Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Kapitel.

Fast vier Jahrhunderte mögen seit den Geschehnissen, die in folgenden Kapiteln erzählt werden sollen, verflossen sein. Die Aktenstücke, in welchen sich die Grundzüge der Geschichte vorfanden und die ihr zugleich als Beweis der Wahrhaftigkeit dienen dürften, wurden lange Zeit in der prächtigen Bibliothek des Klosters zu St. Gallen aufbewahrt. Sie gingen jedoch, gleich mehreren anderen Schätzen dieses Gebäudes, verloren, als das Kloster von den französischen Revolutionsarmeeen geplündert wurde. Die Begebenheiten fallen, zufolge geschichtlicher Daten, in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, jener wichtigen Periode, wo das Rittertum, das seinem baldigen Erlöschen, und zwar in etlichen Gegenden durch die Einrichtung freier Verfassungen, in anderen durch Feststellung monarchischer Gewalt, nahe war, vorm Untergang ein letztes Mal aufblühte.

Die Bewunderung und Aufmerksamkeit der Mitwelt wurde zum ersten Male um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts auf die Schweiz gelenkt, als sich das Gerücht von schweren Gefechten verbreitete, in denen die deutsche Ritterschaft, bemüht, einen Aufstand ihrer in den Alpengegenden wohnenden Untertanen zu beschwichtigen, wiederholte und blutige Niederlagen hatte erleiden müssen, obgleich Ueberzahl, Manneszucht und der Vorteil vollkommener kriegerischer Rüstung auf ihrer Seite gewesen war. Mächtig erstaunte man, daß Reiterscharen, die den wesentlichsten Teil der damaligen Kriegsheere ausmachten, von Fußvolk vernichtet wurden, daß Männer, von oben bis unten in Stahl gehüllt, von Leuten überwältigt wurden, die höchst regellos nur mit Piken, Hellebarden und Keulen versehen waren; vor allem aber wollte es ein Wunder bedünken, daß Ritter und Herren von Bauern und Hirten in die Flucht gejagt worden waren.

Obgleich nun die entscheidenden Siege, durch welche die Schweizerlande ihre Freiheit errangen, und der Geist der Entschlossenheit und Einsicht, mit der die Glieder der kleinen Verbindung sich gegen die Gewaltmaßregeln Oesterreichs behauptet hatten, weit durch alle Nachbarländer den Ruhm der Schweizer verbreiteten, obgleich diese Schweizer selbst recht wohl die Macht erkannten, die sie durch ihre wiederholten Siege errungen hatten, so verblieben sie dennoch bis in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts und später noch im hohen Grade bei der Weisheit, Mäßigung und Einfachheit ihrer uralten Sitten, und dies in solchem Maße, daß diejenigen, denen die Führung der Truppen des Freistaates zur Kriegszeit vertraut wurde, gewöhnlich den Hirtenstab wieder ergriffen, wenn sie das Schlachtschwert ablegten, und gleich den römischen Feldherren von der Höhe, auf die ihre eigene Fähigkeit und die Aufforderung ihrer LandsIeute sie gestellt hatte, in den gleichen Stand wie ihre Mitbürger zurückkehrten.

So also beginnt um die Zeit des Herbstes im Jahre 1474 unsere Erzählung in den Waldkantonen des Schweizerlandes.

Zwei Reisende, von denen der eine schon bedeutend über die Blütezeit hinaus war, der andere etwa zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt sein mochte, hatten die Nacht im Städtchen Luzern, dem Hauptorte des Ländchens gleichen Namens, zugebracht, das in einer lieblichen Gegend am Vierwaldstädtersee liegt. Ihrer Kleidung und ihrem Wesen nach schienen sie Kaufleute höherer Klasse zu sein, und indem sie zu Fuße reisten, weil die Beschaffenheit des Landes diese Art zu reisen als die bequemste anempfahl, folgte ihnen ein junger Bauernbursche, von der italienischen Alpenseite her gebürtig, mit einem Maultiere, das er bisweilen bestieg, öfter jedoch am Zügel führte.

Die Reisenden hatten ein ungewöhnlich freundliches Ansehen und schienen sehr nahe miteinander verwandt zu sein. Wahrscheinlich waren sie Vater und Sohn; denn in der kleinen Herberge, wo sie am Abend vorher übernachtet hatten, war die Ehrfurcht und Hochachtung, die der jüngere dem älteren erwies, den Eingeborenen nicht entgangen, die, gleich andern in Einsamkeit lebenden Leuten, um so neugieriger waren, als es ihnen an Mitteln gebrach, sich Welt- und Menschenkenntnis zu verschaffen. Auch bemerkten sie, daß die Kaufleute, unter dem Vorwande, Eile zu haben, ihre Warenballen nicht öffnen wollten, auch keine Lust bezeigten, Handel mit den Luzernern zu treiben, indem sie behaupteten, daß sie keine Artikel führten, die sich für den dortigen Markt schickten.

Indessen hatte der junge Bursche, der sie begleitete, verlauten lassen, die Reisenden kämen aus Venedig und hätten dort große Ankäufe von jenen Waren gemacht, wie sie aus Indien und Aegypten nach diesem berühmten Stapelort, dem gemeinschaftlichen Markt des Abendlandes, gebracht wurden und von dort nach allen Gegenden Europas weitergingen. Endlich hatten die Schweizermädchen seit kurzem die Entdeckung gemacht, wie Putzsachen und Edelsteine gar lieblich anzuschauen sind, und obgleich ihnen keine Hoffnung blühte, sich dergleichen Schmuck und Herrlichkeiten anzueignen, so waren sie doch sehr begierig, den reichen Vorrat unserer Wanderer zu betrachten und zu betasten, und waren nun nicht wenig ärgerlich, daß ihnen dies Vergnügen versagt war.

Ferner war die Neugier der Landeseinwohner durch den Umstand rege gemacht, daß die beiden Wanderer in einer Sprache miteinander redeten, die zuverlässig weder Deutsch noch Italienisch, noch Französisch war, sondern von der ein alter Mann, der in der Schenke diente und einst Paris gesehen hatte, mutmaßte, daß sie die Sprache der Engländer wäre, eines Volkes, von dem man nichts weiter wußte, als daß es einen kühnen Insulanerstamm bildete, der viele Jahre hindurch Krieg mit Frankreich führte und von dem einst eine starke Truppe die Waldstätte überfiel und im Tale Rußwyl eine gewaltige Niederlage erlitt, deren sich eisgraue Männer in Luzern, auf welche die Sage von den Vorvätern übergegangen war, noch recht wohl erinnern wollten.

In dem Burschen, der den Führer der Fremden abgab, erkannte man bald einen Jüngling aus dem Graubündnerlande, der, so gut seine Kenntnisse der Gebirgsgegend es ihm gestattete, sein Amt bei unsern Reisenden verwaltete. Er sagte, daß seine Gebieter die Absicht hätten, nach Basel zu gehen, daß sie jedoch zu wünschen schienen, auf Umwegen und wenig besuchten Straßen dorthin zu gelangen.

Alle diese eben mitgeteilten Umstände erhöhten das allgemeine Verlangen, mehr von den Reisenden und deren Handelswaren zu erforschen. Dennoch ward kein Warenballen aufgeschnürt, und die Handelsmänner verließen am andern Morgen Luzern und setzten ihre beschwerliche Reise fort, indem sie durch fast wegloses Gelände zogen, um jede Begegnung mit räuberischen Rittern zu vermeiden, die nach Gefallen Krieg führten und mit aller Frechheit kleinlicher Tyrannei Zölle und Abgaben allen denen auferlegten, die auf eine Meile Wegesbreite sich ihren Besitzungen nahten.

Nachdem die Reisenden Luzern verlassen hatten, wanderten sie vier Stunden lang glücklich weiter. Wie abschüssig und gefahrvoll der Weg auch sein mochte, so wurde er ihnen doch durch alle die herrlichen Naturbilder angenehm gemacht, an denen die Schweiz einen so verschwenderischen Reichtum hat: Felspässe, grünende Täler, breite Seen und rauschende Waldströme, alles überragt vom blendendweißen Hermelin der himmelhohen Gletscher.

Unsere Handelsmänner betrachteten halb mit Schrecken, halb mit Staunen die erhabene Natur ringsum. Ihre Straße führte am Ufer des Sees hin, und zwar bisweilen eben hart am Wasser, bisweilen stieg sie bis zum Kamm des Gebirges an, und wand sich an dem Rand von Abgründen hin, die in das Wasser so steil und schroff hinabschauten, wie die Mauer eines Schlosses sich an dem Graben hinaufzieht, der ihr zur Schutzwehr dient. Ein anderes Mal schritten sie durch eine Gegend von milderem Charakter, erblickten liebliche, grünende Anhöhen und tief ruhende Täler, wo Weiden, urbare Felder und Ortschaften lagen, die aus hölzernen Hütten und einer kleinen Kirche mit abenteuerlichem Turme bestanden.

»Arthur,« sagte der Aeltere der Wanderer, als beide, wie auf Verabredung, still standen, um eine der soeben beschriebenen Szenen zu betrachten: »Arthur, dieser Bach gleicht dem Leben eines guten und glücklichen Menschen.«

»Und der Wassersturz,« entgegnete Arthur, »der sich von jener fernen Höhe herab ergießt und seinen Lauf durch einen Streifen weißen Schaumes bezeichnet, wem mag er gleichen?«

»Dem Leben eines wackeren und unglücklichen Mannes,« versetzte der Vater,

»So sei der Wassersturz das Bild meines Lebens,« sprach Arthur, »ein kühner Strom, den menschliche Gewalt nicht dämmen kann; mag dann sein Lauf ebenso kurz wie rühmlich sein!«

»Das ist eines Jünglings Gedanke,« entgegnete der Vater, »doch weiß ich es gar wohl, er ist so tief in Deinem Herzen eingewurzelt, daß nichts als die rauhe Hand des Mißgeschickes ihn wird ausrotten können. Lerne, daß bis zur Mitte des zurückzulegenden Lebens die Menschen kaum wissen, wahres Glück von Mißgeschick zu unterscheiden, oder vielmehr, daß sie das als Gaben des Glückes begrüßen, was sie mit größerem Rechte als Kennzeichen ihres Unglückes wahrnehmen sollten. Schau hin zu jenem Berge, der auf seiner gerunzelten Stirn eine Krone von Wolken trägt, die sich im Sonnenschein bald erhebt, bald wieder senkt. Ein Kind mag diese Wolke für eine Krone des Ruhmes ansehen, ein Mann erkennt in ihr das Vorzeichen nahen Sturmes.«

Arthur folgte der Richtung des Blickes seines Vaters nach der dunklen und beschatteten Höhe des Pilatusberges.

»Ist denn der Nebel auf jenem wilden Berge so prophetischer Art?« fragte der Jüngling.

»Lege diese Frage dem Antonio vor,« war des Vaters Antwort; »er wird Dir die Legende erzählen.«

Der Bub bekreuzte sich andächtig und erzählte die Volkssage vom Tode des gottlosen Statthalters von Judäa: wie er sich, nachdem er jahrelang in den Schluchten des nach ihm benannten Berges zugebracht, endlich mehr aus Verzweiflung als Reue in den trüben tiefen See auf dem Gipfel des Berges gestürzt hätte. Ob nun das Wasser sich weigerte, das Henkeramt an dem Elenden zu vollziehen, oder ob er wirklich ertrunken sei und seitdem als Gespenst den Ort unheimlich machte, wo er seinen Selbstmord verübte: das wagte Antonio nicht zu entscheiden. Allein oft, erzählte der Bursche, sei eine Gestalt zu sehen, die aus dem trüben Gewässer aufzutauchen und die Gebärden eines Menschen zu machen schiene, der sich die Hände wüsche; und dann sammelten sich sofort dunkle Nebelwolken um das Bett des Höllensees (so heißt das Wasser von Alters her), hüllten den ganzen obern Teil des Berges in Dunkelheit und weissagten einen Orkan, der auch sicherlich jedesmal nach kurzer Frist erfolgte.

Antonio bekreuzte sich nochmals, und seine Zuhörer, die beide zu gute Katholiken waren, als daß sie den geringsten Zweifel in die Wahrheit seiner Erzählung hätten setzen sollen, taten das gleiche.

Man sah an den rauhen Wänden des Berges dicke Wolken von Nebel sich herabwälzen, die durch die gähnenden Spalten hinrollten und dem rauschenden Lavastrom glichen, der am Rücken eines Vulkanes zu Tage quillt. Die schroffen Ueberhänge jener Klüfte zeigten ihre spitzen und rauhen Ecken über dem Qualme, gleichsam als teilten sie den herabwallenden Nebelstrom, der zwischen ihnen hinwogte. Als schneidender Gegensatz zu diesem düstern und dräuenden Gebilde erglänzte der Rücken des Rigi in aller Pracht des herbstlichen Sonnenscheins,

Während die Reisenden diesen überraschenden Kontrast beobachteten, der gleichsam einen herannahenden Kampf zwischen Licht und Finsternis verkündete, ermahnte ihr Führer sie in seinem aus italienischen und deutschen Brocken zusammengeworfenen Kauderwelsch zur Eile. Das Dorf, in das er sie führen wolle, sei noch weit entfernt, der Weg schlecht, und falls der Böse (wobei er mit dem Zeichen des Kreuzes auf den Pilatusberg wies), seine Finsternis auf das Tal herabsenken würde, sogar gefährlich. Die also angetriebenen Reisenden rückten entschlossen die Mütze in die Stirn, zogen die Schnalle des Gürtels fester, der ihr Gewand zusammenhielt, und setzten, in der Hand den mit einer Eisenpike versehenen Gebirgsstecken, ihre Wanderung mit unermüdetem Eifer und furchtlosem Herzen fort.

»Ich möchte,« sagte der Aeltere nach einer Weile, »wir besäßen jene geheimnisvolle Nadel, von der die Seefahrer erzählen. Ihre Spitze soll sich ewig nach Norden wenden und sie in den Stand setzen, auf dem Wasser auch dann ihre Bahn zu halten, wenn weder ein Vorgebirge, noch eine Landzunge, weder Sonne, noch Mond, noch Steine, noch irgend ein Zeichen am Himmel und auf Erden ihnen sagt, wohin sie steuern sollen.«

»Diese Nadel würde uns hier in den Bergen schwerlich von Nutzen sein,« antwortete der Jüngling, »denn wie wundersam sie auch ihre Spitze gegen den nördlichen Polarstern wenden möge, sobald sie, wie auf dem Meere, auf ebener Fläche ruht, so läßt es sich doch nicht denken, daß sie das auch hier tun würde, wo diese ungeheuren Berge sich gleich Mauern zwischen die Stahlspitze und das Gestirn lagern, nach welchem sie hinstrebt.«

»Ich befürchte,« fuhr der Vater fort, »unser Führer, der von der Stunde an, wo er sein mütterliches Tal verließ, immer einfältiger geworden ist, wird uns auch nicht mehr viel nützen können. Kannst Du mir sagen, mein Bursch,« fügte er hinzu, indem er Antonio in schlechtem Italienisch anredete, »ob wir auf rechtem Wege sind?«

»So es dem heiligen Antonius gefällt!« sprach der Führer, der offenbar viel zu bestürzt war, als daß er die Frage hätte geradezu beantworten können.

»Und jenes halb mit Nebel überzogene Gewässer, das am Fuße dieses greulichen Abhanges durch den Dunst blickt, ist es noch ein Teil des Sees von Luzern, oder sind wir zu einem andern Gewässer gelangt, seit wir die letzte Höhe hinabstiegen?«

Antonius konnte nichts Gewisses darüber angeben.

»Hund von einem Italiener!« rief der jüngere Reisende, »Du verdienst, daß man Dir die Knochen zerschlägt, weil Du ein Amt übernahmst, das Du nicht ausführen kannst.«

»Ruhig, Arthur,« sagte der Vater, »wenn Du den Jungen erschreckst, so rennt er von dannen, und wir verlieren auch den geringen Vorteil, den uns seine etwaige Kenntnis der Gegend noch gewähren könnte. Komm her zu mir, mein Bursch,« fuhr er dann in seinem kümmerlichen Italienisch fort, »erschrick nicht vor dem heftigen Jüngling, dem ich nicht gestatten werde, daß er Dich beleidige; aber nenne mir, so Du kannst, die Namen der Dörfer, durch welche wir auf unserer heutigen Wanderung ziehen.«

Die sanfte Redeweise des älteren Reisenden machte dem Burschen neuen Mut. Er war nicht wenig über den barschen Ton und die dräuenden Ausdrücke des jüngeren Gefährten erschrocken. Nun sagte er, in seinem schwerfälligem Idiom einen Schwall von Namen her, in denen die deutschen Gaumenlaute sich seltsam mit den zarten Vokalklängen der italienischen mischten. Der Reisende vermochte jedoch aus seiner Antwort nicht klug zu werden, so daß er schließlich ungeduldig ausrief: »So führe uns im Namen der heiligen Mutter oder des heiligen Antonius, wenn Dir das lieber ist; wir verlieren, wie ich sehe, nur Zeit bei dem müßigen Versuche, uns einander verständlich zu machen.«

So schritten sie denn abermals weiter, wie bisher, jedoch mit dem Unterschiede, daß der Führer, der das Maultier lenkte, jetzt voranging und die beiden ihm folgten, nachdem sie sonst sich den Weg durch Zuruf von dem hinter ihnen kommenden Jungen hatten zeigen lassen. Mittlerweile verdickten die Wolken sich mehr und mehr, und der Nebel, der anfangs dünner Dunst gewesen war, begann jetzt in Gestalt großer Regentropfen herabzufallen, die sich wie Tau an die Mäntel der Reisenden hängten. Fernher rasselnde und heulende Töne dröhnten von den Bergen herüber.

Als sie so etwa drei oder vier Meilen weiter gegangen waren, die ihnen, so aufs Geratewohl zurückgelegt, noch länger vorkamen, gerieten sie endlich in einen Engpaß, der sich am Rande eines Abgrundes hinstreckte. Unten floß Wasser, jedoch war nicht zu erkennen, ob es ein Bach, ein Fluß oder ein See war.

Bisher war der Pfad, so steil und rauh er war, doch immer deutlich sichtbar gewesen, hatte auch Spuren von Reitern und Fußgängern gezeigt. Jetzt aber, als Antonio mit dem Maultiere eine vorragende Höhe, um deren Gipfel herum der Weg eine scharfe Krümmung bildete, erreicht hatte, stand der Bursch plötzlich still, indem er sich mit dem ihm eigenen Ausruf an seinen Schutzheiligen wendete.

Es wollte Arthur bedünken, als teilte das Maultier den Schrecken seines Führers; denn es sträubte sich, stemmte seine Vorderfüße gespreizt auf den Boden und schien durch diese Stellung den Entschluß anzudeuten, keinen Schritt weiter zu gehen.

Arthur stand im nächsten Augenblick neben Antonio und dem Lasttiere auf der Platte eines Felsens, wo der Weg ganz aufzuhören schien und ein jäher Abgrund gähnte; doch ließ der Nebel die Tiefe der Schlucht, obwohl dieselbe über dreihundert Fuß betragen mochte, nicht unterscheiden.

Bestürzung malte sich in den Zügen der Reisenden; sie starrten hinab in den Nebelschlund zu ihren Füßen und spähten vergebens nach irgend einer Fortsetzung des Pfades.

Während sie unschlüssig dastanden, wollte der Vater eben vorschlagen, auf dem bisher zurückgelegten Wege wieder umzukehren, als ein lautes Geheul des Windes, wilder, als sie es bisher gehört hatten, in das Tal herunterbrauste. Alle drei sahen die Gefahr vor Augen, von dem schwindligen Punkt, auf dem sie standen, herabgeschleudert zu werden, und griffen nach Busch und Felsspitze, um sich daran festzuhalten, während sogar das arme Maultier sich vor dem mit unerwarteter Wucht heranbrechenden Windstoß zu sichern suchte.

Der Wind zerriß dabei zwei bis drei Minuten lang den Nebelschleier, zeigte ihnen die Beschaffenheit des Ortes und löste das Rätsel des plötzlich abgebrochenen Weges.

Arthurs schneller, scharfer Blick erkannte sogleich, daß der Pfad von der Felsenspaltung aus, auf der man jetzt stand, sich in gleicher Richtung aufwärts an einer Erdbank entlanggezogen hatte, die alsdann die obere Fläche einer steilen Felsenschicht gebildet haben mochte. Allein durch eine der Naturerschütterungen, die sich in jenen wilden Gegenden, wo die ewige Natur nach so furchtbarem Maßstabe verfährt, oft zu ereignen pflegen, hatte die Erdlage einen Riß bekommen oder war vom Felsen herabgestürzt und zusamt dem Fußpfade, den Büschen und Bäumen in dem Gießbach unten versunken; denn als einen solchen Gießbach, nicht aber als einen See oder als einen Arm des Sees, wie sie bis jetzt gemeint hatten, konnten sie nunmehr das Gewässer zu ihren Füßen erkennen.

Die unmittelbare Ursache dieser Erscheinung mochte wohl eine in jenem Lande nicht selten vorkommende Erderschütterung gewesen sein. Die bei ihrem Falle umwühlte Erdbank war jetzt eine wilde Trümmermasse und zeigte etliche Bäume, die in horizontaler Lage wuchsen, oder andere, die mit ihrem Wipfel in den Abgrund gestürzt waren. Der schauerliche Felsabhang, der hinter ihnen sich erhob, bildete die Mauer eines fürchterlichen Abgrundes, der wie ein jüngst geschlagener Steinbruch aussah.

Am fernen Ufer des Gewässers, weiter hinauf im Tale, konnte Arthur einen viereckigen Bau erkennen, der sich aus den mit Felsen durchsetzten Fichtenwäldern erhob, von beträchtlicher Höhe war und den Trümmern eines gotischen Turmes glich. Arthur zeigte dem Antonio dieses Gebäude und fragte ihn, ob es ihm bekannt wäre; denn er dachte, es müsse wegen der Besonderheit seiner örtlichen Lage ein Wahrzeichen sein und wer es einmal gesehen hätte, könnte es schwerlich vergessen.

Der Bursche erkannte den Turm auch sogleich und rief freudig aus, das sei der Geierstein oder Geierfelsen. Den Namen trüge der Ort nach einer ungeheuren Felsenspitze, die sich in seiner Nähe fast in der Gestalt eines Kirchturmes erhöbe, und auf deren Krone der Lämmergeier (einer der größten unter den bekannten Raubvögeln) vor alters das Kind des ehemaligen Schloßherrn hinweggeführt hätte. Er erzählte nun auch, was der Ritter von Geierstein Unserer lieben Frau zu Einsiedeln gelobt hätte, wenn sie sein Kind rettete; und noch während er also sprach, hüllten Schloß, Felsen, Wald und Abgrund sich wieder in dichten Nebel. Kaum hatte er sein wundersames Märlein beendet, nach welchem das Kind dem Vater unversehrt zurückgegeben worden sei, da schrie er plötzlich: »Vorsicht! Der Sturm – der Sturm!« Dieser blies heran und gewährte, indem er den Nebel auseinander jagte, den Reisenden nochmals den Anblick des Grauens, das sie hier umringte.

»Ha!« rief Antonio triumphierend aus, als der Windstoß nachließ, »der alte Pontius scheint nichts von Unserer lieben Frau zu Einsiedeln hören zu mögen; allein sie wird schon mit ihm fertig werden – Ave Maria!« – »Jener Turm,« sagte der jüngere Reisende, »scheint unbewohnt zu sein. Ich sehe keinen Rauch daraus aufsteigen.« – »Er ist seit manchem lieben Tag nicht bewohnt gewesen,« entgegnete der Führer. »Bei alledem wollte ich, wir wären drinnen. – Der ehrliche Arnold Biedermann, der Landammann im Kanton Unterwalden, wohnt in der Nähe, und ich versichere Euch, Fremdlinge werden sich, wo er zu befehlen hat, nach seinem Tisch und Keller zurücksehnen.«

»Ich habe von ihm gehört,« sprach der ältere Reisende, den Antonio mit dem Namen Signore Philippson anzureden gelernt hatte, »er ist ein guter und gastfreier Mann, der das Ansehen, das er unter seinen Landsleuten genießt, in vollem Maße verdient.«

»Ihr spracht Wahres von ihm, Signore,« entgegnete der Führer, »und ich wollte, wir könnten seine Wohnung erreichen, wo Ihr gastliche Aufnahme und gute Zurechtweisung zur nächsten Tagesreise mit Sicherheit erwarten könntet. Allein, wie wir zu dem Geierschlosse gelangen sollen, ohne Flügel wie ein Geier zu haben: die Frage ist schwer zu beantworten.«


 << zurück weiter >>