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»Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«: das Dionysische Erlebnis und der Wille zur Kultur.
Da für Nietzsche »Kultur« das A und O war, ist und bleibt, müssen wir doch auf seine derzeitige Auffassung der Kultur näher eingehen.
Nietzsche selbst weist darauf hin, daß die Mänade in ihrem dionysischen Enthusiasmus aus der Kultur heraustritt oder herausfällt; und dasselbe gilt von dem tragischen Helden. An diesem ist nicht die Kultur, die er hat, von wesentlicher Bedeutung, sondern nur, daß er in einem übermächtigen natürlichen Impuls die von der Kultur dem Leben aufgeprägte Form sprengt. Im wirklichen dionysischen Erlebnis wird also alle Kultur vergessen. Und das wirkliche dionysische Erlebnis enthält auch keinen Antrieb zur Erzeugung von Kultur. Es hinterläßt in dem Menschen, der aus dem immer nur momentanen dionysischen Enthusiasmus in die Kultur zurücktritt oder zurückfällt, nur mit Angst gemischte Sehnsucht nach seiner Wiederholung: also nach einem Überschwang natürlichen Lebens, in dem alle Kultur vergessen wird. Der tragische Held muß untergehen, weil er sich in dionysischem Enthusiasmus den Rückweg in die Kultur abgeschnitten hat. Daß Nietzsche den Gedanken einer tragischen Kultur faßt, beweist sofort, daß er an wirkliche Tragik gar nicht denkt.
Auch in dem durch die tragische Kunst vermittelten Nacherleben des dionysischen Erlebnisses wird alle Kultur vergessen; auch dessen Nachwirkung ist nur die Sehnsucht nach Wiederholung des erlebten, die Kultur vergessen machenden Erlebnisses. Da jedoch dieses Erlebnis durch Kunst vermittelt ist, kann sich die Sehnsucht nach seiner Wiederholung zu dem Verlangen nach der Kunst verdichten, die es vermittelt. So erzeugt das ästhetische Nacherleben des dionysischen Erlebnisses einen Willen zur Kultur, den dieses selbst nicht erzeugt. Tristan und Isolde haben keinen Willen zur Kultur. Erregt ihr Anblick den Wunsch, wirklich zu erleben, was sie erlebt haben, so entsteht auch dadurch kein Wille zur Kultur. Wirken sie aber nur ästhetisch auf den Zuschauer, so entsteht in diesem, wenn er Künstler ist, der Wille, sie darzustellen; und der Eindruck des Kunstwerks, das sie darstellt, erweckt in dem ästhetischen Zuschauer den Willen, sich diesen Eindruck wieder und wieder zu verschaffen, also die Kunst zu pflegen, die ihn vermittelt; erweckt also den Willen zur Kultur.
Aber die Kultur, die so gewollt wird, ist nicht eine Kultur der Wirklichkeit, abzielend auf Ausbildung des wirklichen Lebens; sie besteht nur in Kunst, und Genuß der Kunst, und durch die Kunst vermitteltem Genuß des Bildes der Wirklichkeit. Sie ist Pflege der ästhetischen Illusion. Ist sie doch die höchste Kultur, so darf auch alle andre Kultur nur Illusion sein – und dann freilich Illusion nicht im ästhetischen, sondern im gemeinen Sinne des Worts: Täuschung. So verstehen wir ungefähr, wie Nietzsche schreiben kann (I, 125):
Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erkennens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Seins heilen zu können; jenen umstrickt der vor seinen Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst; jenen wiederum der metaphysische Trost, daß unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfließt: um von den gemeinen und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält, zu schweigen. Jene drei Illusionsstufen sind überhaupt nur für die edler ausgestatteten Naturen, von denen die Lust und Schwere des Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden wird und die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust hinwegzutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was wir Kultur nennen …
Aber diese Theorie reizt zu der Ergänzung, daß auch sie bloß Illusion sei. Derlei konnte Nietzsche wohl sagen (es ließ sich so schön sagen); aber er hat es nicht geglaubt (mit dem Bewußtsein, daß alles Illusion sei, konnte er sein wirkliches Leben nicht leben); und er hat es nicht einmal gedacht. Denn er kommt mit diesen Gedanken in offenen Widerspruch mit sich selbst.
Wer glaubt, daß er wenigstens in kurzen Augenblicken eine unbändige Daseinslust erlebt habe und also wieder erleben könne, hält den daraus fließenden metaphysischen Trost nicht für eine Illusion; wer den metaphysischen Trost für eine Illusion hält, glaubt nicht, daß er jemals eine unermeßliche Urlust am Dasein wirklich erlebt habe.
Wer das Dasein als ästhetisches Phänomen ewig gerechtfertigt findet, kann die Schönheit des Daseins, die von der Kunst doch nur herausgearbeitet wird, nicht für Illusion halten. Wer annimmt, daß erst die Kunst dem Dasein nur einen Schein der Schönheit verleihe, glaubt nicht, daß das Dasein als ästhetisches Phänomen ewig gerechtfertigt sei.
Wer in der Lust des Erkennens nur den Wahn sieht, durch das Erkennen die ewige Wunde des Daseins heilen zu können, wird sich der Lust des Erkennens nicht mit dem Ernst hingeben, wie Nietzsche es doch tut (will er als Mann der Wissenschaft, als Denker etwa nicht ernst genommen werden?); und so lange jemand sich, wie Nietzsche, um Erkenntnis bemüht, glaubt er nicht, daß er damit bloß einem Wahn fröhne.
Auch wird der wirkliche Nietzsche so wenig wie der wirkliche Schopenhauer und der wirkliche Wagner die gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält (als da sind: Genuß, Ehre, Macht), als bloße Illusionen behandelt haben. Er hat sie also auch nicht dafür gehalten.
Was endlich Nietzsche zu dem Vorwurf gesagt hätte, er wolle seine Freunde anleiten, sich durch ausgesuchte Reizmittel über die Unlust des Daseins hinwegzutäuschen? Ich vermute: er hätte sich diese beleidigende Bezichtigung nicht gefallen lassen. Wie auch Wagner über diese Deutung seiner Kunst gewiß empört gewesen wäre – wenn er sie ernst genommen hätte.
Kurz: Nietzsche weiß weder was er sagt noch was er will. Die Ursache ist unschwer zu erkennen. Er lebt nicht in der Wirklichkeit und für die Wirklichkeit, sondern im Theater und für das Theater. Deshalb versäumt er auch, seine Lebensanschauung an dem wirklichen Leben zu kontrollieren, das er als wirklicher Mensch lebt. Dazu kommt noch, daß er seine Lebensanschauung aus Schopenhauer heraus und in Schopenhauer hinein deuten will, der ihm doch innerlich fremd ist. Daraus kann nichts entstehen als geistreiche Konfusion.