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Neuntes Kapitel.
Edith als Gutsherrin.

Es war sehr still in dem großen, altmodischen Hause; die grünen Jalousien waren gegen die erdrückende Hitze herabgelassen, und in den offenstehenden Flügeltüren, die zur Veranda führten, tummelten sich Käfer und Schmetterlinge. –

Im Gasthofe ruhte alles. Es war Sonntag, der weite Oekonomiehof sauber aufgeräumt, kein Strohhälmchen am Boden.

Mit schläfriger Miene schritt ein Bauernmädchen, mit einem Milchkännchen in der Hand, über den weiten Raum.

Der Hofhund, der faul vor der Hütte gelegen, zu bequem, sich ganz zu erheben, kläffte ihm murrend nach. Es verschwand im Kuhstall, wo es mit dem Schweizer ein Gespräch anknüpfte.

Durch das Gekläff neugierig angelockt, trat jetzt eine Magd über die Schwelle des Gesindehauses.

Sie war eben aus einem Mittagsschläfchen – ein Vorrecht des Sonntags – erwacht.

Verstimmt, niemanden zu sehen, wollte sie sich zurückziehen, als sie ihren Namen rufen hörte.

»Trine!« erscholl es in langgezogenem Tone.

Sie schaute auf. Da stand, im Sonntagsstaat, mit blitzenden Augen und starken Zöpfen, ein schmuckes Bauernmädchen.

»Nanu, noch nicht mal angezogen? – drüben im Dorf geht schon die Musik, mach, fix, fix!«

»Ich mache mich schnell zurecht, ich komme gleich!«

Trine lief eiligst in das Haus zurück.

Jetzt wurde es auch im Hofe lebendig. Die Pferdestalltüre öffnete sich, und strahlenden Angesichts kam ein junger Kutscher im blaugestreiften Leinwandanzug heraus.

»Mieke,« rief er fröhlich, »bist schon da? – haste denn heute frei?«

»Unsere Gnädige gibt uns alle Sonntage frei. Das weißt du doch. Drüben ist Tanz, kommst du auch?«

»Na, freilich!«

Die Dame auf der Veranda konnte trotz des dichtbestellten lebenden Zaunes doch ein Plätzchen finden, zu den Sprechenden hinüberzuschauen; sie hörte, was gesprochen wurde, seufzte, spannte ihren Schirm auf und schritt langsam die breite Treppe hinab in den Garten.

Eine ganze Strecke legte sie so zurück.

Eine Sehnsucht ohnegleichen bedrückte sie, seit ihr Gatte verreist und sie hier allein zurückgeblieben war.

Die Mädchen da drüben, wie waren sie lustig und heiter. Als sie in den Jahren war wie diese – da war das Unheil über sie hereingebrochen, der Vater gestorben – aber nein, nicht zurückblicken und nicht undankbar sein!

Ging es ihr denn jetzt nicht wunderbar – war es nicht wie ein Märchen, daß noch ein Prinz gekommen, der sie erlöst hatte von aller Not, sie und die Mutter? Und hatte sie nicht einen Gatten, den sie zärtlich liebte, und von dem sie mit Güte überhäuft wurde?

»Ich bin untätig, da fängt man Grillen ... Wenn Leo nach Hause kommt, soll es anders werden,« sagte Edith fest und schritt weiter, bis sie über eine Brücke in den Wald gelangte, wo sie dem Wagen begegnen mußte, der ihren Gemahl von der Bahnstation heimbringen sollte.

Er war zum ersten Mal seit seiner Verheiratung verreist, sein Bruder hatte ihn zu einer Beratung zu sich gebeten. –

Kurz nach der Hochzeit nahm Hauptmann von Gerlach seinen Abschied, um nach dem Tode seines Vaters das ererbte Gut selbst zu bewirtschaften. Nun hieß es für Edith, sich ins Landleben eingewöhnen.

Die Trennung von der Mutter, von der sie bisher nie fortgewesen, wurde ihr sehr schwer.

Wenn ihr Gatte auch reichlicher Ersatz für alles war, so nahm ihn doch seine Tätigkeit, in welche er sich erst einzuarbeiten hatte, voll und ganz in Anspruch, so daß sie viel mit ihren Gedanken allein war.

Freilich, des Abends, am heimischen Herd, besprach ihr Mann alles mit seiner kleinen Frau, deren praktischer Sinn ihm sehr zu statten kam; dann war sie glücklich und hätte wohl mit niemanden tauschen mögen. War sie aber allein, so quälte sie das Heimweh furchtbar. Ihre hübsche Stadtwohnung kam ihr dann vor Augen, und wie nahe diese den Eltern gewesen, und eine Bangigkeit überkam sie, daß ihr Herz sich zusammenkrampfte.

Manchmal dachte sie, »setze dich hin und bitte die Mutter, zu dir auf Besuch zu kommen,« aber dann meinte sie wieder, es könnte ihrem Manne nicht recht sein, und er könne glauben, er genüge ihr nicht. So unterließ sie es und sagte sich:

»Nur nicht gleich nach Hilfe schrein,
Von Elend jammern, Pechvögelein!«

Und sie war kein Pechvögelein mehr, im Gegenteil, sehr glücklich war sie und – es knallte eine Peitsche, sie hörte Räderrollen, und der Wagen kam in Sicht, der Wagen, der ihren geliebten Gatten brachte!

Da war er auch schon bei ihr und herzte und küßte seine kleine Edith.

»Wie gut, wie gut, daß du wieder da bist, du lieber Mann,« sprach sie, »sieh, ich war ganz elend vor Sehnsucht und begann Grillen zu fangen.«

»Grillen, ei, ei, was denn für welche?«

»Nun, das sage ich dir ein andermal. Komm nur erst heim, nach der langen Fahrt wird dir ein Ausruhen gut tun.«

»Ja, mein Kind, zumal es erdrückend heiß ist.«

*

Eines Tages sagte Edith zu ihrem Mann, als sie neben ihm durch die Felder schritt:

»Ich möchte dir einen Vorschlag machen, lieber Leo; die zweite Mamsell könnten wir recht gut ersparen, wenn ich die Wirtschaft erlerne. Wie wäre es, wenn ich einen landwirtschaftlichen Kursus durchmachte?« –

Da zog er sie zärtlich an sich.

»Nein, nein, liebe Edith, ich weiß wohl, daß meine kleine Frau sich gern betätigt und recht viel sparen möchte, allein ich gebe sie nicht her, nein, kein Kursus, und wäre er noch so nutzbringend, soll mir meine liebe Edith fernhalten. Es ist genug, daß du meine Sekretärin bist, mir so hübsch alles berechnen hilfst, die Bücher kontrollierst und die Oberaufsicht über das Personal hast. Du hast dich schneller in die Rolle der Landwirtin hineingefunden als ich als Landwirt.« –

Und das war wahr; während der zwei Jahre, in denen sie nun auf Gut Gerlensbach waren, hatte Edith es verstanden, sich überall, sowohl bei den Gutsnachbarn als auch im Dorf bei allen, die aus- und eingingen, beliebt zu machen. Ja, diejenigen, die Geschäfte abzuschließen hatten, verhandelten lieber mit Frau von Gerlach als mit dem Hauptmann selbst. Sie war gewandter und entgegenkommender, ohne aber ihren Vorteil aus den Augen zu lassen.

So gewann sie nach und nach, ohne daß sie es selbst merkte oder ihren Gatten fühlen ließ, die Herrschaft über die Oekonomie-Verwaltung, und es wurden bei ihr so recht die Dichterworte bewahrheitet, in denen es heißt:

»Dienen lerne beizeiten das Weib nach ihrer Bestimmung;
Denn durch Dienen allein gelangt sie endlich zum Herrschen,
Zu der verdienten Gewalt, die doch ihr im Hause gehöret.«

»Zur Manöverzeit wird es in unserem stillen Heim endlich mal lebendig werden,« sagte Herr von Gerlach, als er seiner Gattin am Abend auf der Veranda gegenübersaß.

»Wirst dich mit allem Guten versehen müssen, denn wir bekommen massig viel Einquartierung.«

»Soll mir recht sein, Leo,« entgegnete sie, »aber ich möchte Mama dazu herbitten, am Ende vermag ich den Repräsentationspflichten nicht mal zu genügen, ich bin ganz aus der Uebung im Gesellschaftgeben.«

Er ließ den Rauch seiner Zigarre hoch gehen und antwortete freundlich:

»Zur Hilfe brauchst du niemand, meine Edith macht schon alles ganz recht. Aber auf Besuch lade Mama nur ein.«

»Ja und meine Freundin Ilse Lutzner dazu.«

*

Im Herrenhause, auf der Oekonomie und im ganzen Dörfchen herrschte eine freudige Erregung.

Die Mädchen putzten sich und sahen schmuck aus, die Männer beeilten sich, mit der Tagesarbeit zu Ende zu kommen; allen schwebte das bunte Bild vor, das da kommen würde.

Der Stallbursche pfiff die Melodie:

»Einquartierung kam ins Städtchen.«

auf welche die Mädchen gespannt horchten.

Auf dem Felde sangen die Burschen, ehemalige Soldaten, und der Hirte, der mit seinen Schafen auf der Weide war, flötete auf einer selbstgeschnitzten Pfeife:

»Steh ich in finstrer Mitternacht
So einsam auf der stillen Wacht,
So denk' ich an mein fernes Lieb,
Ob mir's auch treu und hold verblieb?«

In Küche und Kammer freuten sich die Mägde auf die Tanz- und Militärmusik.

Im Herrenhause war alles zum Empfang der Einquartierung hergerichtet, heute erwartete man drei Offiziere und eine Anzahl Soldaten.

Es waren auch sonst noch Gäste im Hause, auch Ediths Mutter. Ilse Lutzner hatte zu der Hausfrau Bedauern ihre Einladung abgelehnt – sie sei ihrem Vater unentbehrlich – schrieb sie.

Als man am Kaffeetisch auf der Veranda saß, ertönte von weit, weit her Musik, näher kam sie und näher, alt und jung lief zusammen.

Jetzt vermochte man schon hellere Töne, Melodien herauszuhören, und nun kamen sie daher, trapp, trapp, trapp, die müden, von der Sonne verbrannten Gestalten.

Zu Pferde waren die Offiziere, die nun absaßen und im Herrenhause begrüßt wurden. –

Während der Mannschaft in der Oekonomie Quartier angewiesen wurde, führte der Hauptmann seine Gäste in die im zweiten Stockwerke gelegenen Logierzimmer.

Eine Stunde später saß man bereits beim fröhlichen Mahl.

Die Herren Offiziere taten der Tafel alle Ehre an, und der Wein wurde auch nicht verschmäht.

Inmitten einer anregenden Konversation sagte einer der Herren:

»Wir haben eigentlich gar keine Ursache, heute so fröhlich zu sein. Ein bedauerlicher Vorfall hat sich vor einigen Stunden in unserer Kompagnie abgespielt.«

»O weh, was ist denn?« fragte besorgt der Hausherr.

»Der Leutnant Hans Joachim von Halden ist heute überritten worden und mit einer, wie es scheint, Gehirnerschütterung liegen geblieben.«

»Um Gottes willen,« schrie Edith auf, »Mama, das ist ja Hertas Mann! Leo,« wandte sie sich erregt an ihren Gatten, »ich bitte dich, sieh zu, daß der Aermste hierher gebracht wird ...«

»Ein Bekannter von Ihnen, gnädige Frau?« fragte Oberleutnant von Giesbert.

»... Das gerade nicht ... aber ... seine Frau war eine ehemalige Kränzchenschwester von mir ... in den Kindertagen hatten wir uns sehr lieb ...«

»Ja, wo liegt denn der Leutnant?« nahm der Hauptmann das Wort.

»Gar nicht weit von hier, im Dorfe, in einer Bauernhütte.«

»Wird er transportierbar sein?«

»Wissen wir nicht, mußten ja weiter.«

Edith hob die Tafel auf, eine allgemeine Unruhe hatte sich aller bemächtigt.

Sie ging zu ihrem Mann, sprach mit diesem, mit ihrer Mutter, und schließlich ging der Hauptmann ans Telephon und rief den Inspektor an:

»Lassen Sie, bitte, sogleich einen Leiterwagen einspannen, die Rappen sollen davor gehen. Zwei Bund Stroh und Decken sind der Länge nach hineinzulegen. Ich fahre selbst! Und nun, meine Herren,« wandte sich der Hausherr zu seinen Gästen, »entschuldigen Sie mich gütigst, wir wollen den Kameraden herzuholen versuchen!«

»Und mich, bitte auch, ich fahre mit!«

»Vergißt du die Leipzigerstraße in Berlin?« fragte die Kommerzienrätin, die zu ihrer Tochter getreten war, »vergißt du, wie diese falsche Freundin und deren Bräutigam über dich hinweggegangen sind?« –

»Nein, Mama, keinen Augenblick, niemals habe ich die Stunde vergessen, die so bitter auf meiner Seele gebrannt und mich so heiße Tränen gekostet hatte, aber, ich habe auch den Treuschwur nicht vergessen, den ich als Backfisch geleistet und gerade im Hause von Wittners! Herta bin ich nichts, gar nichts schuldig – aber mir selbst! Doch nun, laß mich, bitte, ich muß noch Befehle geben; eine Matratze muß auf den Wagen gelegt werden und was sonst noch Erleichterung schaffen kann. Laß du, bitte, ein Zimmer bereit halten, in einer Stunde kann der Kranke vielleicht schon hier sein.« –

Gegen Abend fuhr man im Schritt nach Gerlensbach zurück.

Der Militärarzt saß neben dem Schwerkranken, der jämmerlich stöhnte.

Edith saß neben ihrem Mann auf einem improvisierten Kutschersitz; ihre Gedanken waren voll Mitleid bei ihrer ehemaligen Kränzchenschwester. Der Arzt hatte ihr erzählt, daß ein Telegramm dem Verunglückten die Geburt eines Kindes gemeldet hatte. Die junge Mutter wird nun auf einen Glückwunsch ihres Mannes warten, und da liegt er bleich wie ein Toter.

Ob er wieder zum Leben erwachen würde? – Alle ihre Kraft wollte sie aufbieten, alles, was in ihrer Macht lag, für ihn tun.

Sie schmiegte sich wortlos an ihren Mann und dachte, wie schwer es sein müßte, seinen Gatten zu verlieren.

Endlich fuhr man im Herrenhause ein.

Ernst und still umstellten die Kameraden die Bahre und trugen den Leutnant in das schnell hergerichtete Krankenzimmer.

Die Nachtwache übernahm eine Schwester, die im Dorfe dem Kinderhort vorstand.

Edith konnte kein Auge zutun.

»Wie wunderbar ist doch das Leben,« dachte sie. »Was ist der Mensch, daß du noch sein gedenkest.« Die Worte der heiligen Schrift fielen ihr ein.

Unter ihrem Dache, auf ihre Barmherzigkeit angewiesen, lag ein Mann, der sich einst zu hoch gedünkt, ein Wort an sie zu richten.

Wenn nur erst Tag wäre – ihr war so angst, daß das junge Leben aushauchen könnte!

Beim Morgengrauen verließen die Soldaten schon das Quartier. Um den Kranken nicht zu stören, ging es ohne Sang und Klang.

Langsam kroch der Tag heran, mit Vogelgezwitscher und Lerchensang.

Flugs kleidete Edith sich an, um dann schnell hinabzugehen und nach dem Patienten zu sehen.

Die Schwester kam der gnädigen Frau entgegen.

»Die Nacht war verhältnismäßig ruhig, aber zum Bewußtsein ist der Kranke noch nicht gekommen.«

»Schwester,« sagte Edith, »wir müssen die Frau Leutnant benachrichtigen, bitte, tun Sie es, die Dame ist Wöchnerin und bedarf der größten Schonung, wir müssen überlegen, in welcher Form es am besten sei.«

Dann ging Edith zum Militärarzt.

»Herr Doktor,« forschte sie, »wann kam das Telegramm, vor oder nach dem Unglücksfall des Herrn Leutnant?«

»Es kam ins Hauptquartier, gerade, als Herr von Halden den Unglücksfall erlitt. Deshalb hielten wir es für angebracht, das Telegramm zu öffnen.«

Edith überlegte.

»Leo, man wird Frau von Halden das Unglück vorerst zu verbergen suchen. Sie wird in größter Besorgnis sein, daß von ihrem Manne kein Glückwunsch eintrifft. Was meinst du? Wäre es nicht angebracht, hier eine Depeschenfälschung vorzunehmen?« –

»Wie meinst du?« fragte bestürzt ihr Gatte.

»Herta ... Frau von Halden ist Wöchnerin, sie darf keine Aufregung haben und nicht beunruhigt sein ... setzen wir ein Telegramm in des jungen Vaters Namen auf, in dem er seine Freude über die Geburt des Kindes ausdrückt.«

»Darüber muß ich erst mit den Kameraden beraten,« sagte der Hauptmann und ritt in das Gelände.

Hier billigte man den Vorschlag, und bald darauf wurde der Reitknecht ins nächste Telegraphenbureau geschickt.

Herta, die bleich und schön im Bett lag, drückte das Telegramm an sich, weshalb mußte er gerade jetzt fort sein!

Ihr Blick liebkoste das mit weißen Gardinen umrahmte Bettchen, in dem das kleine, holde Wesen lag, das ihnen beiden gehörte.

»Armer Vater, die Pflicht hält dich fern,« und in Gedanken zählte sie die Tage, die er noch fortzubleiben hatte.

Am folgenden Tage kam an Herta ein Brief von der Diakonissin, der Herr Leutnant habe seine Hand verstaucht und könne nicht schreiben. –

In Gerlensbach sah es inzwischen traurig aus. Die schöne Manöverzeit, auf die sich alle so gefreut, war dahin.

Leise umschlich man das Haus, Musik mußte fern gehalten werden. Verstimmt hatten die Gäste das Haus verlassen, und Edith teilte sich mit der Schwester in die Krankenpflege.

Nach acht Tagen traf vom Hauptquartier aus ein Brief von Hertas Hand ein und wurde nach Gerlensbach befördert.

Edith zitterte, als sie in der Postmappe die von früher her bekannten Schriftzüge erblickte.

Wie hatte sie einstmals die Kränzchenschwester geliebt. All die heiteren Tage der lachenden Kindheit stiegen in ihr auf. Es würgte in ihrer Kehle, sie mußte weinen.

So fand sie ihr Gatte, der nach der Post fragen kam. »Wenn es so weiter geht,« meinte er ernst, »muß ich dir verbieten, dich um den Kranken zu kümmern. Das wäre noch schöner, wenn meine Edith nervös würde.«

»Sei nicht hartherzig, Leo,« beschwichtigte sie, »ich bin auch nicht nervös, nur die Erinnerung ließ mich weinen. Sieh, hier ist ein Brief von Frau von Halden, was sollen wir mit ihm anfangen?«

»Da ist wirklich guter Rat teuer, zurückgehen kann man ihn nicht lassen. Am besten, man schickt ihn an Frau von Haldens Mutter, an ihr ist es, die Tochter vorzubereiten.«

»Ich stimme dir bei,« sagte Edith, »doch möchte ich mich nicht persönlich mit Frau Major Wittner in Verbindung setzen, denn sie hatte uns sehr schnell vergessen, als wir im Unglück waren. Soll die Diakonissin schreiben oder willst du so freundlich sein und es tun?« –

Einige Tage später traf in Begleitung des alten Herrn v. Halden Frau Major Wittner in Gerlensbach ein.

Edith erschrak, wie sehr die Majorin gealtert hatte.

»Edith – Frau von Gerlach –« sagte diese, und hielt ihr beide Hände entgegen. »Sie sind ein Engel, nie wird es Herta Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl danken können, was Sie an ihr getan.«

»O bitte!« entgegnete Edith, »ich habe für Ihre Frau Tochter nichts, gar nichts getan.«

Dann half sie der Dame ablegen, und führte sie in ein Fremdenzimmer.

»Ich nehme Ihre Güte nur auf eine Nacht in Anspruch,« sprach die Majorin, etwas verlegen über den formellen Ton, den die Gutsherrin angeschlagen hatte. »Im Dorfe wird ja wohl ein Gasthaus sein.«

»Doch nicht, gnädige Frau, Sie werden leider gezwungen sein, in unserem Hause aushalten zu müssen.«

»Aber wie darf ich Sie inkommodieren?«

»Gnädige Frau, das ist ja alles Nebensache. Sie kommen zu Ihrem Herrn Schwiegersohn, darf ich Sie hinabbegleiten?«

Als die Damen ins Krankenzimmer traten, saß der Vater des Patienten bereits an dessen Bett.

»Hans Joachim, kennst du deinen Vater nicht?« fragte der alte Herr mit zitternder Stimme.

Es war wie ein Wunder, es war, als habe die Stimme ihn erweckt, der Kranke schlug die Augen auf, sah sich im Kreise um, und flüsterte leise: »Vater«. Dann schlummerte er wieder ein.

Am nächsten Morgen meldete zu aller Freude die Schwester, der Patient habe in der Nacht gefragt, ob sein Vater da sei.

Sofort eilte dieser zu ihm, und siehe da, sein Sohn erkannte ihn.

»Wo bin ich denn?« – fragte er, und versuchte sich aufzurichten.

»Bei guten Freunden, mein Sohn, du warst krank.«

»Aber wieso denn, ist denn nicht Manöver?«

»Gewiß, du warst ja mitten drin, aber ein kleiner Unfall –«

»Ja, jetzt weiß ich ... ein Wagen fuhr über mich fort, oder so etwas ... ich ward wohl überritten ...?«

Das Gedächtnis versagte, matt fiel der Patient in die Kissen zurück.

»Immerhin ein großer Fortschritt,« sagte der Arzt, der aus dem Hauptquartier herübergeritten kam, »wenn es so weitergeht, können Sie den Herrn Leutnant in ungefähr vierzehn Tagen mit nach Hause nehmen.«

»Ich bin glücklich, daß es überhaupt vorwärts geht,« sagte Frau Major Wittner zu Edith, »aber so lange werde ich selbstverständlich Ihre Gastfreundschaft nicht in Anspruch nehmen. Ich sehe, daß unser Patient bestens versorgt ist, und reise morgen ab. – Sie sind so engelsgut zu meinem Schwiegersohn, liebe Edith – aber weshalb haben Sie noch gar nicht nach Herta gefragt, und nach dem kleinen Würmchen, Sie wissen ja, daß ich Großmama geworden bin.«

»Es würde mir, der ehemaligen Verkäuferin, nicht anstehen, nach Frau von Halden zu fragen,« antwortete mit beißender Ironie die Gutsherrin.

Die Majorin erfaßte ihre Hände. »Kind, ich weiß es durch Ilse, wie tief verletzt Sie Hertas Unbedachtsamkeit hatte. Aber jetzt, wo alles anders gekommen, wo Sie uns gesellschaftlich gleichstehen –«

»Bin ich derselbe Mensch geblieben, gnädige Frau,« fiel etwas verbittert Edith ein. »Und weil Sie mich nicht für besser halten sollen, als ich bin, will ich es nur gleich sagen: daß ich unter Aufgebot meiner Kräfte, den Mann meiner ehemaligen Freundin gepflegt – das, gnädige Frau, ist meine Revanche.«

»Eine sehr edle,« sprach etwas beschämt die ältere Dame, ging auf Edith zu und wollte ihre Hand küssen.

Erschrocken zog diese die Hand zurück. »Das nicht, gnädige Frau, ich bin die Jüngere. So, und nun bitte ich Sie, gnädige Frau, vergessen Sie unsere Aussprache, ich mußte reden, das Herz war mir zu voll. Doch jetzt ist reiner Tisch gemacht, nun bitte ich Sie, sich die paar Stunden, die wir noch die Ehre haben, Sie zu beherbergen, nicht verkümmern zu lassen.

Darf ich Ihnen unseren Park zeigen? Es sind so herrlich schattige Plätzchen darin; vielleicht ist Ihnen eine Promenade genehm, und Sie erzählen mir dabei von Ihrem lieben kleinen Wesen daheim.«

»Bildhübsch ist es,« berichtete, beglückt davon reden zu können, die Großmama. »Ein schwarzes, rundbackiges, kleines Mädel mit entzückend kleinen Ohren; es schaut sich mit klaren Augen um, als wollte es sagen: Macht mir das Leben nur recht schön!«

»Gerade wie Herta,« dachte Edith und fragte, wie das Kind heißen würde.

»Auf den Namen Ruth ist das kleine Mädelchen angemeldet; bei der Taufe, die jedenfalls Hans Joachims wegen weit hinausgeschoben wird, werden wir noch einige Namen hinzufügen. Ich möchte es dann gern nach Ihnen »Edith« nennen, vielleicht, daß es dann einmal ein Fünkchen von Ihrer Güte als Feengeschenk erhält.«

»Gnädige Frau, Sie beschämen mich –«

Im Auf- und Niederwandeln pflückte Edith Rosen, Nelken und Levkojen, und überreichte das Bukett ihrem Gast.

»Nun, gnädige Frau, wird es Zeit sein, nach dem Patienten zu sehen, kommen Sie, vielleicht erkennt Sie jetzt Ihr Herr Schwiegersohn.«

Als die Damen eintraten, flößte die Schwester dem Kranken einen Löffel Suppe ein.

»Herr Leutnant, versuchen Sie sich einmal aufzusetzen,« flüsterte die Diakonissin ihm zu, und schob ihren Arm stützend um seinen Nacken.

Da schlug er die Augen auf und erhob sich ein wenig. Dann blickte er groß um sich.

»O, Mama, wie kommst du hierher?«

Die Majorin verbiß die Tränen.

»Ich wollte nach dir sehen, lieber Hans, und dir Grüße von Herta bringen.«

Der Kranke richtete sich höher auf.

»Herta? Wie geht es meinem Lieb?«

»Sehr gut, und wenn du die Suppe genommen, erzähle ich dir etwas sehr Erfreuliches.«

Der Patient aß, dann sagte die Majorin:

»Hans Joachim, ich gratuliere dir zu einem allerliebsten Töchterchen!«

»Mama!« Ein glückseliger Ausruf, dann legte sich der Kranke in die Kissen zurück.

Still war es in dem großen Raum. Alle waren ergriffen. Leise gingen Edith und die Schwester hinaus.

*

Am Abend hatte der Kranke kein Fieber mehr, und fragte seinen Vater, ob er sein Kindchen gesehen, ob es Herta auch gut erginge, und ob er bald würde reisen können.

Nun ging es rüstig vorwärts.

Schon durfte Hans Joachim stundenweise aufstehen. Und acht Tage später war er bereits im Garten. Immer wieder, wenn der Hauptmann und seine Frau mit ihm zusammentrafen, war seine Frage, »werde ich Ihnen jemals Ihre Güte vergelten können?« –

Edith konnte es nicht verhindern, daß dann immer die knarrende Stimme von damals in ihr Ohr tönte, wo der Herr Leutnant unmutig über sie rief: »Lassen Sie doch ein anderes Fräulein bedienen, wir haben keine Zeit.«

Er aber ahnte nicht, daß seine Wohltäterin, Frau Hauptmann von Gerlach, die damalige Verkäuferin war, der er so wehe getan.

Und dann kam der Tag, wo der Leutnant reisefähig war und von seinem Vater heimgeholt wurde.

Der Gutsherr und seine Gemahlin fuhren sie beide zur Bahn.

Beim Abschied erfaßte der alte Herr Ediths Hände.

»Gnädige Frau,« sprach er bewegt. »Sie werden mir stets als ein seltenes Beispiel von Aufopferung und Nächstenliebe in angenehmer Erinnerung bleiben. Und weil wir Ihnen unseren Dank nie abtragen können, in dem Maße, wie Sie ihn verdienen, so gestatten Sie mir gütigst, daß ich in Ihrem Dorfe eine »Edith-Stiftung« errichte. Wem diese zugute kommen soll, mögen Sie, gnädige Frau, selbst bestimmen.«

Edith errötete vor Glückseligkeit.

»Leo,« wandte sie sich an ihren Gatten, »darf ich das denn annehmen?«

»Deinen Armen wirst du es wohl nicht entgehen lassen dürfen, wenn Herr von Halden etwas zu spenden wünscht. Daher schlage ich vor, der Diakonissin eine Summe für den Kinderhort zur Verfügung zu stellen. Eine »Edith-Stiftung« ist sehr gut gemeint, Herr von Halden, wir danken für die Absicht, allein wir sind beide, meine Frau und ich, nicht für Äußerlichkeiten. Unser Name braucht nicht genannt zu werden.«

»Nun, wie es den Herrschaften beliebt. Mit der Schwester werde ich mich dann direkt in Verbindung setzen. Doch jetzt, da kommt der Zug.« –

Der Hauptmann half Hans Joachim ins Coupé, und dann ging es unter warmem Händeschütteln heidi fort!

»Gott sei Dank,« sagte Edith, »daß der arme Mann noch heil davongekommen ist. Es sah böse genug mit ihm aus.« –


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