Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.
Finstere Wolken ziehen sich zusammen.

Während bei den drei Kränzchenschwestern das Leben nach wie vor ungetrübt geblieben, zogen sich über die vierte – über Edith – finstere Wolken zusammen.

Zunächst sorgte sie sich um ihren Vater, bei dem sich eine auffallende Nervosität eingestellt hatte.

Er war gar nicht wiederzuerkennen. Der sonst so gleichmäßig Liebenswürdige konnte bei der geringsten Kleinigkeit aufbrausen, war traurig und hatte vollständig seinen Gleichmut verloren.

Natürlich litt ihre Mutter auch sehr darunter, und bei Tisch, wo sich alle zusammenfanden, herrschte nur zu oft trübe Stimmung.

»Du müßtest mehr ausruhen,« riet Frau Waldenburg ihrem Manne.

»Wird schon werden,« antwortete er seufzend, erhob sich und verließ das Gemach.

»Vater arbeitet zu viel, und jetzt, wo die Arbeiter nur zu oft streiken, gibt es viel Aerger,« erklärte die Mutter ihrer Tochter.

Herr Waldenburg war Fabrikbesitzer; mehr als hundert Personen fanden bei ihm ihr Brot. Ingenieure, Buchhalter und sonstiges höhere Personal nicht gerechnet. Wenn Frau Waldenburg aber glaubte, daß die rastlose Tätigkeit ihres Mannes seine Nerven erschüttert hatte, so irrte sie sich sehr. Sie konnte freilich den Grund der Tatsache nicht erraten. Herr Waldenburg war zugleich Aufsichtsrat einer Bank; diese hatte vor kurzem falliert und die Aufsichtsräte mußten mit ihrem Vermögen haften. Dadurch war das Betriebskapital des Fabrikherrn furchtbar zusammengeschrumpft, und es galt, außer Geschäftsspesen, die enorm waren, den herrschaftlichen Haushalt aufrecht zu erhalten.

Herr Waldenburg kämpfte redlich gegen alle Widerwärtigkeiten und machte verzweifelte Anstrengungen, das alte Geschäftshaus zu halten.

Er nahm Hypotheken auf Haus und Fabrik, aber durch den Bankkrach war auch eine stille Geschäftszeit eingetreten. Während sonst Bestellungen in Massen einliefen, stapelte sich jetzt die fertiggestellte Ware auf, und es kam kein Geld ein.

Um die Löhne und Gehälter auszahlen zu können, mußten Wechsel ausgestellt werden, und wenn der Einlösungstag herankam und kein Geld flüssig war, stieg die Verzweiflung des angesehenen Kaufherrn.

»Freunde in der Not
Gehen hundert auf ein Lot.«

sagt ein altes Sprichwort.

Sobald man zu munkeln anfing, daß Herr Waldenburg große Verluste gehabt, war ein jeder darauf bedacht, nicht »angepumpt« zu werden.

Herr Waldenburg war auch zu vornehm dazu. Solange es anging, verkaufte er, ohne daß es seine Gattin oder Tochter merkten, dieses und jenes von seinem Besitz, um seinen Verpflichtungen nachkommen zu können. Schließlich wuchsen ihm die Schulden über den Kopf; er verlor die Fassung, die Besinnung, und in einem verzweifelten Augenblick griff er zur Waffe und erschoß sich.

Da stand nun die arme Edith mit der ahnungslosen Mutter vor dem Ruin, betrauerten vor allem tief den Verlust des geliebten, braven und herzensguten Mannes und Vaters und sahen ihr schönes Haus und alles, was dazu gehörte, im Konkurs.

In ihrem tiefen Schmerz, der das jugendliche, empfindsame Gemüt zu zermalmen drohte, stand einzig Ilse ihrer Kränzchenschwester Edith, der sie die Treue geschworen, bei. Die anderen Freunde der Familie vermochten sich einesteils in ein solches Unglück nicht hineinzudenken, andererseits fürchteten sie, mit Besuch lästig zu fallen, oder aber sie wollten sich nicht verstimmen lassen. Vielleicht waren sie auch zu gleichgültig gegen das Unglück anderer.

Frau Waldenburg empfand es besonders bitter, daß Leute, denen ihr gastliches Haus jahrelang offen gestanden, sie jetzt in ihrer Verzweiflung mieden.

Die Wenigen, die kamen, sprachen leere Worte zu ihr, mit Rat und Tat ihr beizustehen, bot sich niemand an.

Zum Glück besaß die hart geprüfte Frau noch ein kleines Privatvermögen, das ihr aus der Konkursmasse ausgehändigt wurde.

Ilse hatte ihre Eltern gebeten, ihre Freundin und deren Mutter einstweilen in ihr Haus aufzunehmen, bis diese sich entschieden, wohin sie zu gehen gedachten, und sie willigten gern ein. Herr Rechtsanwalt Lutzner ward auch Rechtsbeistand der beiden Damen.

Bitterböse war Ilse auf Herta, die sich gar nicht sehen ließ.

»Ach was,« sprach sie hart, »Edith und ihre Mutter haben Staat genug gemacht, hätten sie doch nicht so großartig gelebt. Eine Villa, Equipagen und was noch alles und nichts dahinter!«

»Pfui!« schalt Ilse, »wie kannst du so sprechen! Sie haben es sich doch leisten können; die armen Frauen wußten doch nicht, was ihnen bevorstand, sie ahnten ja den Vermögensrückgang nicht. Und nun sind die Schwergeprüften auch noch in tiefster Trauer um Mann und Vater. Wie mag es in der Seele des Armen ausgesehen haben, ehe er seine Zuflucht zum Selbstmord nahm! Komme nur morgen zu uns, damit du Edith dein Beileid aussprechen kannst. Es muß sie ja furchtbar demütigen, wenn du, die Nächste, die Kränzchenschwester, mit dem Medaillon:

»Treu sein sei unser Panier!«

kneifst.«

»Werde es mir noch überlegen,« trotzte das eitle mitleidslose Ding, aber trotzdem kam sie und brachte einige Höflichkeitsphrasen über die spröden Lippen.

Von Lilli kamen überschäumende Briefe an Edith, »am liebsten wäre ich bei dir, teilte deinen Schmerz und sähe zu, wie zu heilen wäre,« schrieb sie. »Aber so weit, so weit bin ich von dir getrennt. Schreibe mir nur bald, welche Aussichten Ihr für die Zukunft habt, und was Du zu unternehmen gedenkst; wir Kränzchenschwestern werden unseren Wahlspruch:

»Treu sein sei unser Panier!«

nicht Lügen strafen.«

Unter heißen Tränen hatte Edith den Brief gelesen. Sie seufzte schmerzlich: »Was wißt ihr, was wußte ich bisher vom Leben!« »Treu zu dir stehen!« So wohl es ihr auch tat, was konnten ihr die Freundinnen wohl helfen? –

Trostlos sah das junge Mädchen in die Zukunft, wie ein schwerer Vorhang hatte sich das Verhängnis herabgesenkt und ließ keinen Ausblick frei.

Neben der Trauer um den liebevollen Vater tauchte die Angst vor der Zukunft auf. Wie sollten die verwöhnten Damen sich ohne herrschaftlichen Haushalt, ohne Bedienung zurechtfinden?

Frau Waldenburg hatte bisher bei Toiletten usw. nie zu rechnen gebraucht, es war alles im vollen da. Jetzt war man schon bei der Trauer darauf bedacht, nur das Allernotwendigste und wenigst Teure anzuschaffen.

Im kleinen wie im großen, überall wurden die Wunden, die das Schicksal ihnen geschlagen, immer von neuem aufgerissen, so daß Frau Waldenburg sowohl als Edith an der Stätte, wo ihr Stern versunken, nicht bleiben wollten; fort, nur fort, rief es in ihnen.

Der Rechtsanwalt riet zu diesem und jenem, schlug verschiedene Unternehmungen vor, aber noch war das Gemüt der Frauen zu tief verwundet, um Entschlüsse fassen zu können. Schließlich gingen, nach Ueberlegungen hin und her, Mutter und Tochter zunächst nach einem kleinen Städtchen in der Mark, wo sie weitläufige Verwandte hatten.

Nur Herr und Frau Rechtsanwalt Lutzner und Ilse gaben ihnen das Geleit.

Herta und deren Mutter waren »leider verhindert«.

*

Bitter schwer fanden sich Mutter und Tochter in die veränderten Verhältnisse.

Wohl waren die Verwandten darauf bedacht, soweit es ihre bescheidene Lage gestattete, ihnen den Aufenthalt angenehm zu gestalten, allein die ganze Umgebung und die kleinstädtische Lebensweise schienen besonders Frau Waldenburg kaum erträglich.

Wenn sich die Dämmerung herabsenkte, die dunkel daliegenden Straßen, die unbeschäftigten Damen sie angähnten, so lastete die fremde Stadt erdrückend auf den trauernden Gemütern, und es stiegen all die Schreckensbilder auf, die sie durchlebt hatten.

In Edith hätte jetzt niemand mehr das fröhliche junge Mädchen erkannt, das sie noch vor kurzem gewesen. Das Leid hatte sie gereift, weit über ihr Alter hinaus.

»Mutter, hast du denn je geahnt, daß alles so kommen könnte,« sagte heute mit bebenden Lippen Edith zur Mutter, und sah, die Augen voll Tränen, zu Frau Waldenburg auf, die in sich zusammengesunken in einem Sessel lehnte.

»Nein, Kind, ich war so ahnungslos wie du.«

»Ach Gott, Mutter, hätten wir doch dem armen Vater zur Seite stehen können! das Bewußtsein wird mich ewig bedrücken, daß ich ihm für so viel Liebe, die er mir entgegengebracht, nicht eine schwere Stunde erleichtern konnte. Ob ich es je überwinden werde?« ...

Jetzt weinte Edith heftig, Schluchzen erstickte ihre Stimme.

In dem großen, unwohnlich eingerichteten Zimmer breitete sich gespenstig die Dämmerung aus. Mutter und Tochter saßen aneinandergeschmiegt beisammen, und ihre Augen schweiften in die graue Ferne. All die Zukunftspläne, die sie geschmiedet hatten, lagen in Trümmern und weit von ihnen, auf dem Friedhof, ruhte der geliebte Vater!

Wie war doch alles so trostlos, was über sie gekommen. Noch vor kurzem schien ihnen das Leben so wonnevoll, und nun senkten sich dichte Schatten herab und lasteten bleiern schwer auf den Gemütern.

So gingen Tage und Wochen dahin.

»Werden wir ewig zu Gast sein, soll es immer so bleiben?« – Ohne Aussprache dachten Mutter und Tochter dasselbe. Und während Frau Waldenburg sich in Träumereien verlor, reiften in Edith Entschlüsse.

So durfte es nicht bleiben, sie mußte etwas unternehmen, und zwar so schnell wie möglich.

Auf einem Spaziergang, den sie heute mit der Mutter unternommen, begann sie:

»Mutter, ich mache dir einen Vorschlag; geben wir unsere Abhängigkeit so schnell wie möglich auf! Hier kommen wir noch tiefer herunter. Das Bewußtsein, den Verwandten sozusagen auf der Tasche zu liegen, erdrückt mich. Ich habe mit dem Konkursverwalter korrespondiert. Du erhältst noch aus der Masse dein eingebrachtes Heiratsgut. Ist es auch nicht viel, so reicht es doch zur Uebersiedelung nach Berlin und für die erste Zeit zum Lebensunterhalt. Dort nehmen wir eine kleine Wohnung, ich suche mir irgend einen Verdienst, ich könnte ja Musik- und Sprachunterricht geben, und so werden wir uns schon weiter helfen. Allein sein und unabhängig, das ist die Hauptsache, Mutter.«

Frau Waldenburg unterdrückte Tränen.

»Wir haben die Rollen vertauscht, Kind, anstatt daß du an mir, deiner Mutter, einen Halt haben solltest, bist du die Führende. Mein tapferes Mädchen, du bist so starkgeistig, wie es dein Vater in seiner Jugend gewesen – gut denn, ich billige deinen Vorschlag.« – – –

Ein Jahr später sah es noch trüber im Herzen der armen Edith aus; blühte, als sie nach Berlin kam, noch die Hoffnung in ihr, ihre Kenntnisse verwerten zu können, so sank jetzt ein Hoffnungsstern nach dem andern. Viele tausend gebildete Mädchen machten mit ihr den Wettlauf um einen Verdienst, und immer schien sie die am wenigsten Begünstigte.

Auf unzählige Inserate meldete sie sich, doch nur zu oft hörte sie die Frage: »Haben Sie ein Examen gemacht?«

Oder wenn sie sich noch so früh zum Aufbruch rüstete, um ein Engagement zu erhalten, so waren ihr doch schon andere zuvorgekommen, und sie hörte mit Bitterkeit im Herzen: »Stelle schon besetzt.«

Schließlich, als das kleine Kapital der Mutter immer mehr zusammenschmolz, sagte sich das junge Mädchen, jetzt muß ich annehmen, was immer es sei, und eines Tages war sie in ein Ausstattungsgeschäft als Verkäuferin angestellt, wohin sie durch die Empfehlung einer Dame gekommen war. Und auch diese Stellung erhielt sie nur, weil sie sprachkundig war, denn es war ein internationales Publikum, das sich zumeist die Brautausstattungen in dem weltbekannten Magazin aussuchte.

Wohl war es für ein in Reichtum und Vorurteilen großgewordenes Mädchen unendlich schwer, sich in die Rolle einer Bedienenden hineinzufinden, aber den Verhältnissen mußte Rechnung getragen werden, es half nichts,

»Durch!«

hieß es, und so fand sich Edith verhältnismäßig schnell in ihre neue Lebensstellung hinein.

Ab und zu erhielt sie Briefe von den Kränzchenschwestern. So wußte sie, daß Ilse ihr Sprachlehrerinnenexamen bestanden hatte, daß es Lilli gut erginge und Herta sich wohl bald verloben würde. Herbert studierte in Berlin. Er besuchte die Damen öfters. Zuweilen machten sie Sonntags einen Ausflug oder besuchten Museen.

Wenn Herbert kam, brachte er stets etwas Frohsinn in das stille Heim der Damen, erzählte Neuigkeiten, besprach Tagesereignisse, und wußte sie immer von ihren trüben Gedanken abzulenken.

Ueber Herta, die sich von den Kränzchenschwestern ganz entfernt hatte, goß er seinen Spott aus, nannte sie eine oberflächliche, eitle, kleine Person und konnte ganz böse werden, wenn Edith sie noch verteidigte, wußte er doch am besten, wie lieblos sie sich ausgesprochen, als das Unglück über Waldenburgs hereingebrochen war.

Und es kam der Tag, wo Edith sich selbst davon überzeugen konnte, daß Hertas Treueschwur schmählich in die Brüche gegangen war. Und es war dies ein bitterböser Tag und wühlte all das Leid, das das arme Mädchen durchlebt, wieder auf, und drohte ihren Lebensmut zu brechen.

Auch Frau Waldenburg blieb dieser Tag unvergeßlich! Wie immer, nach Ladenschluß, wartete sie auf ihre Edith. Es schlug bereits neun Uhr, und sie war noch nicht zu Hause. Besorgt saß die Mutter vor dem gedeckten Tisch, das Abendbrot blieb unberührt. Der Tee war schon erkaltet.

Aengstlich schritt Frau Waldenburg auf und nieder, stellte sich ans Fenster, um die Erwartete zu erschauen. Endlich! Die Korridortür wurde geöffnet.

»Guten Abend, Mama!«

Die Stimme klang gepreßt, und die ohnedies besorgte Mutter blickte beklommen auf ihr Kind. Der spärlich erleuchtete Korridor ward durchschritten, im Zimmer erschrak Frau Waldenburg über das Aussehen ihrer Tochter.

»Mein Gott, was ist geschehen? – Was ist passiert? – Du hast geweint!«

Edith rang tapfer mit den aufquellenden Tränen, allein sie zurückzuhalten, war sie nicht imstande.

»Ach, Muttchen,« schluchzte sie, – »ich bin so beleidigt – so erniedrigt – so ganz ins Herz getroffen worden,« und das Taschentuch vor das Antlitz haltend, warf sie sich weinend aufs Sofa.

»Mein Gott, mein Gott, wieso denn? – Sprich doch, mein Kind, wer hat dich beleidigt, – was ist geschehen?«

»Nichts, nichts,« wehrte Edith ab. »Ich werd's schon sagen, aber, bitte, laß mir Zeit ...«

Es klingelte, Frau Waldenburg öffnete, da stand Herbert Lutzner.

Bestürzt sah er in das blasse Gesicht der Dame.

»Ist Ihnen nicht wohl, gnädige Frau?«

»Doch, bitte, treten Sie ein ...« Sie öffnete die Tür zum Empfangszimmer. »Einen Augenblick, ich bin gleich wieder da ...«

»Aber ich scheine zu stören, ist Edith nicht zu Hause?«

»Doch, Herr Lutzner. Sie verzeihen, wenn ich Sie vorerst nicht ins Wohnzimmer bitte, Edith kam weinend nach Hause, noch weiß ich nicht, was vorliegt, sie ist ganz erschöpft und außer sich.«

»Dann müssen Sie mir schon gestatten, nach Ihrer Fräulein Tochter zu sehen, gnädige Frau.« Damit eilte der treue Freund ihr voran ins Wohnzimmer.

»Nun, liebe Kränzchenschwester, 'n Regenstrom? – Was hat es denn gegeben, heraus mit der Sprache!«

»Sie ist beleidigt worden,« sprach die Mutter für Edith, die immer noch schluchzte.

Herberts Nasenflügel bebten. »Beleidigt? – Ilsens Kränzchenschwester beleidigt? – Da fahre ich ja gleich mit einem Donnerwetter dazwischen! – Wer hat es gewagt? – Edith, liebes Fräulein Edith, so reden Sie doch.«

Er ergriff ihre Hände und redete ihr freundlich zu.

»Nun weinen Sie sich erst aus, wenn's nicht anders geht, und dann wehe dem, der Ihnen, mein tapferes Mädel, wehe getan!«

Endlich war Edith so weit beruhigt, daß sie erzählen konnte.

»Ich war dabei, einer Dame Points vorzulegen, die eine Matinee zieren sollten, da öffnet sich die Ladentür, und herein tritt – Herta, gefolgt von einem Offizier, der ohne Zweifel ihr Bräutigam ist.

Ich werde rot vor Freude, will ihr zunicken – da trifft mich ein eisiger Blick. Hochmütig geht sie an mir vorbei und wendet sich an eine Kollegin. Inzwischen habe ich meine Kundin expediert. Der Chef tritt zu Herta, begrüßt sie unter tiefsten Bücklingen, spekulierend, daß die reiche Braut ihre Ausstattung bei ihm bestellen wird, zeigt und lobt ihr alles ein, und ruft mir, die ich mich am liebsten in einen entfernten Winkel verkrochen hätte, zu:

»Fräulein Waldenburg, bitte, bringen Sie mal den Karton mit irischen Entredeux her.«

Meine Hände zittern, ich muß ihr, der ehemaligen Standesgenossin, dies und jenes zeigen, und sie hat das Herz, mich hochmütig anzureden:

»Dort drüben, Fräulein, habe ich einen Brautschleier hängen sehen, bitte, bringen Sie ihn mir zur Ansicht.«

Der Chef schiebt ihr einen Sessel hin. Als ich gehe, um das Prachtstück – echte Points, Preis 1200 Mark – zu holen, verläßt mich meine Kraft.

»Warum, warum, legt mir das Schicksal nur Demütigungen auf,« fährt es durch meinen Sinn.

»Das dauert ja ewig, Fräulein,« ruft mir der Chef zu, »was ist denn das? – Wo bleiben Sie denn?« Und der Herr Leutnant schnarrt:

»Ist denn kein anderes Fräulein zur Bedienung hier? – Wir haben wenig Zeit!«

Mutter, wie mich das geschmerzt – ich kann es nicht sagen; ich mußte lange, lange herumgehen, bevor ich mich so weit beruhigte, nach Hause kommen zu können.

Weshalb mußte ich gerade heruntersteigen und sie hochsteigen!«

Frau Waldenburg würgte an Tränen.

»Ich gehe auch nicht mehr ins Geschäft, vielleicht kommen noch die anderen und kennen die Verkäuferin nicht mehr, die ihre Kränzchenschwester gewesen.« Wieder erstickten Tränen ihre Stimme.

Herbert ergriff Ediths Hände: »Armes Ding, freilich tut das weh, aber glauben Sie mir, Sie stehen doch weit höher als die dumme Pute. Wären Sie an ihrer Stelle gewesen, Sie hätten gewiß so viel Herzenstakt gehabt, ihr die Situation zu erleichtern. Aber es ist noch nicht aller Tage Abend – die zukünftige Frau Leutnant kann sich noch mal recht tief vor Ihnen verneigen. – Kopf hoch, Fräulein Edith, wissen Sie nicht, wie es heißt?

»Wenn dich das streitige Leben zaust,
Straffe die Schulter, balle die Faust.«

Und nun lassen Sie sich das Abendessen nicht vergällen, und dann reden wir von etwas anderem.«

Wenn auch die freundlichen Worte des jungen Mannes beruhigend wirkten, so blieb beiden Damen das Herz doch recht schwer.

Traurig gingen sie denn auch spät am Abend zur Ruhe.

Frau Waldenburg war selbst stets etwas hochmütig gewesen, immer hatte sie den Menschen nach seiner Stellung behandelt. Nun das andere bei ihrem eigenen Kinde taten, traf es sie tief und schmerzlich. Ihr Stolz litt namenlos.

»Ich habe es ja gleich nicht gewollt,« sprach sie im Bett zu der neben ihr liegenden Tochter, »eine derartige Stellung durftest du nicht annehmen –«

»Ja, ja, Mutter, mir ist es auch nicht so leicht geworden, aber was blieb denn übrig? – Wir müssen doch leben, und dein Geld ist ...«

Weiter kam Edith nicht, ihre Mutter begann so herzbrechend zu weinen, daß sie erschrocken aufsprang. Sie setzte sich auf der Mutter Bett.

»Nicht weinen, Liebe, Gute, nicht weinen! Ich bin wirklich ein schwaches Herz, weshalb brauchte ich dich so zu betrüben, hätte es eben herunterschlucken müssen, das törichte Weh. Und wenn ich es recht bedenke – – was ist denn eigentlich Großes passiert? – Eine treulose Freundin von ehedem hat Edith Waldenburg, das Ladenfräulein, nicht mehr kennen wollen! Nun gut, deshalb geht die Welt nicht unter. Herbert hat recht, wer weiß, ob ich nicht noch über Fräulein Herta triumphieren werde! Liebe, gute Mutter, sei getrost, laß es gehen, wie es ist, mache dir keine Sorgen, es wird auch für uns noch mal wieder hell werden. Und jetzt, schlafe, mein Mütterchen, ich will es auch tun, und morgen wandere ich wieder nach der Leipzigerstraße und verkaufe Spitzen.« Und sie lächelte mit Tränen im Auge und küßte die Mutter.

Bald darauf lag Edith in tiefem Schlaf, aber ihre Mutter hing ihren Gedanken nach.

Sie sah sich als Kind im Hause der wohlhabenden Eltern, durchlebte ihre Jugendjahre, die so rosig gewesen, und gedachte der heiteren Tage und Abende, die sie in Gesellschaft und auf Bällen zugebracht. Dann kamen ihre Ehejahre, die noch reicher an Glück gewesen. Nie hatte sie geahnt, daß das Leben anders sein könne, und nun sah sie es am eigenen Kinde, das so schwere Last auf den jugendlichen Schultern zu tragen hatte. – –

Am nächsten Morgen ging Edith wieder ins Geschäft, die Mutter sah ihr liebevoll nach, ja, sie hatte eine gewisse Hochachtung vor diesem Mädchen, das so pflichttreu ihren Weg ging, und durch Edith hielt sie Einkehr in sich selbst.

Wie war sie? – Tat sie etwas, um das Leben ihres einzigen Kindes zu erleichtern? – Nein, durch Klagen und Murren in ihr Schicksal erschwerte sie's ihr noch.

Anstatt dafür zu sorgen, daß wenigstens äußerlich ein wenig Heiterkeit herrsche, war sie gleichgültig gegen all und jedes.

Das mußte anders werden, auch sie mußte erstarken, sich endlich aufraffen, ihre Tochter sollte kein trauriges Gesicht mehr sehen, sie nie mehr bei schlechter Laune antreffen. Auch auf ihr Aeußeres wollte sie mehr Sorgfalt verwenden. Wie lange war es doch her, daß sie sich nicht mehr anders als in den Trauerkleidern gezeigt? Von der Idee ergriffen, ihre Tochter heute zu überraschen, sie hellgekleidet vom Geschäft abzuholen, ging sie zum Schrank und holte all die Roben, die ihr von ihrer Glanzzeit aus geblieben, hervor, wählte unter diesen und kleidete sich nun vor dem Spiegel an. Ganz erstaunt betrachtete sie sich. Wie jugendlich war noch die Gestalt, wie frisch der Teint, den Augen sah man es auch nicht an, wieviel Tränen sie vergossen hatten.

Nun wurden die Hutkartons hervorgeholt. Frau Waldenburg empfand etwas wie Gewissensbisse, als sie die stattliche Reihe dieser erblickte. War es nötig, daß sie in den Tagen des Glanzes so viel für unnütze Dinge ausgegeben hatte? – Weshalb war ihr denn nie der Gedanke gekommen, zu sparen, anstatt so in den Tag hineinzuleben?

Aber keine Zeit jetzt mit Zurückdenken verschwenden, es ging auf sieben Uhr, und der Weg zu Edith war weit.

Flugs ward der passende Hut zum Kostüm gewählt. Er war nicht mehr so modern, aber noch frisch und hatte kostbare Federn.

Wie liebkosend fuhr die Witwe darüber hinweg. »Euch trug ich so stolz, als ich noch glücklich war,« sagte sie vor sich hin.

Dann trat sie nochmals vor den Spiegel und setzte den großen Federhut auf ihr gewelltes Haar, nahm Handschuhe und Handtäschchen und eilte hinab, denn vor Ladenschluß mußte sie in der Leipziger Straße sein. Nun wartete sie auf die Straßenbahn. Mit ihr – wie das immer der Fall zu sein pflegt – noch viele andere. Sie war in Gedanken versunken und sah nicht, daß ein stattlicher Herr, der ungeduldig auf und nieder schritt, sie nachdenklich betrachtete wie jemand, der seiner Sache nicht ganz sicher ist. –

Der Wagen kam. Frau Waldenburg stieg ein. Mit ihr der Fremde, der seinen Platz neben ihr nahm.

Er lüftete den Hut.

»Pardon, gnädige Frau, irre ich mich? – Sind Sie Frau Fabrikbesitzer Waldenburg?«

Frau Waldenburg wurde dunkelrot. »Fabrikbesitzer«, das war früher einmal.

Peinlich berührte es sie, so genannt zu werden. Ihr Herz klopfte. Vielleicht war es gar ein Gläubiger ihres Mannes, dem sie da begegnete.

»Frau Waldenburg bin ich,« sagte sie schüchtern.

Ein liebenswürdiges Lächeln huschte über das frische Gesicht des Herrn.

»Und ich habe nicht mehr das Vergnügen, von der gnädigen Frau gekannt zu sein?«

Ein prüfender Blick huschte über seine Gestalt. – »Verzeihung ... ich weiß mich nicht zu erinnern –«

»Aber Ihr Herr Gemahl wird sich meiner noch erinnern, wir haben ja so heitere Tage in Ostende zusammen verlebt – gestatten« – wieder lüftete er den Hut – »Kommerzienrat Möller.«

Nun gab es ein Händeschütteln; mit sichtlicher Freunde erinnerte sich Ediths Mutter des Herrn und dessen Gattin, mit denen sie so innig im Bade verkehrt hatten. Freilich traten ihr auch Tränen in die Augen, als sie von dem Verlust ihres Gatten sprach.

»Und das Töchterchen, wo ist das?«

»Ladenfräulein,« sprach eine innere Stimme voll Bitterkeit, laut aber sagte sie, »bei mir natürlich. Wenn Sie uns besuchen wollen, Herr Kommerzienrat, wir wohnen Landsberger Straße 9. Aber nun muß ich aussteigen, adieu, auf Wiedersehen!«

»Adieu, Gnädigste, von Ihrer freundlichen Aufforderung mache ich schon morgen Gebrauch, denn ich bleibe nur noch zwei Tage, und muß dann wieder in mein Nest zurück. Adieu, Adieu,« er winkte noch zum Fenster hinaus, als Frau Waldenburg schon auf dem Trottoir war.

Jemand von ehedem, jemand, der mit ihr sprach wie zu ihres Mannes Zeiten, voll Ehrerbietung und Interesse. Wie wohl es der Witwe tat!

Unwillkürlich nahm sie eine straffere Haltung an, ward ihr Gang selbstbewußter.

»Aber Muttchen – du siehst ja reizend aus, wahrhaftig, ich habe dich kaum erkannt,« mit diesem Ausruf begrüßte Edith ihre Mama und sah ihr mit sichtlicher Freude in das noch immer hübsche Gesicht. Ihren Arm in den der Mutter schiebend, fragte sie schelmisch:

»Nun sage mir aber, für wen du dich so herausgeputzt hast, seit Vaters Tode habe ich dich nicht mehr so gesehen.«

»Für dich, mein Kind,« war die Antwort. »Für alle Opfer, die du gebracht, habe ich dir noch mit Klagen das Leben erschwert. Das soll nicht länger so sein, auch ich will mich aufraffen, du sollst Freude an deiner Mutter haben, so wie ich sie an dir habe. – Und denke nur diesen Zufall, gerade als ich mich, um dir eine Ueberraschung zu bereiten, so herausgeputzt hatte, treffe ich einen früheren Bekannten, der morgen seine Visite machen wird.«

»Doch nicht etwa –«, ängstlich schaute Edith drein.

»Nein, niemand aus der Heimatstadt – Kommerzienrat Möller, mit dessen Familie wir in Ostende zusammen waren.«

»Ah, ich erinnere mich ihrer, da war doch die kleine Wally, mit der ich herumtummelte. – Aber Mutter, nobel wird es der Kommerzienrat nicht gerade bei uns finden.«

»Schadet nichts. Ich wich in der Straßenbahn seinen Fragen aus, wie könnte man solche auch vor allen Leuten beantworten? Aber jetzt habe ich die Absicht, ihm von unserem Schicksal zu erzählen. Ich will doch mal sehen, ob auch dieser Mann nur den Stand und nicht die Person in uns geschätzt hat.«

Und plötzlich durchfuhr es ihren Sinn: »Wie du es früher selbst getan.« –

Sorgfältiger als bisher überwachte heute Frau Waldenburg ihre Aufwärterin beim Säubern des Zimmers, legte selbst noch hier und da Hand an, und als die Sonnenstrahlen schräg in das Fenster hineinfielen, beleuchteten sie ein behagliches Zimmer, mit Möbeln, denen man den einstigen Wohlstand noch ansehen konnte.

Die Aufwärterin blieb auch des Vormittags über da, um den Erwarteten anmelden zu können.

Und als er kam, und nun der Hausfrau gegenübersaß, erzählte sie ihm, als sei er stets ihr Freund gewesen, ihre und Ediths ganze Leidensgeschichte. Wie es geschah, daß sie gerade diesem Manne, den sie längst vergessen hatte, so alles anvertraute, wußte sie sich später selbst nicht zu erklären. –

Gerührt hatte er ihr zugehört, und es dauerte lange, bevor er zu sprechen vermochte.

»Ich habe Ihren Herrn Gemahl sehr geschätzt. Er war ein überaus fleißiger und vornehmer Kaufmann. Ihr Unglück geht mir sehr nahe. Ich hätte gewollt, er hätte sich an mich gewendet, vielleicht hätte ich ihm aufhelfen können.«

»Wie hätte mein Mann das wohl wagen dürfen? – Wir kannten Sie als liebenswürdigen Menschen, aber daß ein tieferes Freundschaftsgefühl für uns bestand – konnte man dies ohne weiteres annehmen? – Aber nun erzählen Sie mir, Herr Kommerzienrat, wie es Ihnen und den Ihrigen ergangen ist.«

»Ich habe den Tod meiner Frau zu beklagen,« entgegnete er ernst. »Seit fünf Jahren bin ich Witwer.«

»O, das bedaure ich tief! – Und Ihre Fräulein Tochter, wie geht es ihr?«

»Meine Tochter ist hier in Berlin an einen Arzt verheiratet. Ihretwegen war ich einige Tage hier auf Besuch. Sonst lebe ich still in meiner Klause. Es ist einsam in einer so kleinen Industriestadt, das dürfen Sie mir glauben. Wäre nicht Garnison dort, so daß man Gesellschaft findet, wenn man sie sucht, es wäre gar zu trostlos.«

»Ganz besonders für einen Herrn, der die Geselligkeit so liebt wie Sie. Ich erinnere mich, daß Sie es waren, der die schönen Ausflüge arrangierte und stets tonangebend für den Tageslauf war.«

»Ja nun, man muß sich eben fügen, meine Fabrik kann ich so bald nicht verkaufen, deshalb heißt es, aushalten. Kommt mal die Zeit, wo ich mich von Geschäften zurückziehe, dann ist Berlin der Ort, wohin mich meine Neigungen führen.«

Eine Pause war eingetreten. Sinnend blickte der Kommerzienrat vor sich hin. Dann begann er bedächtig:

»Aber nun, gnädige Frau, Vertrauen gegen Vertrauen, ich habe Sie eben mit absonderlichen Gefühlen angehört. Ein Teil meiner Jugend spiegelte sich bei dem, was Sie sprachen, vor meinem seelischen Auge ab.

Wenn ich meine jetzigen Standesgenossen verächtlich über Emporkömmlinge sprechen höre oder hochmütig herabblicken sehe auf junge Leute, die in ihren Kontoren sitzen, dann überkommt auch mich eine Bitterkeit ohnegleichen.

Mein Gott, wie ist meine Kindheit gewesen!

Gnädige Frau, Sie haben mir von dem tiefen Weh gesprochen, das Sie über das Los Ihrer Tochter Edith empfinden, an meine eigene hochgebildete Mutter mußte ich dabei denken, deren bekümmerte Seele sich einst in ähnlicher Weise um mich gebangt und gesorgt hatte. Auch ich war ihr einziges Kind, ihr Liebling. Als mein Vater starb, war ich gerade Sekundaner. Die kleine Pension, die meine Mutter nach seinem Tode erhielt, ließ es nicht zu, große Sprünge zu machen. Ich hatte ehrgeizige Pläne, wollte studieren, aber nun hieß es, adieu damit, jetzt schnellstens von der Schule in ein dumpfes Kontor. Sie können sich vorstellen, wie mir zu Mute war, als ich zum erstenmal hinter dem Schreibpult stand und Briefe kopieren mußte, was ich empfand, als ein alter Schnauzbart, der Prokurist genannt wurde, mich anbrüllte und peinigte! Was denken Sie wohl, was solch ein stolzes Knabenherz für eine Zukunft erträumt, mit der Schülermütze auf dem Haupt! Mein Ehrgeiz strebte mindestens nach einem Professorentitel, und nun – Lehrling, den ein jeder Kommis kommandieren durfte; der hin und her gestoßen wurde. Was mich am meisten schmerzte, – ich sah meiner Mutter Stolz gebrochen.

»Lerne, lerne, damit du etwas wirst,« war ihr steter Satz. »Bei den Schularbeiten saß sie immer neben mir, Vokabeln und Verse abhörend. Was sollte ich nicht alles studieren! Und nun war ich Lehrling!

Aber nachdem ich mich in den Gedanken hineingelebt hatte, daß es nun eben alles anders gekommen, da erwachte mein Knabenstolz, auch auf diesem kaufmännischen Gebiete etwas Großes zu werden.

»Mutter,« sagte ich eines Tages zu ihr, »so weit bin ich in der Lehre nun schon gekommen, um zu wissen, daß ein Kaufmann mehr Chancen hat als ein Studierter. Also laß den Kopf nicht hängen, paß auf, ich singe mit Uhland:

Nimm alle Kraft zusammen,
Die Lust und auch den Schmerz!

Den letzteren habe ich bereits überwunden, die Lust aber zu meinem Berufe ist erwacht. Du sollst noch Freude haben an deinem Sohn.«

Jetzt war mir keine Beschäftigung zu niedrig. Alles tat ich mit großer Pflichttreue, mit eisernem Fleiß.

Und endlich lagen die Lehrjahre hinter mir. Drei volle Jahre – drei Jahre – und doch waren sie nicht zu lang geworden. Und dann kam der Tag, wo ich meiner lieben Mutter das erste selbstverdiente Geld in die Hände legen konnte. Mein erstes Monatsgehalt!

Was glauben Sie, gnädige Frau, wieviel es gewesen? Sie lachen? – Ja, jetzt ist es ein Taschengeld, damals erschien es mir ein Vermögen! Zwanzig ganze Taler hatte ich diesen Monat verdient! Was meinen Sie, wie hocherhobenen Hauptes ich über die Straßen schritt, wie ich den Geldmann spielte! Und was ich für Pläne hatte! Was wollte ich der Mutter nicht alles kaufen, und mir selbst spendierte ich eine Schachtel Zigaretten, die zur damaligen Zeit nur die vornehmen, wohlhabenden Leute sich leisteten. An Bücherkauf brauchte ich nicht zu denken, meines Vaters Bibliothek barg der Schätze genug.

»Lerne, lerne, weiter, weiter,« diese Worte hörte ich wieder von der Mutter, und dann sagte ich eines schönen Tages der Lehrstätte Ade und zog in die Welt hinaus. Ich hatte mir Geld genug dazu erspart.

Nach England hatte ich ein Engagement angenommen, dort trat ich in eine berühmte Kattunfabrik ein, und mein Leben bekam eine andere Wendung.«

»Ließ Ihr Mütterchen ihr einziges Kind so ohne weiteres ziehen?« fiel Frau Waldenburg ein.

»Meine Mutter? – Die kannte nur ein Ziel – und ihre eiserne Energie habe ich gottlob geerbt – und dieses Ziel hieß: »Hochkommen, mein Sohn, alle Kräfte anspornen, alle Fähigkeiten ausnutzen, nur nicht am Boden liegen bleiben.« Also weiter, weiter, hieß es.

Bei meinem Chef wußte ich mich bald beliebt zu machen, nahm, wie es sich für einen Angestellten gehört, sein Interesse redlich wahr, behielt aber das meine in der Weise im Auge, als ich aus allem, was ich sah und hörte, eine Lehre zog. Später, so dachte ich mir, wirst du diese Art von Fabrikation, wie du sie hier siehst, in deinem Vaterland einführen, da heißt es also die Augen offenhalten und überall hinschauen. Einst, hoffte ich, ein reicher Mann zu werden, um meiner guten Mutter Schätze zu Füßen legen zu können.« – Und jetzt ward die Stimme des Kommerzienrats umflort, als er seufzend hinzusetzte:

»Das freilich habe ich nicht erreicht, dieser Herzenswunsch ward mir versagt, nur mein Ringen und Kämpfen nach Reichtum hat die Gute gesehen, sie ward mir entrissen, bevor ich es zu etwas Rechtem gebracht.« –

»Sie starb, bevor Sie von England zurück waren?« teilnahmvoll fragte es Frau Waldenburg.

»Doch nicht, ich hatte schon einige Webstühle in die Heimat eingeführt, wohnte wieder mit der lieben, herzigen alten Mutter zusammen, als sie zu kränkeln anfing. – Aber lassen wir das, wir haben uns beide so viel Trübes erzählt, daß ich einen großen Zeitraum übergehen möchte. Nun hieß es, für meine Person arbeiten, kein Chef stand über mir. Da kam oftmals eine Stimmung über mich, die an totale Gleichgültigkeit grenzte. Die Mutter war tot, für wen lohnte es sich zu arbeiten? ...

Dann wieder sagte ich mir, in ihrem Sinne mußt du leben: »Weiter, weiter,« war ihr Wahlspruch, und ich ging wieder an die Arbeit und suchte in dieser meine Trauer zu ersticken.«

Frau Waldenburg fuhr mit ihrem Taschentuch über die Augen.

»Was sind Sie für ein prächtiger Mensch,« sagte sie leise.

»O bitte,« wehrte er ab, »ich wollte Ihnen nur sagen, daß auch andere Menschen kämpfen müssen, vielleicht – vielleicht ist es Ihnen ein Trost! – Nun, und dann trat jemand in Erscheinung, der mir Freude zur Arbeit gab, und dies war meine spätere Frau, die ich nun auch zu betrauern habe. Sie war ein Muster an Arbeitsfreudigkeit, und als Angestellte in meinem Geschäft lernte ich sie schätzen und lieben.

Jetzt, wo Sie mir von Ihrer Fräulein Tochter erzählten, mußte ich ihrer gedenken, da auch sie aus bestem Hause, in Reichtum erzogen, in Stellung gehen mußte ... Sie ward meine Frau, und mit vereinten Kräften arbeiteten wir uns empor ... Aber nun bin ich wieder allein ... um ...«

Ein Klingeln an der Korridortür unterbrach die Unterhaltung. Frau Waldenburg horchte auf. Edith war nach Hause gekommen.

Vom Wunsche beseelt, der Mutter »Guten Tag« zu sagen, ging sie direkt ins Wohnzimmer hinein.

An der Tür blieb sie stehen, sie war wie mit Blut übergossen, so fatal war ihr das Begegnen. Ihr Haar war vom Wind etwas zerzaust, auch war sie im einfachen Jackenkleid, wie sie es eben täglich trug. Aber lieblich sah das junge Mädchen dennoch aus, und ein sonniges Lächeln überzog ihr Antlitz, als sie die dargebotene Hand des Fremden ergriff.

»So klein habe ich Sie gekannt, und nun eine Dame, die selbstständig ihr Brot verdient. Alle Achtung, mein Fräulein, das nenne ich tapfer, wie Sie sich durchgerungen! Ihre Frau Mama war so gütig, mir vieles zu erzählen. – Erinnern Sie sich meiner Tochter? Sie war in Ostende Ihre Spielkameradin.«

»Gewiß, ich sprach schon mit Mama von ihr.«

»Sie wohnt am Lützow-Ufer. Sie müssen Freunde werden! Ist es den Damen recht, wenn ich die Erneuerung der Bekanntschaft vermittle? Paßt es Ihnen, wenn wir uns, auch mein Schwiegersohn – heut abend im Rheingold treffen? Denn morgen reise ich, wie ich schon sagte, heim.«

Gern gingen die Damen auf den Vorschlag des liebenswürdigen Herrn ein, und nach langer Zeit waren sie wieder einmal so recht von Herzen froh unter ihresgleichen zu sein.


 << zurück weiter >>