mein Herz gestreut; ich kam hinaus in die Welt, und nach dem Vorbild meiner Tante kam ich allen mit Liebe entgegen.
Nun man hat sich wohl von mir lieben lassen, aber – es hat mich keiner wiedergeliebt. –
Ich grüßte alle Gegenstände im Zimmer, und vor dem interessantesten Möbel, dem Schreibtisch, ließ ich mich schwer aufseufzend nieder.
Hier sind alle die lieben Zeilen geschrieben worden, die einzigen, die meine trüben Gedanken durch das Bewußtsein, es gäbe noch Herzen, die für mich schlagen, verscheuchten. Aber hier war es auch, von wo aus die Tante mir den Tod des Onkels meldete – und dann – zuletzt – saß der Advokat davor, um ihren letzten Wunsch aufzuschreiben.
Wie fragend mich alles ansieht. Jeder Gegenstand scheint sich nach den Toten zu sehnen.
»Sie sind dem verfallen, der auch euch fordern wird – dem Staube,« so klingt es in mir, während ich alles sich im Zimmer Befindliche betrachte.
Es wird mir zu eng im Hause; ich werde es abschließen und mich in ein Hotel begeben und so lange darin verweilen, bis die Wirtschafterin gefunden ist, die ich auf Erwins Rat für meinen Haushalt zu engagieren gedenke. Ich mag nicht allein in einem Hause weilen, wo mir jeder Gegenstand die Vergangenheit zurückruft. –
Erst hatte ich die Absicht, zu meinem Freunde Erwin zu ziehen, zu ihm, dem einzigen, den ich im Laufe der Zeit treu befunden.
Wir hatten viel gemeinsames Leid, und dadurch entstand eine Herzensverbindung, wie sie nur selten zu finden ist. Erwin ist Witwer, Vater eines kränklichen Kindes, und wohnt in einem geordneten Heim. Er schlug indessen ein Zusammenwohnen aus; er befürchtete, daß eine zu nahe Verbindung uns auseinanderbringen könnte, und ich sah die Richtigkeit dieser Befürchtung ein. Denn zu nahe betrachtet, ist kein Wesen immer gleich harmonisch. – So bin ich denn allein!«
Wieder seufzte der Schreiber tief, ließ die Feder fallen und erhob sich.
*
Herr Armin Keller, in dessen Tagebuch wir einen Blick werfen durften, hatte sich seit einigen Wochen in dem ererbten Heim seiner Verwandten niedergelassen.
Sehr gemütvolle Menschen gebrauchen stets längere Zeit, um sich nicht mehr durch Gegenstände rühren zu lassen; er befand sich immer noch in einer überaus weichen Stimmung.
Heute erwartete er aus einem fernen Orte seine engagierte Wirtschafterin.
Unter den vielen Offerten, die auf seine Annonce eingelaufen waren, berührte ihn eine besonders sympathisch.
Sehr rührend schilderte ihm eine ältere Dame ihre Lage; sie sei Witwe, ohne Vermögen und suche seit Monaten einen Zufluchtsort, der sich ihr hier, da sie den Haushalt wohl verstehe, so verlockend zu bieten scheine.
Arnim wußte, was es heißt, heimatlos zu sein. Sein braves Herz sprach sofort.
Und heute sollte sie kommen; er ging unruhig vor seinem Fenster hin und her, die Droschke erspähend.
Der Zug war bereits vor einer halben Stunde angekommen, der Weg von der Bahn nicht weit.
Es klingelte.
Er selbst öffnete, und nun stand er einer hohen, ernsten, schwarzgekleideten Frauengestalt gegenüber.
»Frau Birkwald, ohne Zweifel?« fragte er freundlich. Die Dame schlug die Augen nieder und errötete bis in die Schläfe, als sie sanft zögernd über die Lippen brachte:
»Die bin ich.«
»Seien Sie mir willkommen! Bitte treten Sie hier rechts ein.«
Er ging ihr voran und öffnete die Tür.
Sie zitterte und war so befangen, daß es bei ihm ein unangenehmes Gefühl wachrief.
Trotzdem bat er sie, abzulegen und an einem für sie reservierten Tisch Platz zu nehmen.
»Sie würden mich verbinden, wenn Sie mir vorerst mein Zimmer anweisen ließen. Ich bin an Reisen nicht gewöhnt und fühle mich sehr ermattet,« entgegnete sie jetzt etwas sicherer mit einer sonoren Stimme.
»Die Erfrischung, die Sie so freundlich sind, mir anzubieten, muß ich dankend ablehnen; ich bitte Sie nur, mich für heute zu entlassen, morgen werde ich alle meine Pflichten übernehmen.«
»Bitte, ganz wie es Ihnen beliebt,« kam es kühl von seinen Lippen. Er klingelte und befahl der eintretenden Magd, die Dame in ihr Zimmer zu begleiten.
Ein einfaches, gemütliches Gemach nahm sie auf. Sie schloß es ab, sank in die Knie, drückte ihren Kopf in die Polster eines Diwans und schluchzte laut auf: »O Gott, gib mir Kraft!«
*
Es war ein trauriges Zusammensein zwischen beiden. Frau Birkwald war so befangen in ihres Herrn Nähe, daß sie nichts richtig anzufassen vermochte.
Bei Tisch war sie linkisch und unbeholfen; man sah ihr an, wie wenig wohl sie sich hier fühlte, und ihre gedrückte, schwankende Stimmung ging auch auf den Hausherrn über.
Arnim war sehr unzufrieden mit ihr, sie war ihm geradezu unheimlich.
Er vermied es, sie anzusehen, aus Furcht, sie in Verlegenheit zu bringen, und dabei zürnte er ihr, daß sie sich, eine so menschenscheue Person, in ein fremdes Haus gedrängt hatte.
Sie fühlte das nur zu schmerzlich, und obgleich schon einige Monate seit ihrem Eintritt in sein Haus vergangen waren, konnte sie sich doch der entsetzlichen Beklommenheit, die auf ihr lastete, noch immer nicht erwehren.
Er ignorierte ihr sichtbares Zusammenschrecken vor ihm, aber oftmals sah er sie so strafend an, wenn sie eine besonders »ängstliche Stunde«, wie er es nannte, zeigte, daß ihr der Blick durch alle Glieder ging.
Mit Worten hatte er sie indessen noch nie gerügt. Eines Tages jedoch, als sie das Unglück hatte, eine Vase, die ihm besonders wert war, da seine Tante sie selbst gemalt hatte, beim Abstauben zu zerbrechen, sprang er, der es bisher stets verstanden hatte, sich zu beherrschen, unwillig auf und rief heftig:
»Ich erlaube nicht mehr, daß Sie irgend etwas anfassen. Tun Sie gar nichts, überlassen Sie alles der Magd, Sie können absolut nichts!«
Jetzt mit einemmal war ihre Scheu vor ihm verflogen, vergessen, daß sich kein schützendes Dach über sie schloß, wenn sie diese Schwelle verließ, das beleidigte Weib regte sich in ihr.
Blitzenden Auges stand sie ihm gegenüber, als sie stolz rief: »Was soll ich hier, wenn ich nicht arbeiten darf? Geben Sie mir sofort meine Entlassung!«
»Die kann ich Ihnen nicht geben,« entgegnete er noch immer heftig.
»Und warum nicht?« fragte sie, indem sie den von einer Haube entstellten Kopf zurückwarf.
»Nun, weil – weil Sie heimatlos sind,« gab er unwillig zurück und warf, wie in Wut, ein Buch, das er in der Hand hatte, weit von sich, indem er heftigen Schrittes das Haus verließ.
Starr, mit herabhängenden Armen, sah sie ihm nach.
»Weil ich heimatlos bin,« wiederholten ihre zitternden Lippen.
»Weil ich heimatlos bin,« wiederholte sie auf ihrem Zimmer.
»Weil ich heimatlos bin,« klang es, wohin sie hörte, wohin sie sah. Diese Worte hatten ihr Geschick entschieden. Lag in dem einzigen Satz nicht ihr Leid in seiner ganzen Tragweite – und wiederum der Schlüssel zu seinem Charakter? –
Oftmals hatte sie ihm nach Tisch gegenüber gesessen, wenn er beim Kaffeetrinken nach seiner Gewohnheit die Zeitung durchsah und ihr dies oder jenes daraus vorlas, dann hatte sie sein schönes, männliches Antlitz betrachtet, und oftmals hatte sie einen brennenden Schmerz im Herzen gefühlt, wenn sie sich nach seinen Aussprüchen sagen mußte: »In dieser schönen Hülle wohnt keine Seele.«
Und heute, wo er ihr wehe getan, wo er ihr – es war das erste Mal seit ihrem Hiersein – einen Tadel zurief, da erkannte sie, daß er ein Herz besaß, das mit andern zu fühlen vermochte.
Hatte vorher wohl schon jemand daran gedacht, was aus ihr werden würde, wenn sie obdachlos wäre? – Ein Dankbarkeitsgefühl sondergleichen stieg in ihr auf. Zum ersten Mal in ihrem Leben war jemand auf der Welt, der daran dachte, was aus ihr werden sollte. Es war ihr so neu, daß man über ihr Geschick nachdachte. Und diesem Manne hatte sie kein Herz zugetraut!
In Unterhaltung war sie nie mit ihm gekommen. Im Anfang ihres Dortseins hatte er oft eine solche anzubahnen gesucht, aber sie gab die verlegensten und unsichersten Antworten oder schwieg, indem sie hoffte, er würde ihren Gedankengang ahnen.
Sie schwieg aus Furcht, daß er weiterfragen könne.
Als er einmal ganz plötzlich fragte, wie lange sie schon Witwe sei, ob sie früh geheiratet und ob ihr gar keine Familie mehr lebe, hatte sie, der jede Lüge verpönt war, geantwortet, sie möchte über ihre Vergangenheit, da sie sehr traurig sei, schweigen. Familie habe sie nicht, kein Wesen lebe, auf das sie Anspruch habe.
Er sah sie mitleidig an und schwieg.
Aus seinem Leben wußte sie gar nichts. Daß er viele Reisen gemacht, daß er in Staatsdienst gestanden, hatte er ihr erzählt.
Jetzt lag er philosophischen Studien ob, studierte und schrieb den ganzen Tag hindurch. Nach Tisch und nach dem Nachtessen pflegte er einen Spaziergang zu machen.
Auch heute machte er seinen gewohnten Gang, dehnte ihn aber weiter als gewöhnlich aus, denn es tobte in seinem Innern.
Er machte sich Gewissensbisse, gegen eine Unglückliche hart gewesen zu sein – er hatte bis jetzt noch gar nicht daran gedacht, daß sie das Recht hatte, zu gehen, wenn es ihr beliebte.
Er war in jeder Weise unzufrieden mit ihr. Sie war ihm sogar oftmals lästig gewesen, und doch – etwas Unbestimmtes bannte ihn an sie. Ja, der Gedanke, daß sie nun wirklich gehen würde, erschreckte ihn und doch wußte er, daß eine andere ihren Platz besser ausfüllen würde.
Er hatte sich ein gemütliches Heim gewünscht, welches ihm ein weibliches Wesen – ans Heiraten dachte er längst nicht mehr – bereiten sollte. Wie wenig verstand sie dies!
In der ersten Zeit ihrer Tätigkeit hatte er vorgeschlagen, Lesestunde zu halten, sie hatte dann auch geräuschlos am Teetisch gewaltet, und er las ihr vor.
Wenn er aber mit ihr über das Gelesene disputieren wollte, war sie so verlegen und wurde rot wie eine Person, der alles böhmische Dörfer sind, was er sprach.
Voll Unmut glaubte er, sie sei nicht gebildet genug, um ihn zu verstehen, bis er sie einmal durch seinen Vortrag so interessierte, daß sie sich selbst vergaß und ohne jede Schüchternheit mit einem für ihre Jahre bewunderungswürdigen Feuer sprach. Da erkannte er die vollendet gebildete Frau, sah mit Erstaunen in ihre für ihr Alter unglaublich glänzenden Augen und bewunderte zum ersten Male ihren noch so frischen Teint.
Doch als sie merkte, daß sein Auge wohl etwas länger als sonst auf ihr ruhte, verstummte sie plötzlich.
Wieder das alberne Rot, das er nicht leiden mochte, und von Stunde an, war es wie früher, nicht möglich, in eine ruhige Konversation mit ihr zu gelangen. Sie zeigte sich wie gewöhnlich verschüchtert und linkisch. Doch, was trotzdem einen Zauber auf ihn ausübte, dem er sich nicht zu entziehen vermochte, war, daß sie die sanfte Stimme seiner Tante hatte.
Wenn er sie von der Küche oder von einem der Nebenräume aus mit dem Dienstmädchen, dem sie Befehle oder Anleitung gab, sprechen hörte, schloß er oftmals die Augen, um sich einzubilden, die alte Frau, die er so sehr geliebt, lebe noch.
Dann war es ihm, als müsse er zu ihr gehen, um ihr ein paar warme Worte zu sagen.
Aber wenn er dann wirklich über die Schwelle trat und ihr in sich zurückfliehendes Wesen wahrnahm, erstarb ihm das Wort auf den Lippen.
»Ist es niemals Frühling in dir gewesen, arme Frau, oder hat der Winter dein Herz erstarrt?«
Wie oftmals fragte Arnim sich dies!
Einmal war er früher als gewöhnlich nach Hause gekommen, denn er pflegte sonst im Gastzimmer eines Hotels, dem vornehmsten im Städtchen, den Abend zuzubringen, und nun hörte er, was ihm fremd war, die Klänge seines Klaviers.
Wie lange war es her, daß er keinen Ton von diesem Instrument mehr gehört!
Seine engelgleiche Tante hatte immer davor gesessen und gewöhnlich in der Dämmerstunde, die man bei ihnen gern auszudehnen pflegte, mit durchgeistigtem Antlitz und leuchtenden Augen Beethovens Mondscheinsonate gespielt. Ans Fensterbrett gelehnt, stand der Onkel, ihr zuhörend, und er, der schwärmerische Knabe, lag lang ausgestreckt vor dem Ofen, den Kopf auf einem gepolsterten Fußschemel, träumerisch in die Gluten schauend.
Dann sah er dem Spiel des Mondes zu – wie es gleich Phosphor längs der Dielen hin und her huschte. Und stolze Gestalten, die eine glückliche Zukunft bauen halfen, zauberte seine Phantasie ihm vor.
Wieder war es Halbdunkel, wieder die Musik, – das Feuer im Ofen.
Und stand da nicht sein Onkel, dessen Umrisse er im Schatten zu sehen glaubte?
Wie einladend, wie verlockend das lang Entbehrte ihn anmutete.
Aber das waren ja Trugbilder, denen er sich hingab. »Wer wird so albernen Phantasien nachhängen?« sagte er sich unmutig und schüttelte den Bann von sich.
Frau Birkwald saß am Klavier.
»Sie sind musikalisch?« redete er sie an. »Weshalb haben Sie bisher nie gespielt?«
»Ich – ich –« stammelte sie verlegen, »ich bin sehr ungeübt.«
Dann stand sie auf, sagte »Gute Nacht!« und begab sich auf ihr Zimmer.«
*
»Das ist aber eine alberne Person,« unterbrach Herta, »die hätte ich längst hinausexpediert.«
»Ihn finde ich himmlisch!« schmachtete Edith. »Paßt auf, da kommt noch was ganz Verschleiertes heraus, mit der Alten ist es nicht geheuer.«
»Seid ihr fertig, oder kann ich weiterlesen?« fragte, über die Störung etwas ungehalten, Lilli.
»Lies nur, lies!« hieß es; die Nadeln der jungen Mädchen stichelten eifrig, und ihre Aufmerksamkeit galt wieder der Erzählung.
*
»In derselben Nacht wurde Arnim geweckt; das Dienstmädchen berichtete, daß lautes Stöhnen aus dem Zimmer der Wirtschafterin dringe. Sie wagte sich aber allein nicht zu öffnen.
Sofort kleidete Arnim sich an, und beide gingen nach oben. Die unverschlossene Tür wurde aufgeklinkt, beide schritten gemeinsam ins Zimmer.
Unausgekleidet lag die Wirtschafterin auf ihrem Bette.
»Um Gottes willen, zum Arzt!« drängte er die Magd, »die Frau stirbt!«
Und so sah es auch aus, der feine Mund war zusammengekniffen, das Angesicht erdfahl; mit geschlossenen Händen lag sie da, und kein Belebungsversuch zeigte Erfolg.
Wie er an dieser fremden, im Grunde genommen unsympathischen Frau hing!
Ihm war es, als sterbe ein ihm teures Wesen, fast hätte er aufschreien mögen. Und nun kamen noch die Vorwürfe hinzu, die er sich machte.
Er war es gewesen, der sie erschreckt hatte, er, der ihr heute in dürren Worten gesagt hatte, daß er sie gern gehen ließe, wenn sie nur ein Unterkommen irgendwo hätte.
Wenn sie sich nun gar deswegen ein Leid angetan, wenn sie Gift genommen – wenn ihr Spiel ein Abschied war! –
Er war verzweifelt, mit großen Schritten durchmaß er ihr Zimmer; es dünkte ihm ewig lang, bis Hilfe kam.
Der Arzt erschien.
Die Kranke war zu sich gekommen.
Vor ihrem Bette saß am anderen Tage eine Diakonissin und machte der Fieberkranken Eisumschläge, und der Arzt berichtete, daß es der jungen Dame viel besser ergehe.
Arnim hatte den alten Herrn besorgt angesehen: »Fehlt etwas da oben bei ihm?« hatte er sich gedacht.
Einige Tage nach der Erkrankung, die der Arzt mit Gemütserschütterung bezeichnete, infolgedessen sich typhöses Fieber eingestellt hatte, kam auch Schwester Anna zu Arnim mit der Frage, ob es nicht besser sei, man schnitte der »jungen Dame« das Haar ab, damit das Eis mehr durchdringe.
»Ich kann nicht über die Dame bestimmen, Schwester Anna,« hatte er geantwortet, »wenn es der Arzt für notwendig hält – aber ich weiß nicht, ob Frau Birkwald damit einverstanden ist; übrigens, weshalb nennen Sie meine Wirtschafterin »junge Dame«; die Dame ist nichts weniger als das.«
»Ich gebe ihr höchstens fünfundzwanzig Jahre,« war die ruhige Antwort.
Ihm ward unheimlich zumute, er traute seinen Ohren nicht.
»Darf ich mit zu der Kranken kommen?« fragte er aufgeregt.
Bisher hatte er es vermieden, zu ihr zu gehen; ihre Verlegenheit war auch auf ihn übergegangen.
»Bitte, kommen Sie.«
Die Schwester ging voran, er folgte ihr auf den Fußspitzen.
Noch lag die Kranke besinnungslos, hin und wieder aber murmelte sie unzusammenhängende Sätze.
Und nun sah er, als er näher getreten, ein junges fremdes Wesen mit goldblondem, weit über die Kissen zurückfallendem Haar.
Die feinen, blassen Hände lagen über der Decke gefaltet, ihre wundervoll geformten Arme waren von den Aermeln ihrer Jacke nicht ganz bedeckt, ihr todblasses Antlitz war so rührend schön, daß er nie etwas Lieblicheres gesehen zu haben meinte.
Er stand vor einem Rätsel, wer war sie?
Da schlug die Kranke die Augen auf; ja, das waren Frau Birkwalds Augen. Genau so glänzend, wenn auch nicht krankhaft, hatte er sie an jenem Abend, den er nicht vergessen konnte, gesehen.
»Komödiantin!« murmelte er bitter, »wieder einmal betrogen; eine Abenteurerin hat sich in mein Haus geschlichen.«
Er wandte sich ab, um das Zimmer zu verlassen, als sie plötzlich laut zu reden begann: »Ich bin heimatlos, hat er gesagt, nur deshalb hält er mich. Ich will nun fort.« –
Tränen erstickten ihre Stimme.
Die Diakonissin beugte sich über sie und machte ihr Eisumschläge, die sie sofort beruhigten.
Er stand am Türpfosten gelehnt und sah der Schwester, die so geduldig ihres Amtes waltete, wie im Traum zu.
Die Kranke weinte leise vor sich hin.
Er wollte das Gemach verlassen und konnte kein Glied rühren.
»Ich habe doch schon fortgewollt,« sprach die Patientin weiter, »und dann das Klavier, warum spielte ich – ich hatte geträumt, er habe mich lieb!«
Sie schluchzte heftig.
Jetzt riß sich Arnim los und stürzte die Treppe hinab. In seinem Studierzimmer schloß er sich ein. –
Qualvolle Tage folgten. Einen solchen Seelenprozeß hatte er noch nie durchgemacht. Er ging sein ganzes Leben durch.
Alle Menschen, die er gekannt und geliebt, wie hatten sie sich im Getriebe der Welt gezeigt?
Berechnet, voll niedriger Gesinnung, falsch.
Warum sollte sie besser sein? Sie, die sich zu ihm geschlichen, um seine Ruhe, um die er jahrelang gerungen, zu stören? – – – –
Arnim war nicht wieder bei der Kranken gewesen, hatte sie auch nicht als Rekonvaleszentin besucht.
Der Arzt war fortgeblieben, die Diakonissin längst nicht mehr dort, und alles war wieder in das alte Gleis gekommen. Frau Birkwald, vielmehr Fräulein, hatte nach ihrer Krankheit ihr Zimmer noch nicht verlassen.
Einigemal war sie, von Schwester Anna geführt, im Garten gewesen, aber es war, als fürchte sie ein Begegnen mit ihrem Herrn, sie wollte nicht länger als einige Minuten verweilen.
Was nützte es ihr, daß sie jetzt wieder zu Haube und sonstigen Mitteln griff, um alt zu erscheinen; es war bekannt geworden, daß sie ihre Jugend verleugnet und selbst Arnim getäuscht hatte.
Die Schwester, der Arzt, nannten sie Fräulein, das Dienstmädchen brachte nur zögernd und plump-spöttisch »Frau Birkwald« heraus.
Ihre wenigen Sachen waren gepackt; sie hatte eben ihre ersparte Barschaft überzählt. Sie konnte sie vor Not schützen, wenn sich bald eine andere Stellung fände.
Eine so gewagte wollte sie freilich nicht wieder annehmen, als Bonne oder Stütze der Hausfrau hoffte sie ein Unterkommen zu finden.
Eben hatte sie ihre Koffer geschlossen; wiederholt nahm sie einen Anlauf, zu ihrem Herrn hinabzugehen, ihn um Verzeihung zu bitten und Lebewohl zu sagen, aber sie brachte es nicht fertig. Sie ging ruhelos im Zimmer umher; ihre zaghaften Schritte tönten bis zu ihm herab und verursachten ihm Herzklopfen.
Jetzt kam sie an dem Spiegel vorbei. Sie blieb stehen und sah prüfend in ihr immer noch todblasses Gesicht. Starr und ernst betrachtete sie ihr Bild.
Das bleiche, edelgeschnittene Gesicht mit dem kleinen, etwas zusammengepreßten Mund, um den sich eine wehmütige Falte gebildet, die braunen, träumerischen Augen, die so ernst, so todestraurig dreinblickten und ihr eigenes Ich so feindselig anschauten, es schien ihr fast fremd.
»Adieu, Jugend, adieu, Schönheit!« kam es wie ein Aufschrei von ihren Lippen.
Sie ordnete ihr Haar, scheitelte es einfach und steckte es am Hinterkopf zu einem Knoten auf.
Der Haube bedurfte sie nicht mehr, die Rolle war ausgespielt.
Die Magd brachte das Mittagessen; sie ersuchte diese, ihren Herrn zu bitten, sich nach Tisch heraufzubemühen.
Ihr Essen blieb unberührt.
Furchtsam und doch sehnsüchtig blickte sie nach der Uhr.
Jetzt pflegte er auszugehen, er konnte jede Minute eintreten.
Endlich erstieg jemand – er – sie kannte genau seinen Tritt, die Treppe, langsam, zögernd, fast schwerfällig.
Ihr Herz klopfte zum Zerspringen; sie wollte sich erheben, um ihn stehend zu empfangen, aber ihre Kraft reichte dazu nicht aus.
Jetzt stand er vor ihr, saß ihr schließlich gegenüber; sie wußte nicht, wie er hereingekommen.
Er sprach, aber sie hörte nicht, was er sagte; sie war wie betäubt.
Endlich gewann sie durch seine wohltuende Ruhe die Fassung wieder, und mit unsicherer Stimme begann sie: »Ich habe Sie zu mir bitten lassen, weil ich Ihnen Rechenschaft schuldig bin.«
*
»Paßt auf,« fiel Edith erregt ein, »jetzt berichtet sie ihm, daß sie sich vor irgend jemand verstecken mußte.«
»In dem englischen Roman, den ich gelesen, war eine Spionin, die sich als Kammerjungfer vermietet hatte.«
»Aber eine solche ist es nicht, die ist nicht schlecht, ich wette, da kommt noch was anderes heraus!«
»Also, ich lese weiter!«
Lillis Rehaugen blitzten, die Unterhaltung war ihr zuwider, denn sie war gespannt, weiter zu hören.
*
»Ich will nicht weitschweifig sein,« fuhr die Wirtschafterin fort, »hören Sie mich an, und Sie werden sehen, daß ich nur in bitterster Not zu dieser Verkleidung gegriffen habe.«
»Aber weshalb kamen Sie gerade auf die unglückliche Idee zu einem Herrn als Wirtschafterin zu gehen? Es gibt doch in Familien genug Stellungen,« warf der Doktor gereizt ein.
»Ganz gewiß, aber hören Sie mich und bitte, glauben Sie mir, wo immer ich mich gemeldet ...«
»Sagen Sie mir, was Sie überhaupt veranlaßt hat, Ihr Elternhaus zu verlassen. Nebensächliches will ich nicht hören.«
»Ich bin die Tochter eines Kaufmanns,« begann sie mit niedergeschlagenen Augen, so leise, daß die Worte wie gehaucht über ihre Lippen kamen.
»Als einziges Kind wurde ich in den ersten Jahren meines Lebens sehr verhätschelt. Zum Lernen spornte mich niemand an, und da ich selbst kaum Sinn dafür hatte, lernte ich auch nichts.
Was ich weiß, kam so natürlich in mich herein oder von der Mutter her, die sehr gebildet gewesen.
In der Schule lernte ich, der jedes System zuwider, so gut wie nichts. Später zog die Sorge in unser Haus, die Mutter wurde krank, und nunmehr mußte ich mich mit dem Hauswesen beschäftigen.
Nun, ich will nach Ihrem Wunsche kurz sein. Eines Tages starben Vater und Mutter, und ich stand allein auf der Welt, einzig vertraut mit der Kunst – zu wirtschaften. Und dann kamen noch so und so viele Leute, die mir erklärten, daß unsere Wirtschaft ihnen gehöre, mein Vater hätte Schulden gehabt.
Man verkaufte mir Haus und Hof und alles was darin war; ich hörte nur noch den Schlüssel laut aufkreischen, den ein Fremder hinter mir herumdrehte, als er das Haus verschloß.
So stand ich da, fremd in der Welt, ohne die Menschen und ihre Lebensweise zu kennen.
In unserer strömenden Zeit darf man kein Veilchen im verborgenen sein, meine Mutter hatte mich viel zu sehr ans Hauswesen gebannt, nur die Sorge und das Seelenleben der Meinen habe ich gekannt, nichts aber gewußt von dem, was in der Welt vorgeht.
Ich verkaufte einige Goldsachen, die mir gehörten, und ging zu meiner einstigen Amme, einer alten Frau, die selbst kaum zu essen hatte; dort gedachte ich zu bleiben, bis sich ein Unterkommen für mich fände.
Ich annoncierte ganz nutzlos um Stellung, bis ich für Annoncen meinen letzten Heller hergegeben. Als Erbteil meiner Eltern blieb mir nur ein überflüssiges Bündel Stolz. Zu einer untergeordneten Stellung konnte ich mich nicht verstehen.
Als ich fast schon gezwungen war, das Gnadenbrot der alten Frau zu essen, las ich unter vielen anderen auch Ihr Inserat.
Auf alle, die in dem betreffenden Blatte standen, hatte ich mich gemeldet und nur von Ihnen erhielt ich Antwort.
Der Ertrinkende klammert sich an einen Strohhalm – ich kam zu Ihnen, das war mein Vergehen!«
Jetzt weinte sie heftig; unaufhaltsam fielen große Tränen in ihr Taschentuch, von Zeit zu Zeit schluchzte sie auf; sie hatte ihren Nerven zu viel zugetraut. – – – – – – – – – –
Auch die Backfische hatten ihre Taschentücher hervorgeholt und fuhren damit über die Augen.
*
Er stand am Fenster und trommelte nervös an die Scheiben. Langsam wandte er sich jetzt ihr zu.
»Weshalb haben Sie sich nicht verheiratet?« Gespannt hing er an ihrem Munde.
Sie hatte die Tränen getrocknet und blickte wie eine büßende Magdalena drein. »Weil mich niemand haben wollte,« klang es einfach, ohne jede Koketterie, zurück.
Wieder eine kleine Pause.
»Ich reise heute abend nach B.,« begann sie endlich, »deshalb ließ ich Sie zu mir bitten, ich wollte mich bei Ihnen verabschieden.«
Sie schritt auf Arnim zu, der mit dem Rücken an einen Schrank gelehnt, sie unverwandt anschaute, und mit flehendem Blick reichte sie ihm die Hand.
»Leben Sie wohl und verzeihen Sie mir mein Eindringen in Ihr Haus, das ich freilich als Zufluchtsort ausgenutzt habe, denn, ich weiß es wohl, meine Leistungen waren sehr gering.« –
Plötzlich fühlte sie ihre beiden Hände erfaßt, und »bleiben Sie bei mir,« tönte es, zum Herzen sprechend, an ihr Ohr.
Ihr ward schwindlig. Durfte sie das Glück, welches sich ihr bot, erfassen?
»Nein, nein, ich will fort,« rang es sich nochmals, wie erstickend, aus ihrer Kehle.
»So gehen Sie mit Gott!« klang es dumpf in beklommenem Tone zurück.
*
Zwei Jahre sind verflossen. Arnim ist von einer langen Reise, welche er nach dem Auslande gemacht, zurückgekehrt.
Ruhig und still, wie er sich sein Leben gestaltet, fließt es dahin.
Nur die Briefe seines Freundes Erwin vermögen ihm ein Interesse abzugewinnen.
Auch heute hatte der Postbote einen solchen gebracht, und immer von neuem liest er eine Stelle, die ihm ganz unfaßbar ist.
Erwin und solche Gedanken! –
»Menschen, die so innig verbunden sind, wie wir, mein Freund, müssen sich über ihr Fühlen und Denken aussprechen. Aber ich gestehe es offen, es wird mir heute schwer, es zu tun. – –
Nun, kurz und gut! Ich gedenke mich, staune nur, du hast ein Recht dazu – ich gedenke mich zu verheiraten.«
Das Blatt entsank Arnims Händen.
»Auch er geht dir verloren,« tönte es in ihm. Dann aber las er weiter:
»Nun wirst du wissen wollen, wem mein Herz entgegenschlägt. Ich habe dir schon oft von der Erzieherin meines Kindes geschrieben. Seit zwei Jahren ist sie in meinem Hause. Ihre Pflichttreue, ihre Hingebung zu meinem Kinde hat sie mich lieben gelehrt.
Was keine vor ihr fertig gebracht, ist unter ihrer sanften Leitung geschehen, Mary ist gesund und aufgeweckten Sinnes geworden.
Schon um dem Kinde eine solche Mutter zu geben, werbe ich um sie.«
Arnim lächelte und beschloß, der Aufforderung seines Freundes, ihn zu besuchen, nachzukommen.
*
Ein Sonnabend! Wie eine silberne Sichel lugte der Mond aus leicht bewegten Wolken. Die Schatten der Bäume hoben sich dunkel von dem hellen Kies der Gartenanlagen ab. Ringsumher war es still, kein Luftzug drang durch die Blätter.
Die Vögel waren schon zur Ruhe gegangen, nur Nachtfalter und Käfer waren noch hörbar. Laut summend schwirrten sie durcheinander. Wie tausend Diamanten glitzerte der Tau auf allen Blumen ringsumher. Kristallrein, in spielender Bewegung, fielen die feinen Wasserstrahlen der Fontäne in das Bassin zurück, so daß sie im Hineinfallen kosend murmelten, als wüßten sie so vieles zu erzählen von Lust und Herrlichkeit, von Jugend und Kraft.
Traumverloren sah eine junge Dame dem Spiele der Strahlen zu.
»Tante Helene, du weinst ja schon wieder,« unterbrach ein liebliches Kinderstimmchen die Stille ringsumher, »du versprachst mir doch, nicht mehr zu weinen.«
»Ich weine auch nicht, mein Kind, sieh nur, ich lächle ja.«
»Aber deine Augen erscheinen so trübe.«
Die junge Dame nahm die Kleine auf ihren Schoß, und des Kindes Aermchen legten sich liebkosend um ihren Hals.
»Erzähle mir eine Geschichte, Tante Hela, bitte, bitte, von Anita, ja?«
»Du hast das Märchen ja schon so oft gehört, Kind.«
»Ach bitte, noch einmal, bitte.«
Hela lächelte. »Also höre!«
»Anita war eine kleine Waise, die die Ziegen und Schafe der Dorfgemeinde hütete. Eines Tages, als sie einer entlaufenen Ziege nacheilte, verirrte sie sich im Walde und wurde dort von der sich herabsenkenden Dunkelheit überrascht.
Aengstlich blickte sie sich nach allen Seiten um; was sollte sie nur anfangen? – Hierbleiben konnte sie nicht, denn es hausten Wölfe im Walde, und weiter zu gehen, vermochte sie vor Müdigkeit und Hunger auch nicht.
Und als sie so ratlos dastand, kam ihr der Gedanke, auf einen Baum zu klettern und dort zu übernachten.
Behende, wie sie war, saß sie bald oben; doch wie sie sich's in den breiten Aesten jetzt so recht bequem machen wollte, erschrak sie nicht wenig, als sie ihren Namen rufen hörte.
Angstvoll schaute sie sich um, – und siehe da, kein menschliches Wesen hatte sie gerufen, sondern ein Vögelchen.
»Anita,« begann es, »du kennst mich nicht, ich aber weiß, daß du die Hirtin aus dem Dorfe bist.
Und weil du vor einigen Wochen mein jüngstes Kindchen gerettet hast, so will ich dir morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, den rechten Weg zeigen und dir helfen, die entlaufene Ziege zu suchen.«
»Ich, dein Kind gerettet?« fragte verwundert die kleine Hirtin.
»Ja, du. Weißt du nicht mehr, wie die bösen Buben auf unser Vogelnest losstürmten, das wir mühselig unter eurem Schindeldach gebaut? – Ich war nach Futter geflogen; als ich heimkam, fand ich mein alleingebliebenes Jüngstes aufgescheucht hin und her hüpfend, zu fliegen vermochte es noch nicht – und ängstlich zwitscherte es mir zu, was es bedrohte.
Und da seh' ich auch schon – o Schrecken! – wie sich die ruchlose Hand nach unserem Nestchen ausstreckt – nach meinem teuren Kindlein greift – da nahte die Hilfe! Du warst dem schrecklichen Knaben, der der Mutter das Kindlein rauben wollte, nachgeklettert und hieltest ihm die Hand fest, bis ich aufjubelnd mein Kleines und mich in Sicherheit gebracht hatte.
Und deshalb, gutes Mädchen, rechne auf meine Dankbarkeit.«
Hierauf sang das Tierchen seinen Kleinen, die durch Anitas Anwesenheit sehr erregt schienen, ein Wiegenlied, und dann schlummerten sie alle ein. –
Ganz früh am Morgen wurde es lebendig im Walde. Von allen Seiten stimmten die Vögel ihre Lieder an, flogen zueinander, schienen sich gegenseitig zu begrüßen und sich etwas zu erzählen, was Anita freilich nicht verstand.
Jetzt kam das Vöglein, das sie gestern abend angesprochen hatte, auf sie zu.
»Ich höre soeben,« begann es, »daß deine Ziege sich unweit des Sees ein Lager aus Moos zurecht gemacht hat. Willst du sie holen?«
»Ei, gewiß!«
Schnell stieg Anita vom Baum, sammelte sich zunächst einige Beeren, um ihren großen Hunger zu stillen, und machte sich dann auf den Weg nach dem See.
Aber – als sie hinkam, fand sie nur noch die Hörner der Ziege und das blutige Fell, woraus sie erkannte, daß ein wildes Tier dagewesen und ihre Ziege gefressen hatte.
Da begann die Aermste jämmerlich zu weinen, denn nun durfte sie es nicht wagen, jemals wieder in ihr Dorf zurückzukehren, weil sie sich vor der Strafe, die ihrer harrte, fürchtete.
Traurig kehrte sie zu dem Baume zurück, auf dem sie übernachtet hatte, und rief dem Vöglein zu, ob es keinen Rat für sie wüßte.
Aber das antwortete nicht, – es war nach Futter für seine Kleinen ausgeflogen.
Wohl blickten die anderen Vögel auf sie nieder, die vermochten aber nicht zu sprechen.
Einige von ihnen flogen jedoch sehr eilig von dannen, woraus Anita schloß, daß sie ihre Freundin holen würden.
So war es auch! Und nun erzählte das sprechende Vöglein, es wäre im Dorfe gewesen, der Bauer sei arg erzürnt, daß die Herde nicht heimgekommen, und habe gedroht, Anita in den Keller zu sperren und sie tüchtig durchprügeln zu lassen.
Das arme Kind weinte hierauf bitterlich, aber das Vögelchen tröstete es und meinte, Anita solle ihm folgen, es würde vorausfliegen und sie zu einer gütigen Fee führen, die ihr schon helfen würde.
»Diese Fee,« fuhr das Vögelchen fort, »nimmt sich aller kranken Tiere an. Ich bin selbst, als ich meine Flügel verstaucht hatte und nicht fort konnte, wochenlang bei ihr verpflegt worden. So lange, bis ich vollständig geheilt war. Und von der Fee habe ich auch das Sprechen gelernt.«
Anita folgte nun dem Vöglein, das einen einsamen Weg einschlug, der tief in den Wald hineinführte.
Endlich, nach langer Zeit, als Anita vor Müdigkeit schon nicht mehr weiter konnte, tauchte ein herrliches Schloß auf.
Es war ganz aus weißem Marmor erbaut und ruhte auf goldenen Säulen.
Und nun führte unser Vöglein Anita durch einen wundervollen Garten.
Dort gingen allerlei Patienten spazieren.
Es waren Bären, Wölfe, Kaninchen, Hasen, Vögel und alles durcheinander, und keines tat dem anderen ein Leid, denn die Fee wachte über alle. Kein Tier durfte ein anderes verletzen.
Nun standen sie vor einem hohen Portal, wo ein weißes Meerschweinchen, das Kammerdienerin der Fee war, fragte, was sie wünschten.
»Ich bringe hier ein kleines Mädchen, das keine Heimat hat,« entgegnete das Vögelchen, »und bitte um Brot und Aufnahme für sie.«
»Tut mir leid,« sprach das Meerschweinchen, »aber für die Kleine kann ich nichts tun, die Fee hat streng verboten, ein Menschenkind ins Schloß zu lassen.«
Da begann Anita wieder zu weinen, denn sie war müde und hungrig zum Umsinken.
Plötzlich ertönte ein herrlicher Gesang; das Vöglein, das sehr klug war, erhob seine Schwingen und flog sogleich an das Fenster, aus dem die Stimme drang.
Hier pickte es mit dem Schnabel an die Scheibe, worauf Anita ein wunderbar schönes Mädchen das Fenster öffnen sah, das unser Vöglein hineinnahm.
Mit klopfendem Herzen harrte Anita nun auf das Kommende.
Und siehe da!
Die Schloßtür öffnete sich, und heraus trat die bildschöne Fee, schritt auf das verlassene Kind zu, nahm es bei der Hand und sprach:
»Die Menschen sind zumeist nicht gut, und deshalb habe ich Befehl gegeben, daß kein Menschenkind bei mir eingelassen werden soll.
Das Vöglein hat mir aber gesagt, daß du sein kleines Töchterchen den bösen Buben entrissen habest, und daß du täglich für Futter sorgtest, als Weg und Steg verschneit war. Daraus ersehe ich, daß du ein gutes Herz hast, und nehme dich deshalb gern bei mir auf.«
Damit führte die holde Fee Anita in ihren Marmorpalast, und hier verblieb sie ihr lebelang.«
*
»Und hier verblieb sie ihr lebelang,« wiederholte das Kind.
»Kommt nicht jemand?« – Die Kleine richtete sich hoch auf und horchte.
Der Gartensand knirschte unter leichten Schritten, aber sie verliefen sich weiter und weiter.
*
»Arnim! – Bist du es wirklich?«
Mit offenen Armen schritt der Professor seinem Freund entgegen.
»Willkommen, willkommen, das nenne ich eine Ueberraschung. Sitze hier bei meinen Büchern, vergesse alle Welt darüber, da tut sich die Tür auf, und der liebste Kamerad tritt herein.« –
Nun saßen die Herren am Tisch und plauderten von allem möglichem. »Und jetzt,« begann Arnim, »erzähle mir von deiner Auserwählten. Bist du bereits verlobt?«
»Wo denkst du hin, – ich habe mich ihr noch nicht erklärt.«
»Auf dein Wohl!« Arnim erhob sein Glas und trank dem andern zu.
»Sag' mal, Erwin – im Garten hörte ich eine Stimme, die mir bekannt vorkam, wer saß dort drüben in der Laube?«
»Daß ich nicht wüßte, hast du dich nicht getäuscht? – Vielleicht war es bei den Nachbarn.«
»Doch nicht, jemand schien etwas zu erzählen.«
»Dann wird es Fräulein Hela gewesen sein.«
*
Der Herr Professor pflegte sich selten seinen Hausgenossen zu zeigen. Man war gewöhnt, ihn in seinem Arbeitszimmer zu wissen, nur hin und wieder erschien er zu Tisch.
Heute war das Fräulein daher nicht wenig erstaunt, ihres Zöglings Vater bei sich eintreten zu sehen.
Sie saß am Fenster und nähte an einem Kinderkleidchen. Mary spielte zu ihren Füßen.
Freudig sprang das Kind auf und eilte dem Vater entgegen.
»Wären Sie geneigt, mich einige Minuten anzuhören, Fräulein Birkwald?« hub der Professor an, nachdem er seines Kindes stürmische Liebkosungen lächelnd abgewehrt hatte.
»Ich möchte Ihnen eine Mitteilung machen. Mary soll indessen in den Garten gehen, ich habe gestern abend den Besuch meines Freundes bekommen, der die Kleine zu sehen wünscht.«
Bald darauf saß er, nachdem er Mary zu seinem Freund gebracht, Hela gegenüber, und bat sie in beredten Worten, sein Weib zu werden.
Sie war maßlos erstaunt, und es dauerte lange, ehe sie antworten konnte.
»Ihr Antrag ist sehr ehrend für mich, Herr Professor,« entgegnete sie, »und es ist sehr verlockend, Mutter des Kindes, das ich unbeschreiblich liebe, zu werden; aber ich bin ein unglückliches Geschöpf, das nicht zu beglücken versteht. Lassen Sie mich nur so durch die Welt ziehen, wie ich die Wanderung angetreten habe. Einsam und allein.
Vielleicht verstehen Sie mich ganz, wenn ich Ihnen sage, daß ich erst nach dem Tode meiner Eltern es lernen mußte, mich dem Leben anzupassen. Das war bitter und hat mich hart gemacht.
Zu Hause habe ich Not und Kummer gesehen, aber ich ahnte trotzdem doch nicht, wie viel schwerer alles in der Fremde zu tragen sei.
Nur einmal in meinem Leben bin ich in einer Stellung gewesen, wo man ein persönliches Interesse an mir hatte. Nur einmal hat mir jemand gesagt, ich möge unter seinem Dache bleiben – aus Mitleid.
Das konnte ich nicht, weil sein Mitleid Liebe in mir erweckte, und wir nicht zu einander paßten. So wanderte ich weiter, noch einsamer wie ich gewesen, und noch ärmer, weil sich mein Herz nach dem sehnte, den ich vergessen mußte.
In Ihrem Hause fand ich Ruhe und Befriedigung in der Arbeit. Lassen Sie mir diese, möge alles so bleiben, wie es ist. Als Gattin würde ich Ihnen gewiß nicht genügen, denn ich kann Ihnen nur Verehrung, nie aber wärmere Gefühle entgegenbringen.
Immer will ich für das Kind da sein, und wenn ich Ihnen Freundin sein dürfte – ich fühlte mich sehr beglückt und sehr erhoben.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür.
»Tante Hela, sieh doch die schöne Puppe, die der Onkel mir mitgebracht hat.«
Das Kind lief mit diesen Worten auf die junge Dame zu und hielt triumphierend ihr Geschenk in die Höhe.
Hela zog in nervöser Hast die Kleine an ihr Herz und verbarg, wie um sich zu schützen, ihr Antlitz an deren Brust.
Denn die Gestalt, die dem Kinde gefolgt, ließ sie erbeben.
Da klang die Stimme des Hausherrn: »Erlauben Sie, Fräulein, daß ich Ihnen meinen Freund vorstelle, – – – –«
*
Nach Tisch fragte der Professor ohne irgend welche Einleitung seinen Freund:
»Ihr kanntet euch längst?«
»Jawohl,« klang es monoton zurück. »Nach dem, was du mir erzähltest, bin ich sogar derjenige, dem sich ihr Herz zugeneigt hat.«
»Und das muß ich jetzt erst erfahren?«
»Wußte ich denn den Namen deiner Auserwählten? Konnte ich ahnen, daß Fräulein Birkwald, die einmal meine Wirtschafterin gewesen, in deinem Hause weilt?«
*
»Paßt auf, paßt auf, ich weiß was jetzt kommt,« unterbrach Edith.
»Ich auch,« fügte die sanfte Ilse ein, »jetzt wird –«
»Du, laß mich weiter lesen,« bat Lilli.
*
Der Professor ging im Zimmer erregt auf und nieder, nach einer Pause begann er: »Also sie ist es, von der du mir damals geschrieben, sie, die du nicht vergessen konntest. Ich will deinem Glück nicht im Wege stehen, führe du sie heim. Beglücke sie so, wie sie es verdient. Ich lasse euch Mary und gehe vorerst auf Reisen.«
*
»Nun, mein Lieber, willst du denn dein langweiliges Schreiben noch immer nicht aufgeben? Trenne dich doch endlich von deinen Büchern, du wolltest mir doch die Guirlanden anmachen helfen!
In einer Stunde muß der Zug hier sein, der unseren lieben Freund bringen soll. Sieh nur die schönen Rosen, ich habe sie für Mary gekauft, sie soll sie ihrem Vater überreichen, wenn er ankommt.«
»Wie er sich über das Kind freuen wird!«
»Es ist unglaublich gewachsen in den drei Jahren, nicht Arnim?«
»Ja, mein Lieb, es gedeiht eben alles unter deiner Obhut.«
»O du Schmeichler!« Die junge Dame schlang ihren Arm um den Hals ihres Mannes und schmiegte sich zärtlich an ihn.
»Auf derselben Stelle, Liebste, haben wir vor Jahren gestanden, und meine »verwunschene« Prinzessin rief mir daselbst entsetzt »nein, nein« zu, als ich sie bat, bei mir zu bleiben.«
Die junge Frau errötete.
»Ich hätte mich auch gar nicht hierher wagen sollen,« begann sie schalkhaft lächelnd, »wo alle wissen, daß ich dich – betrogen. Ich bewundere deinen Mut, mich nach allem, was vorgefallen, hier als deine Gemahlin zu präsentieren. In den Augen derer,« und sie zeigte mit ihrer weißen Hand nach der Straße, »bleibe ich ja doch nur deine – Wirtschafterin.«
»Was tut das, in den meinen bist und bleibst du das liebste und beste Geschöpf der Erde.
Was gehen uns die Leute an? Das Glück wohnt ja in unserem Hause. Das sagte ich dir damals schon, als du mich batest, einen anderen Wohnsitz zu nehmen. Bist du hier nicht glücklich?«
»Ueber alle Maßen,« sagte sie strahlend.
»Doch schau, – da biegt ein Wagen um die Ecke – ja, wirklich! Das ist unser Freund Erwin!«
*
Eine kurze Zeit ließen die jungen Mädchen das Gelesene auf sich einwirken.
»Na, daß die sich noch kriegten, das wußte ich!« begann Ilse.
»Hat's dir gefallen?« wandte sich Herta an Lilli.
»Ja, nun wollen wir das Ganze kritisch beleuchten.«
»Nee, lieber elektrisch,« entgegnete Ilse, erhob sich und drehte das Licht auf, denn es war bereits dämmerig geworden.
Lilli stellte eine Schale Obst auf den Tisch. Herta griff nach einer Birne, die sie ungemein zierlich schälte, und Edith meinte beim Zerlegen eines Pfirsichs:
»Mir hat das Märchen, das die Hela dem Kinde erzählt hat, am besten gefallen.«
»Ja, mir auch,« pflichtete Herta bei.
»Bitte, reiche mir doch mal die Nüsse,« sagte Ilse und griff danach, »ich knacke so schrecklich gern Nüsse.«
»Das glaube ich, Advokatentochter,« lachte Lilli.
»Möchtest du mal auteln?« fragte ganz unmotiviert Edith ihre Nachbarin.
»Nee, aber zeppelinen.«
»Hochfliegend genug bist du dazu,« spöttelte Edith.
»Kann ich auch!« gab Herta zurück und warf das Köpfchen hoch.
»Können wir alle!« übertrumpfte Ilse, »aber Kinder, es geht auf sieben Uhr, ich beantrage Schluß des Kränzchens.«