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11. Kapitel.

»Unzeitgemäße Betrachtungen«: schwankendes Verhältnis zum Christentum.


Indem Nietzsche von Schopenhauer wieder zu sich selbst zurückkehrt, verschiebt sich auch seine Stellung zum Christentum.

Charakteristisch für diese ist schon, daß er sich zwar nicht veranlaßt sieht, das Christentum selbst zum Gegenstand seiner Betrachtung zu machen, daß er aber doch häufig, und also wohl auch aus einem inneren Drang heraus, auf das Christentum zu sprechen kommt. Es liegt abseits von seinem Wege, hat aber doch so viel Bedeutung für ihn, daß es immer wieder seinen Blick auf sich zieht.

Wie Nietzsche 1871 den tiefsinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christentums seine Ehrfurcht bezeugte, so entrüstet er sich 1873 noch darüber, daß Strauß, der »klassische Philister«, »den ganzen furchtbar ernsten Trieb der Verneinung und die Richtung auf asketische Heiligung in den ersten Jahrhunderten des Christentums sich nicht anders zu erklären weiß als aus einer vorangegangenen Übersättigung in geschlechtlichen Genüssen aller Art und daraus erzeugtem Ekel und Übelbefinden«; daß Strauß Jesus als einen Schwärmer beschreibt, der in unserer Zeit kaum dem Irrenhause entgehen würde, und die Geschichte von der Auferstehung einen »welthistorischen Humbug« nennt (I, 218 f.). Ja, Straußens neuer Glaube verführt ihn sogar zu einer Äußerung der Sympathie für den alten Glauben des Christentums (I, 225):

Dem Philister ist selbst eine Straußische Metaphysik lieber als die christliche, und die Vorstellung eines irrenden Gottes sympathischer als die eines wundertätigen. Denn er selbst, der Philister, irrt, aber hat noch nie ein Wunder getan.

In der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung benutzt Nietzsche das Christentum noch als klassisches Beispiel, an dem er die verheerende Wirkung der historischen Krankheit nachweist. Wenn aber das Christentum »unter der Wirkung einer historisierenden Behandlung blasiert und unnatürlich geworden ist« (I, 341): so sollte es ursprünglich doch natürliches, gesundes, frisches Leben gewesen sein. Aber die Anerkennung des Christentums ist doch nur eine achtungsvolle Einleitung zu der entschiedensten Ablehnung des Christentums, wenn Nietzsche schreibt:

Eine Religion, die von allen Stunden eines Menschenlebens die letzte für die wichtigste hält, die einen Schluß des Erdenlebens überhaupt voraussagt und alle Lebenden verurteilt, im fünften Akt der Tragödie zu leben, regt gewiß die tiefsten und edelsten Kräfte auf, aber sie ist feindlich gegen alles Neu-Anpflanzen, Kühn-Versuchen, Frei-Begehren, sie widerstrebt jedem Flug ins Unbekannte, weil sie dort nicht liebt, nicht hofft: sie läßt das Werdende sich nur wider Willen aufdrängen, um es zur rechten Zeit, als einen Verführer zum Dasein, als einen Lügner über den Wert des Daseins bei Seite zu drängen oder hinzuopfern. Das, was die Florentiner taten, als sie unter dem Eindruck der Bußpredigten des Savonarola jene berühmten Opferbrände von Gemälden, Manuskripten, Spiegeln, Larven veranstalteten, das möchte das Christentum mit jeder Kultur tun, die zum Weiterstreben neigt (I, 348 f.).

Es ist doch gerade das ursprüngliche, noch nicht »blasiert« gewordene Christentum, das mit dem bevorstehenden Weltgericht und Weltende rechnet!

In der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung wird das ursprüngliche Christentum wieder sehr hoch gestellt, um als klassisches Beispiel für die verderbliche Selbstsucht des Staates zu dienen (I, 448):

Das Christentum ist gewiß eine der reinsten Offenbarungen [des] Dranges nach Kultur und gerade nach der immer erneuten Erzeugung des Heiligen; da es aber hundertfältig benutzt wurde, um die Mühlen der staatlichen Gewalten zu treiben, ist es allmählich bis in das Mark hinein krank geworden, verheuchelt und verlogen und bis zum Widerspruch mit seinem ursprünglichen Ziel abgeartet.

Aber das Lob schlägt wieder in Tadel um (I, 396 f):

Das Christentum hat durch die Höhe seines Ideals die antiken Moralsysteme und die in allen gleichmäßig waltende Natürlichkeit so überboten, daß man gegen diese Natürlichkeit stumpf und ekel wurde; hinterdrein aber, als man das Bessere und Höhere zwar noch erkannte, aber nicht mehr vermochte, konnte man zum Guten und Hohen, nämlich zu jener antiken Tugend, nicht mehr zurück, so sehr man es auch wollte. In diesem Hin und Her zwischen Christlich und Antik, zwischen verschüchterter oder lügnerischer Christlichkeit der Sitte und ebenfalls mutlosem und befangenem Antikisieren lebt der moderne Mensch und befindet sich schlecht dabei; die vererbte Furcht vor dem Natürlichen und wieder der erneute Anreiz dieses Natürlichen, die Begierde, irgendwo einen Halt zu haben, die Ohnmacht seines Erkennens, das zwischen dem Guten und dem Besseren hin und her taumelt: alles dies erzeugt eine Friedlosigkeit, eine Verworrenheit in der modernen Seele, welche sie verursacht, unfruchtbar und freudlos zu sein.

Die letzte Ursache dieses Unheils ist doch die Höhe des christlichen Ideals! Aber hat es damit auch wirklich seine Richtigkeit? Hat das Christentum wirklich die Antike überboten? Das muß Nietzsche selbst schon zweifelhaft geworden sein, wenn er schreiben kann (I, 423):

Die Reformation erklärte viele Dinge für Adiaphora, für Gebiete, die nicht von dem religiösen Gedanken bestimmt werden sollten; dies war der Kaufpreis, um den sie selbst leben durfte: wie schon das Christentum, gegen das viel religiösere Altertum gehalten, um einen ähnlichen Preis seine Existenz behauptete.

Oder gehört das schon zur Entartung des Christentums, daß es, um seine Existenz zu behaupten, auf die Beherrschung, Durchdringung, Umgestaltung des ganzen Lebens verzichtete?

Wie auch Nietzsche darüber gedacht haben mag: nach seiner vierten Unzeitgemäßen Betrachtung schließt die Aufgabe der Gegenwart in sich ein, daß man sich des Christentums wieder entledige. Richard Wagner ist es, der diese Aufgabe lösen könnte, lösen sollte und hoffentlich lösen wird. Man höre (I, 514-16):

Die Geschichte der Entwicklung der Kultur seit den Griechen ist kurz genug, wenn man den eigentlichen zurückgelegten Weg in Betracht zieht und das Stillestehen, Zurückgehen, Zaudern, Schleichen gar nicht mitrechnet. Die Hellenisierung der Welt und, diese zu ermöglichen, die Orientalisierung des Hellenischen – die Doppelaufgabe des großen Alexander – ist immer noch das letzte große Ereignis … Das rhythmische Spiel jener beiden Faktoren gegen einander ist es, was namentlich den bisherigen Gang der Geschichte bestimmt hat. Da erscheint z. B. das Christentum als ein Stück orientalischen Altertums, welches von den Menschen mit ausschweifender Gründlichkeit zu Ende gedacht und gehandelt wurde. Im Schwinden seines Einflusses hat wieder die Macht des hellenischen Kulturwesens zugenommen … Der Geist der hellenischen Kultur liegt in unendlicher Zerstreuung auf unserer Gegenwart … Die Erde, die bisher zur Genüge orientalisiert worden ist, sehnt sich wieder nach der Hellenisierung … So ist denn jetzt eine Reihe von Gegen-Alexandern nötig geworden … In Wagner erkenne ich einen solchen Gegen-Alexander …

Allerdings wird in der eingewobenen Beschreibung der Aufgabe eines Gegen-Alexanders gerade das nicht erwähnt, daß er die Orientalisierung des Hellenischen rückgängig machen und deshalb insbesondere das Christentum ausscheiden müsse. Aber daß dies ein Hauptstück seiner Arbeit sein muß, ist doch deutlich genug gesagt: für jeden, der nicht bloß in, sondern auch zwischen den Zeilen zu lesen versteht. Und die Vermutung liegt sehr nahe, daß Nietzsche nicht deutlicher werden wollte, da er es darauf ankommen lassen wollte, ob Wagner seine Mission verstehen wollte. Nietzsche hatte schon damals Grund, daran zu zweifeln!

Doch kommt in diesen Urteilen über das Christentum Nietzsches derzeitige wirkliche Stellung zum Christentum nicht rein und vollständig zum Ausdruck. Diese hat sich nicht bloß ihm noch nicht geklärt, sondern ist an und für sich noch mit einem inneren Widerspruch behaftet.

Was er über das Christentum sagt, wird als Zeugnis für seine Stellung zum Christentum schon dadurch entwertet, daß er sich gar nicht die Frage vorlegt, was denn eigentlich unter Christentum zu verstehen sei. In seiner Auffassung des Christentums ist er teils durch eine übernommene konventionelle Meinung bestimmt, teils durch Schopenhauer. Seine Sympathie für das Christentum gilt einem asketischen Christentum im Sinne Schopenhauers, also im Grunde Schopenhauer. Seine Antipathie gegen das Christentum gilt einerseits dem konventionellen Christentum, andererseits dem Sektenhaften am Christentum, also im Grunde dem Konventionellen und Sektenhaften überhaupt.

Mit dem Geist des Christentums scheint er sich in diametralem Gegensatz zu befinden, wenn er der Natur zwar zugesteht, daß sie gemeinnützig sein wolle, ihr aber die Fähigkeit abspricht, zu diesem Zwecke die besten und geschicktesten Mittel und Handhaben zu finden. Damit wäre die Liebe Gottes anerkannt (ob man »Gott« oder »Natur« sagt, ist gleichgültig), aber die Weisheit und Allmacht Gottes verneint. Auch daß Nietzsche demgemäß die Aufgabe Gottes, den großen Menschen zu erzeugen, dem Menschen überträgt, würde dem Geiste des Christentums direkt widersprechen. Daß die Wiedergeburt des Menschen zur menschlichen Mache wird, ist widerchristlich – wenn Nietzsche darin auch mit dem konventionellen und sektenhaften Christentum übereinstimmt. Widerchristlich wäre endlich die Meinung Nietzsches, daß das Ziel der Menschheit nur in ihren höchsten Exemplaren liege (I, 364). Eine Expektoration wie diese (I, 367):

Die Massen scheinen mir nur in dreierlei Hinsicht einen Blick zu verdienen: einmal als verschwimmende Kopien der großen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten hergestellt; sodann als Widerstand gegen die Großen; und endlich als Werkzeuge der Großen: im Übrigen hole sie der Teufel und die Statistik!

– diese Sprache ist in dem Munde Jesu allerdings nicht zu denken, obwohl er auch kein Verehrer der Masse war. Aber damit widerspricht Nietzsche auch sich selbst: die Natur will ja »gemeinnützig« sein! und die Menschen sollen ja dieser Natur nachhelfen, wenn sie dazu nicht die richtigen Mittel zu finden weiß!

Aber neben diesen gottlosen, antichristlichen Äußerungen Nietzsches finden sich auch solche ganz anderen, gut christlichen Sinns.

So hört Nietzsche 1876 die Musik Wagners uns Kindern eines erbärmlichen Zeitalters auch zurufen: »Die Natur ist nach innen ja viel reicher, gewaltiger, seliger, fruchtbarer; ihr kennt sie nicht, so wie ihr gewöhnlich lebt.« Da erkennt er nicht nur, daß wahre Musik »ein Stück Fatum und Urgesetz ist«; da will es ihm sogar »gar nicht möglich« erscheinen, es »aus einem leeren sinnlosen Zufall abzuleiten«, daß die Musik Wagners »gerade jetzt« erklingt. Denn:

Ein zufälliger Wagner wäre durch die Übergewalt des andern Elementes, in welches er hineingeworfen wurde, zerdrückt worden. Aber über dem Werden des wirklichen Wagner liegt eine verklärende und rechtfertigende Notwendigkeit. Seine Kunst, im Entstehen betrachtet, ist das herrlichste Schauspiel, so leidvoll auch jenes Werden gewesen sein mag, denn Vernunft, Gesetz, Zweck zeigt sich überall. Der Betrachtende wird, im Glücke dieses Schauspiels, dieses leidvolle Werden selbst preisen und mit Lust erwägen, wie der vorbestimmten Natur und Begabung Jegliches zu Heil und Gewinn werden muß, so schwere Schulen sie auch durchgeführt wird.

Mit andern, aber nichts andres bedeutenden Worten: in dem Werden Wagners sieht Nietzsche die Hand eines Gottes, der Weisheit und Liebe ist. Und er glaubt auch den Zweck zu ahnen, für den Gott einen Wagner schafft und erzieht. Er ergibt sich aus dem Wirken der ur-bestimmten Natur, die ihre Schule mit Nutzen durchlaufen hat.

Sie kann nicht anders als mitteilen. Jedermann soll an ihrem Werk mitwirken; sie geizt nicht mit ihren Gaben. Zurückgewiesen, schenkt sie reichlicher; gemißbraucht von den Beschenkten, gibt sie auch das kostbarste Kleinod, das sie hat, noch hinzu – und noch niemals waren die Beschenkten der Gabe ganz würdig, so lautet die älteste und jüngste Erfahrung. Dadurch ist die ur-bestimmte Natur, durch welche die Musik zur Welt der Erscheinung spricht, das rätselvollste Ding unter der Sonne, ein Abgrund, in dem Kraft und Güte gepaart ruhen, eine Brücke zwischen Selbst und Nicht-Selbst. Wer vermöchte den Zweck deutlich zu nennen, zu dem sie überhaupt da ist, wenn auch selbst die Zweckmäßigkeit in der Art, wie sie wurde, sich erraten lassen sollte? Aber aus der seligsten Ahnung heraus darf man fragen: sollte wirklich das Größere des Geringeren wegen da sein, die größte Begabung zu Gunsten der kleinsten, die höchste Tugend und Heiligkeit um der Gebrechlichen willen? Mußte die wahre Musik erklingen, weil die Menschen sie am wenigsten verdienten, aber am meisten ihrer bedurften? Man versenke sich nur einmal in das überschwengliche Wunder dieser Möglichkeit: schaut man von da auf das Leben zurück, so leuchtet es, so trüb und umnebelt es vorher erscheinen mochte (I, 536-38).

Der Apostel Paulus rühmt dasselbe selige Geheimnis mit den Worten: »Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Der auch seines eingeborenen Sohnes nicht hat verschonet, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben: sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?«

Hätte Nietzsche die »Offenbarung«, die ihm durch Wagner geworden war, geduldig verarbeitet; hätte er aus dieser Erfahrung geschlossen, daß die Natur, wenn sie für ihre gemeinnützige Absicht die besten Mittel nicht zu finden scheint, doch gerade dann die besten Mittel gewählt haben könnte; hätte er sorgfältig untersucht, wie die Natur durch den Großen dem Kleinen, durch den Starken dem Gebrechlichen hilft; hätte er sich willig darein gefunden, daß die fortgesetzte Tierquälerei, unter der sich der Künstler, der Denker, der Heilige allerdings entwickelt, tatsächlich den Künstler, den Denker, den Heiligen erst schafft – nämlich den wirklichen Künstler, Denker, Heiligen: so hätte sich ihm die christliche Wahrheit erschlossen; während er dann freilich das sogenannte Christentum nur noch entschiedener hätte ablehnen müssen. Er wäre also dann wohl ein christlicher Nichtchrist geworden.

Aber Nietzsche ist diesen Weg nicht gegangen. Als er sich zu der Offenbarung bekannte, die ihm durch Wagner geworden war, war er an Wagner bereits irre geworden. Ist das nicht der Grund, so doch ein Grund dafür, daß er sie sich nicht einverleibte.


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