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Am Sonntag vor ihrer Abreise machte Lilli Abschiedsvisiten.
Herbert wußte von seiner Schwester, daß sie durch den Stadtpark kommen mußte, und wartete dort ihr Erscheinen ab.
Ihm war der Gedanke, das von ihm so hochverehrte Mädchen so lange entbehren zu müssen, sehr schmerzlich.
Die Sonne goß ihr gleißendes Licht über die Bäume und ließ die Spitze des nahen Kirchturms erglänzen. Die Fontäne im Stadtpark plätscherte, die Blumenbosketts dufteten, und in den Zweigen jubilierten die Vögel.
Lustige Kinder tobten sich aus, Kindermädchen schwatzten miteinander, alt und jung lustwandelte und nahm keine Notiz von dem Trennungsschmerz, der in Herbert Lutzners junger Brust wütete.
Von weitem tönte Militärmusik, sie spielte vor dem Hause eines Obersten. Die laue Luft wehte die Töne zu dem jungen Manne hinüber und stimmte ihn noch trauriger.
Auf und ab wanderte er, auf und ab. Ob sie einen andern Weg genommen hat? – Schon überlegte er, ob er nach Hause gehen sollte, sie in seinem Elternhause erwarten ...
»Ah!« Herbert atmete auf, da kam sie daher, die liebe Gestalt.
In einem plissierten Voilekleid, fesch gearbeitet, kam Lillis Figur voll zur Geltung.
Der halblange Rock mit breitem Saum ließ ein andersfarbiges Unterkleid durchschimmern, und ihre zierlichen Füßchen steckten in braunen, eleganten Stiefeletten. Der große weiße Hut hob sich malerisch von dem roten Gelock ihrer Haare ab, das in wirrer Pracht ihre Stirn umspielte.
Eine dunkle Röte überflutete sie, sie bekam Herzklopfen, als sie so unerwartet Ilses Bruder vor sich sah.
Seine dunklen Augen lachten sie schon von weitem an. Mehr als ihre äußere Gestalt hatte ihn stets ihr Wesen angezogen, er konnte sich kein Mädchen vorstellen, das sie an Güte und Anmut überstrahlte.
Auch er sah schmuck aus in seinem schwarzen Anzug, den gelben Schuhen und dem weichen grauen Filzhut. Mit einer tiefen Verbeugung begrüßte er sie.
»Guten Tag, Fräulein Lilli, welch glücklicher Zufall, daß ich Sie treffe!«
»Ja,« sagte sie verlegen, »ich mache Abschiedsvisiten.«
»Leider,« seufzte er und schritt neben ihr her, »leider, es wird so einsam werden, wenn Sie fort sind, und ich werde Sie schmerzlich vermissen.«
»Ach, Ilse, Edith, Herta und Ihre Freunde sind ja da ... aber ich fürchte jetzt doch, jetzt, wo ich so dicht vor der Abreise stehe, daß mir sehr bange werden wird ... daß ...«
»Dann bleiben Sie doch einfach hier!«
»O nein,« sie hob den Kopf und war nun wieder die energische Lilli, »was man begonnen, muß man durchführen, und ich freue mich ja auch riesig darauf ... denken Sie doch, Italien und Griechenland.«
»Fräulein Lilli, darf ich hoffen, daß Sie mir mal schreiben werden?«
Er sah ihr bittend in die schönen Augen.
»Bitte, erlassen Sie mir das. Ich habe auch den Kränzchenschwestern gesagt, Briefe schreibe ich nicht. Höchstens mal Ansichtspostkarten.«
»O, Sie sind grausam.«
»Wieso, ich werde versuchen, Reisebeschreibungen zu machen; vielleicht, wenn mir das gelingt, werden Sie sie einmal zu lesen bekommen.«
Jetzt bogen die beiden um eine Straßenecke, wo eine Blumenverkäuferin Rosen feilbot.
»Gestatten Sie mir, Fräulein Lilli, daß ich Ihnen Rosen auf den Weg streue?«
Herbert suchte in dem Körbchen der Verkäuferin nach den schönsten und entnahm diesem zwei dunkelrote und zwei gelbe Rosen.
Mit zitternder Hand griff Lilli danach, und ihr »Danke« kam verschämt und lieblich heraus.
Schweigend gingen sie miteinander ein Streckchen weiter.
»O wie schrecklich, daß die Wege so kurz sind!« schmachtete Herbert Lutzner.
Lilli lachte.
»Wer wird zunächst mit Ihrem Besuch beglückt?« erkundigte sich Herbert.
»Drei solcher liegen schon hinter mir. Jetzt gehe ich zu meiner englischen Lehrerin. Hier wohnt sie. Adieu!« und sie reichte ihm schüchtern die Hand.
»Nein,« sagte er, »Adieu sage ich Ihnen noch nicht. Sie kommen doch noch zu meinen Eltern.«
»Also auf Wiedersehen!« und sie schritt durch ein Gartenpförtchen in das Haus ihrer Lehrerin.
Als sie nach einem Viertelstündchen wieder erschien, war sie sehr erstaunt, Herbert noch zu sehen.
Er ging auf und nieder und kam jetzt auf sie zu.
»Ich habe mir erlaubt, auf Sie zu warten, Fräulein Lilli, gestatten Sie mir gütigst, daß ich Sie noch ein Streckchen begleite. Wo geht jetzt der Weg hin?«
»Zu Wittners.«
»Wird Sie Ihre Frau Tante von hier abholen?« fragte Herbert.
»Ja, sie trifft schon morgen abend hier ein.«
»O diese Tante, diese Tante,« seufzte mit komischem Pathos Herbert.
»Ja, sie ist lieb und gut,« sagte Lilli, absichtlich den spöttischen Ton ihres Begleiters überhörend. »Herzensgut sogar und denkt immer so fürsorglich an mich.«
»Ist sie Ihres Herrn Vaters Schwester?«
»Ja.«
»Möchten wir nicht einen Umweg machen, Fräulein Lilli?« schlug Herbert vor, »hier brennt die Sonne furchtbar, gehen wir doch die Promenade entlang.«
Lilli lachte.
»Das wäre ja der doppelte Weg, nein, so viel Zeit habe ich nicht, ich muß ja auch beizeiten daheim sein. – Und nun, bitte, gehen Sie zurück, wir sind gleich da, und wenn uns Herta zusammen sieht, macht sie wieder ihre Witze.«
»Was für Witze?«
»Das sage ich Ihnen nicht. Aber nun bitte, Herr Lutzner, gehen Sie. Sie sollen auch eine Rose von mir haben.«
Mit Begeisterung griff Herbert danach.
»Dank, tausend Dank,« stammelte er.
Diese Rose wurde Herberts Talisman, spornte ihn, als Lilli längst abgereist war, zu eisernem Fleiß an.
Wie ein junges Mädchen seine ihm teuren Andenken fortlegt, so verschloß Herbert seine Rose in ein Kästchen und legte ein Zettelchen bei, auf dem er das wunderbare Gedicht von Ernst Ziel geschrieben:
»Du bist ein Kind und sollst es ewig bleiben;
Das echte Weib bleibt ewig Kind,
Ein weißes Blatt, auf das die Götter schreiben,
Wie köstlich Mild und Einfalt sind.
Ich will dich sanft auf weichen Händen tragen,
Wie nur getreue Liebe kann,
Und zu dem Schicksal will ich bittend sagen:
»O, rühre dieses Kind nicht an!«
Voll Andacht will ich liebend dich behüten
Und rastlos sorgen früh und spät,
Daß nicht des Lebens Sturm von deinen Blüten
Der Unschuld duft'gen Staub verweht.
Und wenn im Tod einst meine Augen brechen,
Dann will ich im Gebete lind
Mit müden Lippen sterbend zu dir sprechen:
»Gedenke mein – und bleib' ein Kind!«