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Zarathustra. Sein Urteil über Jesus und wirkliches Verhältnis zu Jesus.
Wie verhält sich nun Zarathustra zum Christentum?
Es verträgt sich nicht mit der Art seines Auftretens, daß er sich offen mit dem Christentum auseinandersetzt. Dagegen sind seine Reden durchzogen von verstecktem Kampf gegen das Christentum. Und je und je erlaubt er sich auch deutliche Anspielungen auf Jesus. Gehen wir von diesen aus.
Jesus habe seine Jünger in Bande falscher Werte, falschen Wahns geschlagen (VI, 131 f.). Aber er hätte, wäre er zum Alter Zarathustras gekommen, doch vielleicht leben gelernt und die Erde lieben gelernt – und das Lachen dazu; und dann hätte er gewiß seine Lehre widerrufen: edel genug war er zum Widerrufen (VI, 107). Denn er sah wenigstens den »Guten und Gerechten« ins Herz und erkannte sie als die eigentlichen Schädlinge der Menschheit (VI, 107. 310). Aber er erkannte doch noch nicht, wie Zarathustra, daß der Mensch besser und böser werden muß. So litt und trug er an des Menschen Sünde. Und das mochte gut sein für ihn, den Prediger der kleinen Leute. Zarathustra erfreut sich der großen Sünde als seines großen Trostes (VI, 420).
Jesus (der richtig verstandene Jesus; denn Jesus wurde nicht verstanden) – Jesus wäre also nicht mehr und nicht weniger als ein Vorläufer Zarathustras. Steht die Sache so? Hat Zarathustra sich richtig verstanden? und Jesus richtig verstanden? und somit sein Verhältnis zu Jesus richtig bestimmt? So wenig wir von Jesus wissen, es läßt sich doch erkennen, daß die Sache nicht so steht, wie Zarathustra sie sieht.
Jesus glaubt an Gott den Vater und glaubt an ein ewiges Leben. Zarathustra glaubt an so was nicht. Es ist nun eine müßige Frage, ob Jesus bei längerem Leben seinen Glauben als Wahn erkannt und aufgegeben hätte: darüber kann man nur orakeln, nicht etwas Sicheres wissen oder auch nur vermuten. Aber das ist unschwer zu erkennen, daß Zarathustras Unglaube intellektuell nicht höher steht als Jesu Glaube. Angenommen, Jesus habe »Gott-Vater« und »ewiges Leben« nur postuliert: auch Zarathustra postuliert bloß, daß es »Gott« und »ewiges Leben« nicht gibt. Übrigens überschreitet der Gedanke der »ewigen Wiederkunft« die Grenzen wissenschaftlichen Erkennens nicht minder als der Gedanke des »ewigen Lebens« und »Gottes«. Andrerseits hat Jesus offenbar über Gott sehr frei gedacht: sonst wäre er nicht als Gotteslästerer hingerichtet worden.
Lassen wir also dahingestellt, ob Jesu oder Zarathustras Glaube Wahn ist: um der Bejahung des Lebens willen brauchte Jesus seinen Glauben nicht aufzugeben. Wie könnte er das Leben nachdrücklicher bejahen, als indem er es von einem Gott-Vater ausgehen und in ein »ewiges Leben« einmünden läßt? als indem er annimmt, daß die Erreichung höchsten Lebens (eben des ewigen Lebens) nicht von der doch immer nur mehr oder minder großen Kraft des Menschen abhängt, sondern durch die unendliche Macht, Weisheit, Liebe Gottes garantiert ist? Allerdings versagt er damit dem Menschen den Ruhm, daß er sich sein Leben selbst schaffe. Aber mit dem freien Schaffen des Menschen: damit ist es doch offenbar, handgreiflich nichts! Und ist denn mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft das Selbstgefühl freien Schaffens verträglich? Wo hat das Wollen des Menschen weniger zu bedeuten: in der Tretmühle der ewigen Wiederkunft? oder im Dienste Gottes? Das Leben im allgemeinen wird von Jesus stärker, sicherer bejaht als von Zarathustra. Wenn man anders den Glauben an ein ewiges Leben sein läßt, was er ist: Glauben an ewiges Leben!
Aber es handelt sich ja für Zarathustra um die Bejahung dieses Lebens, des Erdenlebens. Wie steht es damit? Nicht ganz so, wie Zarathustra meint. Er selbst zwingt sich die Bejahung dieses Lebens ab gegen einen immer wieder aufsteigenden Ekel – der Jesus, wie es scheint, fremd war. Fremd ist Jesus allerdings auch die von Zarathustra beliebte Verherrlichung des Lachens und Tanzens – bei der uns doch ein Zweifel beschleicht, ob es Zarathustra so sehr zum Lachen und Tanzen ist. Ton und Takt seiner Rede spricht dagegen. Jesus aber wird dadurch zum tiefen Ernst gestimmt, daß er das Leiden um der Gerechtigkeit willen als notwendig erkennt; und dadurch eben bekommt das ewige Leben für ihn wesentliche Bedeutung, daß dieses Leben um der Gerechtigkeit willen hingegeben werden muß. Auch Zarathustra erkennt, daß die »Guten und Gerechten« den kreuzigen müssen, der sich seine eigene Tugend erfindet, und in ihm alle Menschen-Zukunft kreuzigen (VI, 310). Obgleich er aber aus der Geschichte lernen könnte, daß die Guten und Gerechten immer die Übermacht hatten; obgleich die Erfahrung durchaus keine Hoffnung gewährt, daß dies jemals sich wirklich, auf die Dauer, ändern werde: vertröstet er uns auf eine Zukunft, die nie – nicht bloß für uns nicht, sondern überhaupt nie – Gegenwart werden wird, und verlangt von uns, daß wir lachend und tanzend den hoffnungslosen Kampf gegen die »Guten und Gerechten« durchkämpfen sollen. Da ihm selbst nicht zum Lachen und Tanzen ist, müssen wir annehmen, daß er nicht weiß, was er will; während Jesus wenigstens weiß, was er will, wenn er seinen Nachfolgern sagt, sie müssen gleich ihm auf dieses Leben verzichten, wenn sie das ewige Leben gewinnen wollen. Jesu Wahn hat wenigstens Sinn; während der Wahn Zarathustras keinen Sinn hat.
Jesus wendet sich an die Mühseligen und Beladenen; und insbesondere an die, welche sich mit einer fatalen Vergangenheit belastet haben; an Menschen, die sich selbst unter die »Guten und Gerechten« stellen müßten, wenn ihnen je noch an ihrem Rang unter den Menschen etwas liegen würde. Denn er weiß aus Erfahrung, daß sich um das ewige Leben im Ernst nur bekümmert, wer für das zeitliche Leben nichts mehr zu hoffen hat und deshalb auch gegen seinen Rang unter den Menschen gleichgültig geworden ist. Darum kommt für Jesu Nachfolger überhaupt nicht mehr in Frage, ob er besser und gerechter ist als die Guten und Gerechten, nur noch, ob er auf dem Weg zum Leben ist – nämlich zum ewigen Leben. Auch Zarathustra zieht auf einen markerschütternden Notschrei hin aus, – die »höheren Menschen« in seine Höhle zu versammeln, die unter dem Druck des Lebens und ihrer eigenen Vergangenheit so ernsthaft leiden, daß sie sich in Zarathustras Höhle sofort mit den albernsten Späßen belustigen können. Doch sehen wir davon ab: Zarathustra wendet sich an den »höheren Menschen«, der sich selbst schon für den höheren Menschen hält. Und setzt Zarathustra in dem höheren Menschen die große Verachtung voraus, so läßt er ihm doch gelten, so redet er ihm sogar ein, daß er sich durch seine Selbstverachtung über die »Guten und Gerechten« erhebe. Eine merkwürdige Art der Selbstverachtung, durch die man sich selbst schmeichelt! Sie hat eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem Stolz auf das tiefe Gefühl der Sündhaftigkeit, das Zarathustra mit seinen höheren Menschen an dem »Christen« nicht tief genug verachten kann! Und es ist zu bezweifeln, ob in der stolzen Selbstverachtung des »höheren Menschen« mehr wirklicher Auftrieb ist als in dem Armen-Sünder-Stolz des »Christen«! Dazu kommt noch, daß Zarathustra eine bedenkliche Vorliebe für die vornehme Welt hat: »kleine Leute« holt er nicht in seine Höhle, wohl aber die Bankerotteure der Macht und Bildung: abgedankte Könige, den letzten Papst, einen alten Wahrsager, den Mörder Gottes, den Büßer des Geistes: Menschen, die in ihrem eingestandenen Bankerott noch geschwollen sind von Hochmut! sich ergehen in der eitelsten Selbstbespiegelung! Diese »höheren Menschen« sollen den Aufstieg der Menschheit garantieren! eine Brücke zum Übermenschen sein!
Endlich: dem mit einer fatalen Vergangenheit behafteten Menschen macht Zarathustra weis, er könne das »Es war« so umschaffen, daß er nachträglich sagen könne: »So habe ich es gewollt«; Jesus sagt einem solchen Menschen: »Deine Sünden sind dir vergeben.« Was Jesus damit eigentlich meint, verstehe ich nicht. Aber was er nun auch im Sinn habe; und ob »Sünde« und »Vergebung« ein bloßer Wahn wäre: Jesus verleitet doch nicht dazu, daß man sich selbst belüge. Durch Jesu Evangelium von der »Vergebung der Sünden« wird die intellektuelle Redlichkeit weniger gefährdet als durch Zarathustras Evangelium, daß der Mensch das »Es war« in ein »So wollte ich es« umschaffen könne.
Ähnliche Gedanken erregt es, wenn Zarathustra ein Gebet, das Jesus an seinen »Vater« hätte richten können, an seinen Willen richtet:
Oh du mein Wille! Du Wende aller Not, du meine Notwendigkeit! Bewahre mich vor allen kleinen Siegen!
Du Schickung meiner Seele, die ich Schicksal heiße! Du In- und Über-mir! Bewahre und spare mich auf zu einem großen Schicksal!
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Oh Wille, Wende aller Not, du meine Notwendigkeit! Spare mich auf zu Einem großen Siege! (VI, 312 f.).
Unter dem tiefen Eindruck, den diese ergreifend schöne Bitte auf uns macht, dürfen wir doch nicht vergessen, daß sie nicht erhört wurde. Nietzsche hat noch manchen verwünschten kleinen Sieg erfochten – und den ersehnten Einen großen Sieg nicht erfochten! Daß er im Wahnsinn zusammenbrach, kann doch nur als letzte, definitive Niederlage, nicht als endlicher großer Sieg gewertet werden. Gerade von ihm: für den dies das Ende seiner Geschichte bleibt, ob sie sich auch in unendlich vielen Existenzen – immer zu demselben Ende! – wiederholt. Der Wille, den Nietzsche anrief, war gerade in seinem Sinne nicht die Wende aller Not. Sodann aber ist es doch recht sonderbar, daß Nietzsche einen Willen »über ihm«, den er anrufen könnte, ohne Weiteres mit »seinem« Willen zusammenfallen läßt, den er doch nicht wohl anrufen konnte. Mein Wille existiert doch nur darin, daß ich einen Entschluß fasse und verwirkliche. Und um meinen Willen zu verwirklichen, kann ich wohl meinen Entschluß, in dem er allein existiert, wieder und wieder fassen: aber daß ich ihn anrufe, das hat doch keinen Sinn. Gerade Nietzsche lehrt uns, daß so was keinen Sinn hat. Gibt es aber einen Willen »über mir«, den ich anrufen könnte, so würde ich ihn der Vorsicht oder der intellektuellen Redlichkeit wegen schon durch die Benennung von »meinem« Willen unterscheiden: etwa durch den Namen »Gott«. Und würde dieser Wille »über mir« sich dadurch verwirklichen, daß er (irgendwie) ein Wille »in mir« würde: so würde ich der Vorsicht oder intellektuellen Redlichkeit wegen dem Mißverständnis vorbeugen, daß dieser Wille »in mir«, der mich hat, »mein« Wille sei, den ich habe. In mir wenigstens treten diese beiden Willen deutlich auseinander. Durch Jesu Glauben an »Gott« wird die intellektuelle Redlichkeit weniger gefährdet als durch Zarathustras Glauben an den Willen – der entweder vermummter Gottesglaube ist oder eine schwer begreifliche Selbsttäuschung. Nahm Nietzsche jemals im Ernste an, daß er durch seinen Willen alle seine Not wenden könne? Da er doch von Jahr zu Jahr erfahren mußte, schmerzlich, peinlich erfahren mußte, daß er das eben nicht könne!