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Drittes Kapitel.

»Jetzt, liebes Kind,« sagte Arthur, »muß ich hin zu meinem Vater. Das Leben, das ich Eurem Beistande verdanke, kann nicht eher Wert für mich haben, als bis es mir gestattet, zu seiner Rettung zu eilen.«

Hier wurde er durch einen abermaligen Hörnerruf unterbrochen, der von dem Orte herzuschallen schien, an welchem der Jüngling den älteren Philippson und dessen Führer verlassen hatte. Arthur blickte nach der Gegend hin, allein die Abplattung war von dem Felsen aus, auf dem er jetzt mit der Schweizerin stand, nicht zu sehen.

»Es würde mir ein leichtes sein, hinunterzusteigen,« sagte das Mädchen. »Allein ich bin überzeugt, daß sie unter sicherer Obhut sind; denn das Horn verkündigt, daß mein Ohm oder gar einer meiner jungen Vettern sie erreicht hat. Sie sind in diesem Augenblicke auf dem Wege nach dem Geierstein, nach welchem ich, so Ihr es erlaubt, Euch führen will. Wir würden nur Zeit verlieren, wenn wir Eure Freunde aufsuchen wollten; denn von dem Orte aus, wo Ihr sie verließet, werden sie den Geierstein eher als wir erreichen.«

Arthur folgte dem Mädchen und konnte nun seine Retterin etwas genauer betrachten. Ein Oberkleid, daß weder so fest anschloß, daß es die Körperform im scharfen Umriß hervorhob, noch so locker saß, daß es beim Gehen und Klettern hinderlich werden konnte, deckte zum Teil einen fester anschließenden Rock von einer anderen Farbe, der bis über Waden herabhing, jedoch die Knöchel sehen ließ. Um den Leib war das Oberkleid von einer mit Goldfäden durchwirkten Schärpe aus farbiger Seide gehalten, während vorn an der Brust auf eines Zolles Breite die Form und blendende Weiße eine schlanken Halses zum Vorschein kam. Das Antlitz zeigte die Spuren der freien Luft und der Sonne, ohne dadurch an Schönheit einzubüßen. Ihr schönes langes Haar fiel in einem Reichtum von Locken zu beiden Seiten des Angesichts herab, dem blaue Augen, liebliche Züge und holde Schlichtheit des Ausdrucks einen Charakter der Milde und selbstvertrauenden Entschlossenheit verliehen.

Ihr Wuchs war etwas über Mittelgröße, und ihre Formen, ohne im geringsten männlich zu erscheinen, hatten eher die herbe Art der Minerva als die stolze Schönheit der Juno oder die schmachtende Anmut der Venus. Die edle Stirn, die wohlgeformten und schlanken Glieder, der feste und doch leichte Schritt – vor allem der gänzliche Mangel jeder bewußten Darstellung körperlicher Schönheit sowie der offene und redliche Blick, der keine Spur von Neugierde verriet, aber auch deutlich erkennen ließ, daß sie selber nichts zu verhehlen hatte: dies alles waren Kennzeichen, daß Anna von Geierstein der Göttin der Weisheit und Keuschheit keineswegs unähnlich und unwürdig war.

Der Weg, den der junge Engländer unter der Führung dieses liebenswürdigen Mädchens zurückzulegen hatte, war beschwerlich und rauh, doch im Vergleich mit den Abgründen, die Arthur jüngst überschritten hatte, fast ungefährlich. Der Pfad war in der Tat eine Fortsetzung des Weges, der durch den mehrmals erwähnten Erdsturz unterbrochen worden war. Auch erfuhr Arthur von dem Mädchen, daß der Weg, den sie jetzt gingen, durch eine neuangelegte Verbindung mit dem, den er und sein Vater bis hierher verfolgt hatten, zusammenhänge. Wenn sie sich zu rechter Zeit nach diesem neu gemachten Fußweg gewendet hätten, wären sie der Gefahr entgangen, die ihnen auf der Abplattung jenes Felsens Einhalt gebot. Der Pfad ging bergan, führte gleichlaufend mit dem Gießbach weiter und bog dann jäh herum, gerade auf das Schloß zu. Der uralte, ziemlich schmucklose Turm des Schlosses Geierstein erhob sich in schrecklicher Würde an dem steilen Rande des entgegengesetzten Waldstromufers. Der Gießbach fällt von dem Abhange des Geiersteins in einem etwa hundert Fuß hohen Katarakt steil herunter und braust dann, ehe er in die Ebene tritt, durch eine Felshöhlung, die er sich vielleicht vor Urzeiten gegraben hat.

Hinabschauend auf dies ewig tosende Wasser, stand der alte Turm dem Rande des Abgrundes so nahe, daß die Quadersteine des Fundaments einen Teil des Gebirgsfelsens zu bilden, mit ihm verwachsen zu sein schienen. Nach einem zu jenen Zeiten in Europa herrschenden Gebrauche war dem Gebäude die Form eines massiven und vierkantigen Turmes gegeben, dessen verfallene Bedachung mit malerischen Seitentürmen von verschiedener Gestaltung und Größe besetzt war: etliche waren rund, andere winklich, etliche verfielen schon in Trümmer, andere hielten sich noch so leidlich.

Ein gegittertes Falltor, das hinter etlichen zum Turme führenden Stufen herabfiel, hatte in früherer Zeit zu einer Brücke geleitet, die das Schloß mit jener Seite des Gießbaches in Verbindung setzte, auf der Arthur Philippson und seine schöne Führerin jetzt standen. Ein einzelner Schwibbogen oder vielmehr nur die Rippe eines solchen war noch stehen geblieben und überwölbte den tiefen Abgrund.

Da zur Zeit, von welcher wir reden, das Schloß gänzlich verwüstet und entfestigt dalag, Tor, Zugbrücke und Vorwall dahin waren, so wurden sowohl der verfallene Torweg als der schmale Brückenbogen, der das Wasser überspannte, als Uebergang zwischen den beiden Stromufern von den Bewohnern der Nachbarschaft benützt, die sich mit der Zeit an die gefährliche Brücke gewöhnt hatten.

Arthur Philippson hatte mittlerweile, gleich einem guten frisch angezogenen Bogen, die Spannkraft der Seele wieder erhalten, die ihm sonst eigen zu sein pflegte. Zwar folgte er nicht mit vollkommen hergestellter Fassung seiner Führerin, als sie leichthin über die schmale Brücke hüpfte, die aus rauhen Steinen geformt und durch das Spritzwasser des nahen Wassersturzes feucht und schlüpfrig geworden war. Auch legte er nicht ohne Bangigkeit diesen gefährlichen Pfad hoch über dem Wasserfall zurück, dessen dumpfes Geheul ihm gewaltig in die Ohren drang, wiewohl er Sorge trug, den Kopf nicht zu den Schrecknissen des Sturzes hinzuwenden, weil ihn sonst von neuem der Schwindel gepackt hätte. Arthur schämte sich, dort Feigheit blicken zu lassen, wo ein junges Mädchen soviel Beherztheit zeigte und folgte seiner leicht dahineilenden Führerin über die gähnende Tiefe hinweg und durch das verfallene Gattertor, das zu ebenfalls teilweise in Trümmer liegenden Treppenstufen leitete.

Der Torweg führte zu einer Masse von Ruinen, über die Efeu und anderes Schlingkraut einen wilden Mantel gebreitet hatte, und sie gelangten durch das Haupttor des Schlosses an eine wildromantische Stelle. Auch von hier aus gesehen, erhob das Schloß sich bedeutend über seine Umgebung. Denn vor ihm dehnte sich eine steile Anhöhe aus, die wie ein Glacis neuerer Zeit zur Festigung des Gebäudes abgeböscht war. Sie war mit jungen Bäumen bedeckt, aus denen der Turm bizarr emporragte. War man über dieses vorhängende Dickicht hinaus, so bot sich abermals ein anderer Anblick. Ein mehr als hundert Morgen großer Landstrich schien aus den Felsen und Bergen hervorzuwachsen, die ebenso wild und unwegsam waren, wie die, in denen sich unsere Reisenden am Morgen verirrt hatten. Die Oberfläche dieses kleinen Grundstückes bot viele Mannigfaltigkeit dar; im allgemeinen zeigte sie eine sanfte Steigung nach Südwesten hin. –

Das Augenmerk fiel hier vor allem auf ein geräumiges Haus, das aus mächtigen unsymmetrisch zusammengefügten Steinklumpen geformt war, während der Rauch, der aus dem Gebäude aufstieg, die Geräumigkeit der Nebenhäuser und der urbare Zustand der umherliegenden Gefilde zu erkennen gaben, daß dieses Haus, wenn auch kein Sitz des Glanzes, so doch der Bequemlichkeit und Wohlhabenheit sein müßte. Südwärts des Hauses lag ein Obstgarten, reich an fruchttragenden Bäumen. Gruppen von Walnuß- und Kastanienbäumen zeigten sich in stattlicher Fülle, und sogar eine drei bis vier Morgen große Weinpflanzung war vorhanden. Jetzt wird Wein in der Schweiz allgemein gebaut, allein in jener Vorzeit beschränkten sich ausschließlich nur wohlhabende Eigentümer darauf. Auch fette Weidetriften waren auf der erwähnten Bergfläche wahrzunehmen. Dorthin wurde eine schöne Gattung von Zuchtvieh, das den Stolz und Reichtum der Schweizer Bergbewohner ausmacht, von den Alpmatten, wo es während der Sommerzeit geweidet hatte, herabgetrieben, damit es eher Schutz und Obdach fände, wenn die Herbststürme kämen. Durch dieses Bergparadies ging der Lauf eines Silberbaches, der bald sich dem Blicke der Sonne zeigte, welche um diese Zeit den Nebel zerteilte, bald an seinen sanft anschwellenden Ufern von hohen Bäumen überschattet war, oder sich unter Hagedornbüschen und Haselnußsträuchern verbarg. Dieses Gewässer vereinigte sich, gleich einem Jünglinge, der aus dem friedlichen, fröhlichen Bezirke des Knabenlebens in die wild bewegte Bahn des tätigen Lebens stürzt, mit dem ungestümen Gießbach, der, von den angrenzenden Felsen herabtosend, den Turm des alten Schlosses Geierstein erschütterte und dann heulend in die Tiefe sauste, in der unser jugendlicher Reisender fast den Tod gefunden hätte.

Das, was hier eingehend beschrieben worden, beschäftigte den jungen Philippson nur wenige Minuten; denn an einem sanften Abhange, gegenüber der Meierei, wie man das Hauptgebäude auf jener Fläche wohl nennen durfte, erblickte er fünf oder sechs Personen, unter denen er seinen Vater erkannte, den wiederzusehen er vor kurzem alle Hoffnung aufgegeben hatte. Munteren Schrittes folgte er seiner Führerin, als diese ihn den steilen Abhang hinabführte, an welchem die Ruine des Turmes sich erhob. Sie näherten sich der Gruppe, die Arthur erblickt hatte. Sein Vater eilte ihm entgegen, begleitet von einem ziemlich betagten Manne von riesenhaftem Wuchse und einer so einfachen und majestätischen Haltung, daß man sogleich in ihm einen würdigen Landsmann Tells, Stauffachers und Winkelrieds erkannte.

Aus natürlich einfacher Artigkeit, um Vater und Sohn bei diesem rührenden Wiedersehen allein zu lassen, gab der Landammann selbst, als er mit dem älteren Philippson vorschritt, seinen Begleitern, die alle junge Leute zu sein schienen, ein Zeichen zurückzubleiben. Sie taten es und erkundigten sich, wie es schien, bei dem Führer Antonio nach den Abenteuern der Fremden. Anna, die Führerin Arthurs, hatte nur noch Zeit, dem jungen Philippson zu sagen: »Jener Greis ist mein Ohm, Arnold Biedermann, und jene Jünglinge sind meine Vettern,« als Biedermann und Arthurs Vater auch schon dicht vor ihnen standen. Mit eben dem Zartgefühle, das er vorhin gezeigt hatte, gab der Landammann seiner Nichte einen Wink, ein wenig zu ihm zur Seite zu treten; jedoch während er sich von ihr über ihre Wanderung berichten ließ, beobachtete er Vater und Sohn, soweit sein natürliches Gefühl für Schicklichkeit es ihm erlaubte. Indessen benahmen die beiden bei ihrem Wiedersehen sich ganz anders, als der biedere Schweizer erwartet hatte.

Wir haben den älteren Philippson bereits als einen Vater geschildert, der innig an seinem Sohne hing und bereit war, sich in den Tod zu stürzen, als er ihn verloren glaubte. Allein wie viele seiner Landsleute, verbarg der Engländer die starken, lebhaften Gefühle, die ihn bewegten, unter einem Anschein von Kälte und Zurückhaltung. Als er seinen Sohn erblickte, beflügelte er die Schritte, doch als sie einander gegenüberstanden, sprach er eher in einem Tone des Tadels und der Ermahnung als der zärtlichen Vaterliebe. – »Arthur, mögen Dir die Heiligen die Bekümmernis vergeben, die Du mir an diesem Tage verursacht hast!« – »Amen!« versetzte der Jüngling. »Ich bedarf der Verzeihung, so ich Euch bekümmert habe. Dennoch glaubt, daß ich in der besten Absicht handelte.« – »Gut ist's, Arthur, daß Deine eigensinnige Laune der besten Absicht entsprang, sonst wäre sie vielleicht Dein Tod gewesen.« – »Daß sie es nicht war,« antwortete der Sohn bescheiden und unterwürfig, »das verdanke ich diesem Mädchen« – und dabei zeigte er auf Anna, die wenige Schritte weit von ihm stand. – »Dem Mädchen soll mein Dank werden,« sagte der Vater, »sobald ich nur erst weiß, auf welche Weise ich ihr gebührend danken kann; allein hältst Du es für schicklich und geziemend, von einem Mädchen den Beistand anzunehmen, den Du als Mann vielmehr dem schwächeren Geschlecht erweisen solltest?« – Arthur senkte das Haupt, und hohe Röte trat auf seine Wangen; während Arnold Biedermann, der sich in des Jünglings Gefühle zu versetzen wußte, vorschritt und Teil an der Unterredung nahm.

»Seid nicht niedergeschlagen, mein junger Gast,« sagte er, »daß Ihr Eure Rettung einem Menschen aus Unterwalden verdankt; denn unser ganzes Land verdankt seine Freiheit dieses Landes ebensosehr dem Mut und der Klugheit seiner Töchter wie seiner Söhne. Und Ihr, mein älterer Gast, der Ihr, wie ich meine, schon manches Jahr erlebtet und vielerlei Länder sahet, müßt oft schon mit angesehen haben, wie der Starke durch Hilfe des Schwachen, der Stolze durch den Beistand des Demütigen gerettet wurde.«

»Mindestens,« versetzte der Engländer, »habe ich gelernt, nicht unnötigerweise über irgend einen Punkt mit einem Gastfreunde zu streiten, der mich so gütig aufnahm,« und nach einem Blicke auf seinen Sohn, aus dem die tiefste Rührung zu erglänzen schien, setzte er, während die Gesellschaft sich dem Hause zuwendete, eine Unterredung fort, die er mit seinem neuen Bekannten angeknüpft hatte, bevor Arthur und das Mädchen zu ihnen gekommen waren.

Unterdessen fand Arthur Muße, die Gestalt und Züge seines schweizerischen Wirtes näher zu betrachten. Seine Kleidung wich im Schnitte nicht sehr von der oben beschriebenen Bekleidung des Mädchens ab. Sie bestand aus einem Oberkleide, das, ähnlich einem Hemd der neueren Zeit, über das Unterwams gezogen und nur an der Brust offen war. Allein das Untergewand des Mannes war bedeutend kürzer und hing nicht tiefer herab, als der »Kilt« oder Schurz der Hochlandsschotten; die Stiefel oder Gamaschen gingen bis über das Knie hinauf. Eine Mütze aus Marderfell, mit einem silbernen Schilde versehen, war das einzige Kleidungsstück, das einen Zierat aufwies. Der breite Gürtel war aus Büffelleder und wurde von einer Messingschnalle zusammengehalten. Die Gestalt des Mannes, der diese landesübliche, fast ganz aus der Wolle der Bergschafe und den auf der Jagd erbeuteten Tierfellen gefertigte Kleidung trug, würde Ehrfurcht eingeflößt haben, wo immer sie sich gezeigt hätte, und das besonders in jenen kriegerischen Tagen, wo man den Mann nach seinen Körperkräften maß. Arnold Biedermann hatte die breiten Schultern, die mächtige Muskulatur eines Herkules, dabei aber geistvolle Züge, eine offene Stirn und große blaue Augen. Es begleiteten ihn mehrere Söhne und Verwandte, Jünglinge, von denen er, zwischen ihnen hinschreitend, Ehrerbietung und Gehorsam als einen ihm gebührenden Tribut empfing; gleichwie eine Herde junger Spießer dem Königshirsch zu gehorchen pflegt.

Als die Wanderer in Arnold Biedermanns Wohnung eintraten, sahen sie dort in einem geräumigen Gemach, das ein allgemeines Versammlungszimmer zu sein schien, den Tisch zu einem behaglichen, reichen Mahle gedeckt. An den Wänden hingen sinnbildliche Darstellungen von Ackerbau und Jagd. Der ältere Philippson betrachtete mit besonderem Interesse ein ledernes Koller, eine lange, schwere Hellebarde und ein großes Schwert – Gegenstände, die wie eine Trophäe aufgehängt waren. Daneben hing, jedoch staubbedeckt und ungeputzt, ein Helm mit Visier, wie ihn Ritter und geharnischte Männer zu tragen pflegen. Der goldene Reifen, der den Helm umschloß, deutete auf Geburt und Rang. Den Aufsatz bildete ein Geier von jener Art, die dem alten Schlosse den Namen gegeben hatten. Der englische Gast, der die Geschichte der schweizerischen Revolution gut kannte, hielt die Rüststücke denn auch mit Recht für Siegeszeichen aus dem früheren Kriege zwischen diesen Bergbewohnern und dem Lehnsherrn, dessen Joch sie abgeschüttelt hatten.

Arnold Biedermann lud seine Gäste ein, an dem Tische Platz zu nehmen, und nun erschien die gesamte Bewohnerschaft dieses Anwesens und setzte sich nieder zu einer reichlichen Mahlzeit von Ziegenfleisch, Fischen, Milch, Käse und einem Gamsbraten, der das Hauptgericht bildete. Der Landammann selbst machte bei der Tafel den Wirt mit vieler Güte und Einfachheit und ermahnte die Fremden, nach Herzenslust zuzulangen.

Ueber dem Essen knüpfte er eine Unterhaltung mit seinem älteren Gaste an, während die jungen Leute wie das Gesinde sich still verhielten. Ehe noch abgegessen worden war, ging hinter dem Flügelfenster der Speisehalle eine Gestalt vorbei, die bei alle denen, die ihrer ansichtig wurden, eine lebhafte Bewegung hervorzurufen schien.

»Wer war es denn?« fragte der alte Biedermann diejenigen, die dem Fenster gegenübersaßen. – »Unser Vetter, Rudolph von Donnersberg,« antwortete einer der Söhne Arnolds.

Den jüngeren Söhnen des Landammannes schien diese Antwort großes Vergnügen zu bereiten; während das Haupt der Familie nur in ernstem und ruhigem Tone sagte: »Unser Vetter ist willkommen – sagt ihm das, und laßt ihn hereinkommen!« –

Zwei oder drei Jünglinge erhoben sich, als seien sie nicht miteinander einig, wer von ihnen diesem neuen Gaste die Ehrenbezeugung zu erweisen hätte. Der Ankömmling trat inzwischen herein: ein junger Mann von ungewöhnlicher Länge, wohlgebaut und rüstig, dicke, dunkelbraune Locken wallten ihm um das Angesicht und von noch dunklerem Braun war der Knebelbart. Die Kappe, die er trug, war im Verhältnis zu seinem starken Haupthaar zu klein, und statt das Haupt zu bedecken, hing sie nur auf einer Seite. Sein Kleid war von gleichem Schnitt und gleicher Beschaffenheit wie das Arnold Biedermanns, allein es war aus feinerem Stoff auf deutschem Webstuhl gefertigt und auf reiche und phantastische Art geschmückt. Ein Aermel seines Wamses war dunkelgrün und mit Schnüren und mit Silberstickerei verziert, während der übrige Teil des Kleidungsstückes scharlachrot war. Sein Degengehänge war mit Gold durchwirkt und trug einen Dolch mit silbernem Griffe. Er hatte Stiefel an, deren Spitzen so lang waren, daß sie nach der Mode des Mittelalters, sich schnabelförmig aufwärts bogen. Eine goldene Kette, an der eine Schaumünze aus gleichem Metall befestigt war, hing ihm um den Hals.

Dieser rüstige Jüngling wurde augenblicklich von den Verwandten Biedermanns umringt. Die schweizerische Jugend schien in ihm ein Vorbild zu erblicken, nach dem man sich in Benehmen, Aeußerungen, Sitten und Kleidung zu richten hätte. Von zwei Personen jedoch wurde, wie es Arthur Philippson bedünken wollte, der junge Mann mit weniger Begeisterung empfangen. Arnold Biedermann selbst war mindestens nicht allzusehr über das Erscheinen des jungen Berners – denn Bern war Rudolfs Geburtsort – erfreut. Der junge Mann zog ein versiegeltes Päckchen aus dem Busen, das er mit besonderer Hochachtung dem Landammann überreichte. Er schien zu erwarten, daß Arnold, nachdem er das Siegel gelöst und den Inhalt überblickt, ihm etwas darüber sagen würde. Allein der Patriarch lud ihn bloß zum Sitzen ein und nötigte ihn, teil am Mahle zu nehmen; worauf Rudolf neben Anna von Geierstein einen Platz fand, der ihm von einem der Söhne Arnolds mit bereitwilliger Höflichkeit eingeräumt wurde.

Ferner schien auch das Mädchen den jungen Gecken nur sehr kühl zu behandeln, so sehr er sich gegen sie auch der gesuchtesten Artigkeit befleißigte. Offenbar war es sein innigster Wunsch gewesen, an ihrer Seite zu sitzen, und über dem Bemühen, sich ihr angenehm zu machen, kam er nur wenig zum Essen.

Während Arthur diese Betrachtung anstellte, ließ sich der Familienvater einen weingefüllten Becher geben, und nachdem er die beiden Fremden ersucht hatte, ihm aus einem ziemlich großen Becher von Ahornholze Bescheid zu tun, trank er dem Rudolf von Donnersberg zu. – »Jedoch Ihr, Vetter,« sprach er dabei, »seid an heißere Weine gewöhnt, als die halbreifen Trauben vom Geierstein zu liefern vermögen. – Solltet Ihr es Euch wohl denken können, Herr Handelsmann,« fuhr er, gegen Philippson gewendet fort, »daß es Bürger in Bern gibt, die sich ihren Wein aus Frankreich und Deutschland kommen lassen?« – »Mein Verwalter mißbilligt das,« versetzte Rudolf, »jedoch nicht jeder Ort hat Weinpflanzungen wie der Geierstein, der alles hervorbringt, was Herz und Augen wünschen mögen.« – Dies sagte er mit einem Blicke auf seine Nachbarin, die nicht geneigt schien, das Kompliment anzunehmen; während der Berner Gesandte fortfuhr: »Allein unsere bemittelten Bürger, die etliche überflüssige Krontaler haben, halten es nicht für Vergeudung, ihr Geld gegen einen Becher besseren Weines einzutauschen, als unsere Berge hervorbringen können. Wir werden mäßiger sein, wenn wir erst bei den Weinfässern Burgunds sind!« – »Wie versteht Ihr das, Vetter Rudolf?« fragte Arnold Biedermann. – »Mich dünkt, verehrter Herr und Vetter,« antwortete der Berner, »die Briefe müssen Euch gemeldet haben, daß unser Reichstag nahe daran ist, dem Lande Burgund den Krieg zu erklären.« – »So? Und Ihr kennt also den Inhalt dieser Depeschen?« fragte Arnold. »Da sieht man, wie die Zeiten in Bern sich geändert haben. Seit wann starben alle ergrauten Staatsmänner Helvetiens, daß unsere verbündeten Kantone unbärtige Knaben zu ihren Beratungen heranziehen?«

Halb beschämt, halb um zu rechtfertigen, was er vorhin gesagt hatte, versetzte der junge Mann: »Der Magistrat zu Bern und der Reichstag des Schweizerlandes setzen die jungen Leute von ihren Absichten in Kenntnis, seitdem sie eingesehen haben, daß eben das junge Volk diese ihre Pläne auszuführen hat. Der Kopf, der zu denken hat, darf wohl auch dem Arm vertrauen, der das Schwert zu führen hat.« – »Doch nicht eher, als bis es aus der Scheide gezogen werden soll, junger Mann,« antwortete sehr ernsthaft der alte Biedermann. »Was für ein Ratgeber ist derjenige, der leichtfertig die Geheimnisse in Staatsangelegenheiten vor Weibern und Fremden ausplaudert? Geht, Rudolf; Ihr alle geht und prüft an männlichen Leibesübungen, wer unter Euch am besten imstande ist, dem Vaterlande zu dienen. Halt, junger Mann,« rief er Arthur zu, der mit aufgestanden war; »an Euch war das nicht gerichtet. Ihr seid es nicht gewöhnt, über die Berge zu reisen, und bedürft wohl der Ruhe.«

»Nicht so, Herr, mit Erlaubnis,« sagte der ältere Reisende; »wir in England halten dafür, daß man sich von einer Erschöpfung am besten erholt, indem man zu einer anderen Körperanstrengung übergeht, so z. B. erfrischt sich bei uns, wer sich müde gelaufen hat, durch einen Ritt besser als im Daunenbett. Wenn Eure jungen Leute es also erlauben, so wird mein Sohn an ihren Uebungen teilnehmen.« – »Er wird rohe Spielgenossen in ihnen finden,« antwortete der Schweizer, »doch geschehe nach Eurem Gefallen!«

Demzufolge gingen die Jünglinge in den offenen Raum vor dem Hause, Anna von Geierstein und etliche von der weiblichen Dienerschaft setzten sich auf eine Bank, um zu urteilen, welcher seine Sache am besten machen würde, und bald hörten die beiden Alten, die in der Halle sitzen blieben, Geschrei, Gelächter, und alle jene Zeichen von Beifall oder Spott, mit denen junges Volk dem männlichen Spiele folgt. Der Hausherr ergriff noch einmal die Weinflasche, deren Rest er in seinen Becher goß, nachdem er zuvor das Trinkgeschirr seines Gastes gefüllt hatte.

»In einem Alter, werter Fremdling,« sprach er dann, »wo das Blut kühler wird und man nicht mehr so rasch von einem Gefühle zum andern springt, erweckt ein mäßig gefüllter Becher Weins lichte Gedanken und macht die Glieder geschmeidig. Dennoch wünschte ich fast, Noah hätte nimmer die Traube gepflanzt, seitdem ich in neuerer Zeit mit eigenen Augen gesehen habe, wie meine Landsleute den deutschen Wein hinabgießen, bis sie daliegen wie die Schweine.« – »Ich habe auch bemerkt, daß dieses Laster,« sagte der Engländer, »in Eurem Vaterlande mehr und mehr überhand nimmt, während es doch, wie ich hörte, vor einem Jahrhundert hier noch ganz unbekannt war.« – »Das war es,« entgegnete der Schweizer, »denn Wein wurde hier wenig gebaut und vom Auslande überhaupt nicht eingeführt, weil fürwahr niemand hier die Mittel besaß, Wein oder sonst etwas, was unsere Täler nicht selbst hervorbrachten, zu kaufen. Allein unsere Siege haben uns Reichtümer wie Ruhm erworben, und nach der Meinung mindestens eines Schweizers stünde es ohne beides besser um uns, wenn wir nicht mit Ruhm und Reichtum zugleich auch die Freiheit errungen hätten. Bei alledem ist es etwas wert, daß der Handel gelegentlich zu unsern abgelegenen Bergen Gäste führt, wie Ihr einer seid, würdiger Herr, an dessen Worten man einen Mann von Einsicht und Unterscheidungsvermögen erkennen kann; denn ich sehe wohl ein, daß wir Bergbewohner durch Männer, wie Ihr seid, mehr von der Welt um uns her erfahren, als wir aus uns selbst vermöchten. Ihr habt beschlossen, sagtet Ihr, nach Basel und von dort in das Lager des Herzogs von Burgund zu ziehen?« – »So ist's, werter Gastfreund,« sprach der Handelsmann, »das heißt, wenn ich unbehelligt reisen kann.« – »Wegen Eurer Sicherheit seid unbesorgt, sobald Ihr zwei oder drei Tage verweilen könnt; denn nach dieser Frist werde ich selbst die Reise und zwar unter einer Bedeckung unternehmen, die vor jeder Gefahr Schutz gewähren wird, Ihr sollt in mir einen zuverlässigen und treuen Geleitsmann finden, und ich werde von Euch viel über andere Länder erfahren, die besser kennen zu lernen für mich von Wichtigkeit ist. Soll es gelten?« – »Der Vorschlag ist zu sehr zu meinem Vorteil, als daß ich ihn ablehnen könnte,« sagte der Engländer; »darf ich indessen nach dem Zweck Eurer Reise fragen?«

»Ich schmähte vorhin jenen Burschen,« antwortete Biedermann, »daß er über öffentliche Angelegenheiten ohne Ueberlegung und in Anwesenheit des gesamten Hausgesindes sprach; allein meine Sendung brauche ich vor einem achtenswerten Manne, wie Ihr, der alles bald durch das öffentliche Gerücht erfahren wird, nicht geheim zu halten. Ihr kennt ohne Zweifel den Haß, der zwischen Ludwig XI. von Frankreich und Karl von Burgund herrscht, den man den Beinamen des Kühnen gibt; und da Ihr, wie ich aus früherem Gespräch mit Euch entnahm, diese Länder besucht habt, so seid Ihr wahrscheinlich von den mancherlei Ursachen des Zwistes unterrichtet. Jetzt bietet Ludwig, dessen List und Schlauheit die Welt nicht zu durchschauen vermag, indem er große Summen an etliche der Räte unserer Nachbarn in Bern verteilt, indem er selbst in den Staatsschatz dieses Kantons Schätze fließen läßt, alles auf, um die Berner in einen Krieg mit dem Herzog zu verwickeln. Karl dagegen verfährt, wie er häufig zu tun pflegt, ganz so, wie Ludwig es wünscht. Unsere Nachbarn und Verbündeten, die Berner beschränken sich nicht wie wir in den Waldstätten auf Viehzucht und Ackerbau, sondern treiben bedeutenden Handel, den der Herzog von Burgund zu verschiedenen Malen durch Erpressungen und Gewalttaten seiner Offiziere in den Grenzstädten beeinträchtigte, was Euch ohne Zweifel auch bekannt ist. Es wird Euch daher nicht wunder nehmen, wenn, von einem Monarchen verhätschelt, vom andern verletzt, stolz auf frühere Siege und begierig nach ausgedehnter Macht, Bern und die Städtekantone unseres Bundes, deren Repräsentanten vermöge ihres größeren Reichtums und ihrer besseren Erziehung in unserm Reichstag mehr zu sagen haben als wir in den Waldstätten, für den Krieg sind, der bis jetzt der Republik jederzeit Sieg, Wohlhabenheit und Erweiterung des Besitzes eingebracht hat. Doch wir sollten aus unseren ehemaligen Siegen eine bessere Lehre ziehen. Als wir für unsere Freiheit fochten, segnete der Herr unsere Waffen; allein, wird er das auch tun, wenn wir entweder für Landeserweiterung oder für französisches Gold streiten?« – »Eure Zweifel sind gerecht,« sagte der Kaufmann; »allein, angenommen, Ihr zöget das Schwert, um der Willkür Burgunds ein Ende zu machen?« – »Hört mich an, guter Freund,« antwortete der Schweizer, »es mag sein, daß wir in den Waldkantonen zu gering von den Handelsangelegenheiten denken, die die Berner Bürger so sehr beschäftigen. Bei alledem wollen wir unsere Nachbarn und Eidgenossen im gerechten Streite nicht verlassen; und es ist schon so ziemlich ausgemacht, daß eine Deputation an den Herzog von Burgund geschickt werden soll, um Milderung und Abhilfe zu erbitten. Auf Antrag des jetzt zu Bern versammelten allgemeinen Reichstags soll ich an dieser Gesandtschaft beteiligt sein. Daher also die Reise, auf der mir Eure Gesellschaft erwünscht wäre.« –

»Es soll mir sehr lieb sein, in Eurer Gesellschaft zu reisen, würdiger Gastfreund,« sagte der Engländer, »allein da ich ein aufrichtiger Mann bin, so sage ich Euch, daß mich dünkt, Eure Gestalt und Haltung gleiche eher der eines Kriegsheroldes als der eines Friedensboten.«

»Und ich möchte dagegen sagen,« versetzte der Schweizer, »daß Eure Redeweise und Eure Gesinnung, verehrter Gast, eher zum Schwerte als zum Meßstabe passe.« – »Ich wurde für das Schwert erzogen, werter Herr, ehe ich die Tuch-Elle in die Hand nahm,« entgegnete Philippson, »und es mag sein, daß ich noch jetzt mehr, als klug sein dürfte, zu meinem ehemaligen Beruf hinneige.« – »Ich dachte es mir,« sprach Arnold, »aber da fechtet Ihr wahrscheinlich unter dem Banner Eures Vaterlandes gegen einen auswärtigen, allgemeinen Feind; und in solchem Falle will ich einräumen, daß der Zweck des Krieges die notwendige Rücksicht auf das große Leid vergessen läßt, das Gottes Geschöpfe auf beiden Seiten einander im Kampfe zufügen. Allein der Krieg, in welchem ich mitkämpfte, hatte nicht diese glänzende Außenseite. Es war der unglückliche Zürcherkrieg, wo Schweizer ihre Piken gegen Landsleute richteten. Von solchen Erinnerungen sind Eure kriegerischen Rückblicke wahrscheinlich frei.«

Der Kaufmann senkte das Haupt und drückte die Hand an seine Stirn gleich einem, dem quälende Erinnerungen plötzlich erweckt werden. »Ach,« sprach er, »ich verdiene es, die Bekümmernis zu fühlen, die Eure Worte mir einflößen. Welche Nation kann das Weh Englands nachempfinden, wenn sie nicht gleiches Weh erlitt – welches Auge kann solches Weh durchschauen, wenn es nicht sah, wie ein Land zerfleischt und blutend dem Streite zweier Parteien erlag, Schlachten in allen seinen Provinzen lieferte, seine Ebenen mit Leichen anfüllte und Schafotte im Blut schwimmen ließ! Selbst in Euren friedlichen Tälern, meine ich, müßt Ihr von den Bürgerkriegen in England gehört haben?« – »Ich erinnere mich dessen allerdings,« sagte der Schweizer. »Allein, diese Kämpfe sind beendigt?« – »Einstweilen, so scheint es,« entgegnete Philippson,

Während er so sprach, wurde an die Tür geklopft. Der Hausherr rief: »Herein!« die Tür ging auf, und Anna von Geiersteins liebliche Gestalt erschien.


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