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20. Kapitel.

Kampf gegen das religiöse Vorurteil (bis 1882). Vorsehung, Fatum, Zufall: Amor fati. Nietzsche nimmt sich selbst nicht ernst.


Wie das moralische, sucht Nietzsche auch das religiöse Vorurteil zu zerstören, indem er es historisch erklärt. Als Probe hierfür kann folgende Expektoration genügen (IV, 130):

Wir haben uns gewöhnt an zwei Reiche zu glauben, an das Reich der Zwecke und des Willens und an das Reich der Zufälle; in letzterem geht es sinnlos zu, es geht, steht und fällt darin, ohne daß jemand sagen könnte, weshalb? wozu? – Wir fürchten uns vor diesem mächtigen Reiche der großen kosmischen Dummheit, denn wir lernen es meistens so kennen, daß es in die andere Welt, in die der Zwecke und Absichten, hineinfällt wie ein Ziegelstein vom Dache und uns irgend einen schönen Zweck totschlägt. Dieser Glaube an die zwei Reiche ist eine uralte Romantik und Fabel: wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufälle, belästigt, über den Haufen gerannt, oft tot getreten, – aber trotzalledem möchten wir nicht ohne die schauerliche Phantasie dieser Nachbarschaft sein, denn jene Untiere kommen oft, wenn uns das Leben im Spinnennetze der Zwecke zu langweilig oder zu ängstlich geworden ist, und geben eine erhabene Diversion, dadurch, daß ihre Hand einmal das ganze Netz zerreißt, – nicht, daß sie es gewollt hätten, diese Unvernünftigen! Nicht, daß sie es nur merkten! Aber ihre groben Knochenhände greifen durch unser Netz hindurch, wie als ob es Luft wäre. – Die Griechen nannten dies Reich des Unberechenbaren und der erhabenen ewigen Borniertheit Moira und stellten es als den Horizont um ihre Götter, über den sie weder hinauswirken noch -sehen können: mit jenem heimlichen Trotz gegen die Götter, welcher bei mehreren Völkern sich vorfindet, in der Gestalt, daß man sie zwar anbetet, aber einen letzten Trumpf gegen sie in der Hand behält, zum Beispiel, wenn man als Inder oder Perser sie sich abhängig vom Opfer der Sterblichen denkt, sodaß die Sterblichen schlimmsten Falls die Götter hungern und verhungern lassen können; oder wenn man, wie der harte, melancholische Skandinavier, mit der Vorstellung einer einstmaligen Götterdämmerung sich den Genuß der stillen Rache schafft, zum Entgelt für die beständige Furcht, welche seine bösen Geister ihm machen. Anders das Christentum mit seinem weder indischen, noch persischen, noch griechischen, noch skandinavischen Grundgefühl, welches den Geist der Macht im Staube anbeten und den Staub noch küssen hieß: dies gab zu verstehen, daß jenes allmächtige »Reich der Dummheit« nicht so dumm sei, wie es aussehe, daß wir vielmehr die Dummen seien, die nicht merkten, daß hinter ihm – der liebe Gott stehe, er, der zwar die dunklen, krummen und wunderbaren Wege liebe, aber – doch zuletzt alles »herrlich hinausführe«. Diese neue Fabel vom lieben Gott, der bisher als Riesengeschlecht oder Moira verkannt worden sei, und der Zwecke und Netze selber spinne, feiner noch als die unseres Verstandes – sodaß sie demselben unverständlich, ja unverständig erscheinen müßten – diese Fabel war eine so kühne Umkehrung und ein so gewagtes Paradoxum, daß die zu fein gewordene alte Welt nicht zu widerstehen vermochte, so toll und widerspruchsvoll die Sache auch klang; – denn, im Vertrauen gesagt, es war ein Widerspruch darin: wenn unser Verstand den Verstand und die Zwecke Gottes nicht erraten kann, woher erriet er diese Beschaffenheit seines Verstandes? und diese Beschaffenheit von Gottes Verstande? – In der neueren Zeit ist in der Tat das Mißtrauen groß geworden, ob der Ziegelstein, der vom Dache fällt, wirklich von der »göttlichen Liebe« herabgeworfen werde – und die Menschen fangen wieder an, in die alte Spur der Riesen- und Zwergen-Romantik zurückzugeraten. Lernen wir also, weil es hohe Zeit dazu ist: in unserm vermeintlichen Sonderreich der Zwecke und der Vernunft regieren ebenfalls die Riesen! Und unsere Zwecke und unsere Vernunft sind keine [klugen] Zwerge, sondern [dumme] Riesen! Und unsere eigenen Netze werden durch uns selber ebenso oft und ebenso plump zerrissen wie von dem Ziegelsteine! Und es ist nicht alles Zweck, was so genannt wird, und noch weniger alles Wille, was Wille heißt! Und, wenn ihr schließen wolltet: »es gibt also nur Ein Reich, das der Zufälle und der Dummheit« – so ist hinzuzufügen: ja, vielleicht gibt es nur Ein Reich, vielleicht gibt es weder Willen noch Zwecke, und wir haben sie uns nur eingebildet. Jene eisernen Hände der Notwendigkeit, welche, den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit: da müssen Würfe vorkommen, die der Zweckmäßigkeit und Vernünftigkeit jeden Grades vollkommen ähnlich sehen. Vielleicht sind unsere Willensakte, unsere Zwecke nichts anderes als eben solche Würfe – und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsere äußerste Beschränktheit zu begreifen: die nämlich, daß wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, daß wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr tun, als das Spiel der Notwendigkeit zu spielen. Vielleicht! – Um über dies Vielleicht hinauszukommen, müßte man schon in der Unterwelt und jenseits aller Oberflächen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone mit ihr selber gewürfelt und gewettet haben.

– Nietzsche wäre jetzt also nicht bloß die höhere, sondern auch die niedere Vernunft glücklich losgeworden. Der historische Gehalt des eingeflochtenen historischen Romans möge dahingestellt bleiben. Daß der »liebe Gott« ein höchst gewagtes Paradoxum ist, liegt auf der Hand. Eben deshalb dürfte man ihn doch etwas ernster nehmen: nur der gemeine Alltagsmensch sieht in dem Paradox sofort den bloßen Unsinn. Auf die Frage:

Wenn unser Verstand den Verstand und die Zwecke Gottes nicht erraten kann, woher erriet er diese Beschaffenheit seines Verstandes? und diese Beschaffenheit von Gottes Verstande?

darauf ließe sich wohl etwas Verständiges antworten. Ist denn das ein Widerspruch in sich selbst, daß ich ein Rätsel, das ich nicht lösen kann, als Rätsel erkenne? Auch wird Nietzsche mit dem Paradoxum, das er so leicht abtut, nicht so leicht fertig: es hat die Kraft, ihn noch weiterhin zu beunruhigen.

Zum Neuen Jahr 1882 schreibt er sich ins Stammbuch (V, 209):

Noch lebe ich, noch denke ich: ich muß noch leben, denn ich muß noch denken. Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum. Heute erlaubt sich jedermann, seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte, und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, – welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süßigkeit alles weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich einer von denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Häßliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und Alles in Allem und Großem: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!

Was den Amor fati in ihm entband, verrät der folgende Aphorismus (V, 209 ff.):

Es gibt einen gewissen hohen Punkt des Lebens: haben wir den erreicht, so sind wir mit all unsrer Freiheit, und so sehr wir dem schönen Chaos des Daseins alle fürsorgende Vernunft und Güte abgestritten haben, noch einmal in der größten Gefahr der geistigen Unfreiheit und haben unsere schwerste Probe abzulegen. Jetzt nämlich stellt sich erst der Gedanke an eine persönliche Providenz mit der eindringlichsten Gewalt vor uns hin und hat den besten Fürsprecher, den Augenschein, für sich, jetzt wo wir mit Händen greifen, daß uns alle, alle Dinge, die uns treffen, fortwährend zum Besten gereichen. Das Leben jedes Tags und jeder Stunde scheint nichts mehr zu wollen, als immer nur diesen Satz neu beweisen: sei es was es sei, böses wie gutes Wetter, der Verlust eines Freundes, eine Krankheit, eine Verleumdung, das Ausbleiben eines Briefes, die Verstauchung eines Fußes, ein Blick in einen Verkaufsladen, ein Gegenargument, das Aufschlagen eines Buches, ein Traum, ein Betrug: es erweist sich sofort, oder sehr bald nachher, als ein Ding, das »nicht fehlen durfte«, – es ist voll tiefen Sinns und Nutzens gerade für uns! Gibt es eine gefährlichere Verführung, den Göttern Epikurs, jenen sorglosen Unbekannten, den Glauben zu kündigen und an irgend eine sorgenvolle und kleinliche Gottheit zu glauben, welche selbst jedes Härchen auf unserm Kopfe persönlich kennt und keinen Ekel in der erbärmlichsten Dienstleistung findet? Nun – ich meine trotz alledem! wir wollen die Götter in Ruhe lassen, und die dienstfertigen Genien ebenfalls, und uns mit der Annahme begnügen, daß unsere eigene praktische und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen der Ereignisse jetzt auf ihren Höhepunkt gelangt sei. Wir wollen auch nicht zu hoch von dieser Fingerfertigkeit unserer Weisheit denken, wenn uns mitunter die Harmonie allzusehr überrascht, welche beim Spiel auf unsrem Instrumente entsteht: eine Harmonie, welche zu gut klingt, als daß wir es wagten, sie uns selbst zuzurechnen. In der Tat, hier und da spielt Einer mit uns – der liebe Zufall: er führt uns gelegentlich die Hand, und die allerweiseste Providenz könnte keine schönere Musik erdenken, als dann dieser unsrer törichten Hand gelingt.

Diese Bekenntnisse und Reflexionen erfordern eine sorgfältige Analyse. Nietzsche steht vor einem Scheideweg – an dem sich doch nur offenbart, daß er einer wirklichen, ernsten Entscheidung nicht mehr fähig ist.

Nietzsche erlebt etwas höchst Merkwürdiges. Tag für Tag, Stunde für Stunde kann er mit Händen greifen, daß ihm alle, alle Dinge, die ihn treffen, zum Besten dienen. Was hat das zu bedeuten? Daß eine fürsorgende Vernunft ihm das sendet, was ihm zum Besten dienen muß? Dies ist offenbar die nächstliegende Erklärung der auffallenden Tatsache, daß ihm alles zum Besten dient!

Aber Nietzsche hat bis dahin alle fürsorgende Vernunft im Dasein bestritten. Darin hat er die Freiheit seines Geistes betätigt. Deshalb sieht er in diesem Gedanken die Gefahr eines Rückfalls in die geistige Unfreiheit, in der er einst eine fürsorgende Vernunft geglaubt hatte. Aber droht nicht auch die Gefahr, daß ihm der Widerwille gegen die Wiederaufnahme einer von ihm aufgegebenen und bestrittenen Meinung die geistige Freiheit rauben könnte, das auffallende Erlebnis, das er jetzt hat, richtig zu deuten? Diese Gefahr sieht er nicht.

Und so wählt er denn eine Deutung, die seinem Erlebnis offenbar Gewalt antut. Daß ihm alles, was ihn trifft, zum Besten gereicht, deutet er dahin um, daß er alles, was ihn trifft, geschickt auszulegen und zurechtzulegen verstehe. Aber das ist doch zweierlei: ob er etwas als schon zu seinem Besten gereichend versteht; oder ob er etwas zu seinem Besten selbst erst auslegt und zurechtlegt. Nietzsche selbst hat früher vor dem in der Religion beliebten bloßen Umdeuten, Auslegen und Zurechtlegen aus guten Gründen nachdrücklich gewarnt!

Dabei übersieht er, daß ihm seine Erklärung gar nicht aus der Verlegenheit hilft. Er fände es kleinlich von einer fürsorgenden Vernunft, daß sie Bagatellen auf sein Bestes hin abzweckte, sein Bestes durch Bagatellen zu bewerkstelligen suchte. Aber ist es nicht von ihm ebenso kleinlich, daß er Bagatellen als zu seinem Besten gereichend auslegt und zurechtlegt? Freilich: quod licet bovi, non licet Jovi. Aber will er wirklich für sich statthaft finden, was er für »Gott« unstatthaft fände? Ist er so demütig? Übrigens ist es doch nicht kleinlich, durch das kleinste Mittel die größte Wirkung zu erzielen. Im Gegenteil: das Beste durch das Geringste, ja Schlechteste zu erreichen – wäre das nicht ein Erweis der höchsten Vernunft?

Nietzsche besteht die Probe geistiger Freiheit nicht. Gerade die Angst vor geistiger Unfreiheit macht ihn unfrei. Das verrät sich auch in dem Akt der Freiheit, zu dem ihn sein merkwürdiges Erlebnis veranlaßt.

»Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen.« Aber wenn er das erst lernen muß: so sieht er das Notwendige an den Dingen noch nicht als das Schöne; so weiß er auch noch nicht, daß das Notwendige an den Dingen sich immer als das Schöne erweisen wird; so darf er das nicht lernen wollen, daß er das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehe. Sonst kommt er in die Gefahr, sich einzubilden, daß das Notwendige das Schöne sei, auch wenn er es nicht so sieht. Soll ich, darf ich lernen wollen, daß ich alle Werke eines Künstlers (auch die er erst schaffen wird) schön finde? Muß ich es nicht darauf ankommen lassen, ob sie sich je wieder als schön erweisen? Muß ich mich nicht geradezu vor dem Vorurteil hüten, es müsse alles schön sein, was aus seiner Hand kommt?

»Ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein.« Welch ein Vorsatz: jede sich aufdrängende Frage mit Ja beantworten zu wollen! ein prinzipieller und habitueller Ja-sager werden zu wollen! Wird ihn dieser Vorsatz nicht in die Versuchung bringen, auch da Ja zu sagen, wo er Nein denkt! Nein fühlt! Wird durch diesen Vorsatz nicht sein künftiges Ja verdächtigt? entwertet?

» Amor fati: das sei von nun an meine Liebe!« Es ist sehr unvorsichtig, sich seine künftige Liebe vorschreiben zu wollen. Und vollends einem Fatum ewige Liebe zu geloben, das gar kein Fatum sein soll, sondern nur ein Spiel des Zufalls: das ist mehr als kühn! Der Vorsatz, dieser Liebe treu zu bleiben, könnte doch dazu führen, daß man sich zu lieben zwingt (das heißt: zu lieben einbildet), wo man von Herzensgrund haßt. Der Zufall kann doch zufällig sehr unliebenswürdig sein! Es liegt in seinem Begriff, daß er nur zufällig auch liebenswürdig ist. Einem solchen Wesen oder Unwesen sein Herz zu schenken (auf immer und ewig): das ist doch ein Gedanke von grotesker Komik! Und lassen wir das Fatum Fatum bleiben: ist es einem der von Nietzsche so hoch geschätzten Griechen eingefallen, das Fatum zu »lieben«??

Endlich: indem Nietzsche das Notwendige an den Dingen als das Schöne sehen lernt, hofft er einer von Denen zu werden, welche die Dinge schön machen. Ich meine: was ich schön sehe, brauche ich nicht erst schön zu machen; was ich erst schön machen will, sehe ich nicht schön. Und das Notwendige an den Dingen ist doch wohl gerade das, was sich von selbst macht, also nicht erst von mir gemacht werden will. Ist aber das Notwendige an den Dingen das Schöne, so braucht Nietzsche allerdings keinen Krieg gegen das Häßliche zu führen. Ja, dann braucht er nicht einmal durch Wegsehen zu verneinen. Denn an den Dingen ist alles notwendig (das ist doch wohl Nietzsches Meinung), also alles schön. Und will Nietzsche ein Jasagender werden, so beginne er sofort damit, daß er auch nicht mehr durch Wegsehen verneint, von Häßlichem, zu Verneinendem, überhaupt nicht mehr redet. So lasse er als exakter Philologe Worte wie »häßlich«, »schlecht«, »böse«, »Unglück« nur noch in Gänsefüßchen auftreten! Solche verneinende Worte kann ja im Ernst nur gebrauchen, wer das Notwendige in den Dingen noch nicht als das Schöne sehen und bejahen gelernt hat! … und so freilich doch auch Nietzsche, der das erst lernen will, obschon er es offenbar schon gelernt hat, da er es sonst nicht als lernenswert kennte …

Doch brechen wir ab. Wir finden uns in diesem schönen Chaos doch nicht zurecht …

Nietzsche glaubte sich einer gefährlichen Verführung zu erwehren. Mit der Gefährlichkeit dieser Verführung war es nun wohl nicht so arg: es kostete ja Nietzsche, wie man sieht, keine sonderliche Anstrengung, die drohende größte Gefahr abzuwehren, daß er von den Göttern Epikurs zu dem Gott des Christentums zurückkehre. Aber sehen wir doch noch genauer zu, was sich in jenem schönsten der Januare eigentlich entschied – oder als schon entschieden herausstellte.

Ob Nietzsche die merkwürdige Tatsache, daß ihm alle Dinge offensichtlich zum Besten dienen, auf einen Gott oder ein Schicksal oder den Zufall zurückführt, ist an sich gleichgültig. Erklärt wird der Zufall, als welcher das sonderbare Erlebnis sich einstellte, durch die Annahme eines blinden Schicksals selbstverständlich nicht; aber auch nicht durch die Annahme einer göttlichen Vorsehung. Die Wege Gottes sind auch nach der Meinung des Apostels Paulus unerforschlich; und wie es Gott angreift, daß er dem, der ihn liebt, alles zum Besten dienen lasse, ist auch dem Gottgläubigen so unverständlich wie dem Leugner Gottes die Laune des Zufalls. Zudem denkt sich Nietzsche das Fatum und sogar den Zufall doch als eine Art Gott, wenn er ironisch sagt, daß der »liebe« Zufall mit uns spiele, und wenn er sich feierlich zum amor fati bekennt und vor sich selbst verpflichtet. Will er »Gott« im Ernst aus dem Wege gehen, so möge er auch solche Worte vermeiden, die doch nicht als Phrase genommen werden sollen und doch nicht im Ernst genommen werden dürfen. Nietzsche glaubt doch an ein »Fatum« so wenig als an einen »Gott«.

Doch lassen wir das: »Namen sind uns Dunst«. Wenn aber Nietzsche sein merkwürdiges Erlebnis als ein bloßes Spiel des Zufalls erklärt, so nimmt er es mit dem Urteil, daß ihm alle, alle Dinge, die ihn treffen, fortwährend zum Besten gereichen, offenbar sehr leicht. Wenn alles, alles Wasser fortwährend zu Tale läuft, so heißt er das sonst wohl nicht einen Zufall, sondern ein Gesetz – das freilich auch nur zufällig so besteht. Sagt er statt Gesetz Notwendigkeit, so kommt es auf dasselbe hinaus. Er rechnet mit dem regelmäßig, gesetzmäßig, notwendig eintreffenden Zufall. Und wenn er das nicht tut, kann er unmöglich sagen, daß ihm was ihn trifft »zum Besten« diene. Denn ein einzelner, regelloser, wirklich nur zufälliger Zufall kann nicht »zum Besten« gereichen. Was muß sich Nietzsche unter seinem »Besten« vorstellen, wenn er urteilen zu können glaubt, daß ihm die aufgezählten Zufälligkeiten je als solche »zum Besten« dienen? Also etwa auch eine versalzene Suppe oder ein besonders gutes Stück Braten?! Nietzsche nimmt weder »alle, alle Dinge« ernst, noch sein »Bestes«; er nimmt sein ganzes auffallendes Erlebnis nicht ernst, – nimmt sich selbst nicht ernst. Sonst würde er sich nicht Übertreibungen zu schulden kommen lassen, die er einem Frommen gewiß nicht nachgesehen hätte. Er schneidet ja dann auch sein »fortwährend« auf ein »mitunter« zurück; und wenn man ihm scharf zugesetzt hätte – vielleicht hätten sich dann die gar so wunderbaren Harmonien, die mitunter dem Spiel des Schicksals entspringen sollen, als gar nicht so schrecklich »wunderbar« herausgestellt.

Weil Nietzsche sein merkwürdiges Erlebnis, also sich selbst, nicht ernst nimmt, kommt er nun auch aus einer eingebildeten Gefahr auf einen wirklich gefährlichen Weg. Er begnügt sich mit der Annahme, daß seine eigene praktische und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen der Ereignisse jetzt auf ihren Höhepunkt gelangt sei. Es geschehe ja auch auf einem gewissen hohen Punkt des Lebens, daß einem alles zum Besten gereiche! Aber ist wohl diese praktische und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen der Ereignisse, diese Fingerfertigkeit der Weisheit weiter zu pflegen? womöglich über ihren Höhepunkt hinaus zu steigern? Nun, so ernst nimmt Nietzsche die Sache wieder nicht, daß er diese Konsequenz zöge; er nimmt sie aber auch nicht einmal so ernst, daß er sich über den Wert des Aus- und Zurechtlegens der Ereignisse ernsthafte Gedanken machte. Er will nur nicht »zu hoch« von der Fingerfertigkeit seiner Weisheit denken. Daß das Auslegen und Zurechtlegen der Ereignisse, wenn es Ernst damit werden soll, erstens eine sorgfältige Feststellung des Tatbestands erfordert, zweitens eine sorgfältige Bestimmung des »Besten«, zu dem die Ereignisse gereichen, vielmehr: auf das die Ereignisse hintreiben sollen; daß aus der Tendenz in den Ereignissen eben das »Beste«, zu dem sie zu gereichen scheinen, in seiner wirklichen Bestimmtheit zu erkennen wäre: das fällt ihm nicht ein. Denn diese Tendenz in den Ereignissen, aus der das immer doch nur vermutete Beste zu erkennen wäre: die nimmt er ja gar nicht an. Darum fragt er sich auch nicht, wie er die in den Ereignissen liegende Tendenz, ihm zum Besten zu dienen, für sich am besten ausnützen könne: denn so geht das doch nicht zu, daß das Beste dem Menschen durch irgend einen seltsamen, unerklärlichen Zufall nur so zufiele.

Indem Nietzsche sich der vermeintlichen Gefahr eines Rückfalls in die geistige Unfreiheit erwehrt, bringt er sich in die wirkliche Gefahr, daß er sich die Ereignisse frei auslege und zurechtlege: ohne die Wirklichkeit sicher zu bestimmen, die er zu deuten hat; und ohne den Standpunkt und Gesichtspunkt sicher zu bestimmen, von dem aus, unter dem er seine Deutung versucht. Die offene Anwendung einer teleologischen Betrachtung des Lebens lehnt er ab, auch wenn sie sich ihm augenscheinlich, handgreiflich aufdrängt; und so ( naturam furca expellas, tamen usque recurret) – so verfällt er einer versteckten Anwendung derselben, die doch viel gefährlicher ist. Er ist nicht der einzige freie Geist, dem dies zustößt.

Wenn übrigens Nietzsche die Sache ernst genommen hätte, was er leider nicht tut, so hätte er sie richtiger angefaßt als der Apostel Paulus, an den er sich anlehnt, um ihn abzulehnen. Paulus schreibt Röm. 8, 28): »Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, Gott in allem zum Besten hilft, als die da sind nach dem Vorsatz Berufene«. Es diente also nur einer Auswahl von Menschen alles zum Besten, – und einer Auswahl von Menschen, die ohne ersichtlichen Grund ausgewählt werden. Denn die Liebe zu Gott sollte doch die Wirkung, kann aber nicht die Bedingung dessen sein, daß Gott dem Menschen in allem zum Besten hilft. Nietzsche dagegen leitet uns, wenn wir seine Erlebnisse und seine Gedanken darüber ernst nehmen, auf die Auffassung hin, daß dem Menschen auf einer gewissen Höhe des Lebens nur offenbar werde, es gereiche ihm tatsächlich alles zum Besten. Nicht die göttliche Fürsorge, nur das Verständnis für die göttliche Fürsorge wäre also einer Auswahl vorbehalten; und da diese Auswahl nur durch die Höhe der Entwicklung bedingt wäre, könnte jeder in die Zahl der Auserwählten kommen – dadurch eben, daß ihm, ohne daß er es versteht, schon alles zum Besten diente. Mit dem Verständnis würde dann die Liebe zu Gott oder der amor fati eintreten. Das hat Sinn; während der Glaube an einen liebenden Gott, der sich erbarmt wessen er will und wen er will verhärtet, wirklich keinen Sinn hat. Da Nietzsche den Apostel Paulus natürlich noch weniger ernst nahm als sich selbst, ist es ihm natürlich nicht eingefallen, über so was ernsthaft nachzudenken.


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