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Als Brown von dem Pächter Abschied genommen, mietete er eine Postkutsche bis Kippletringan, wo er über die Familie zu Woodbourne Erkundigungen einziehen mußte, bevor er Julien ein Zeichen seiner Nähe geben konnte. Es war ein ziemlich langer Weg. Trotz dem heftigen Schneegestöber ging es doch frisch voran, ohne daß der Fuhrmann irgend eine Bedenklichkeit verriet; als aber die Nacht angebrochen war, stiegen doch Zweifel in ihm auf, ob er auf dem rechten Wege sei. Ein mißlicher Umstand, da der Schnee immer stärker fiel und weit umher auf der endlosen weißen Fläche nirgends ein Weg zu unterscheiden war. Brown stieg aus und sah sich um, ob sich etwa ein Haus entdecken ließe, wo er sich nach dem rechten Wege erkundigen könnte. Aber umsonst; und so blieb nichts übrig, als immer weiter zu fahren. Der Weg ging durch so ausgebreitete Kulturen, daß Brown vermutete, es müsse ein Landgut in der Nähe sein. Endlich hielt der Fuhrmann still. Die Pferde wollten keinen Fuß weiter setzen, versicherte er, aber er sehe Licht zwischen den Bäumen, das aus irgend einem Hause kommen müsse ... Er stieg ab und trabte mit seinen schweren Stiefeln im hohen Schnee, bis endlich Brown ungeduldig aus dem Wagen sprang und dem Fuhrmann befahl, bei den Pferden zu bleiben, während er selbst das Haus suchen wollte, um Erkundigungen einzuziehen ...
Unser Wanderer war einige Minuten dem fernschimmernden Lichte nachgegangen, als er in der Hecke ein Brett zum Uebersteigen und einen Fußpfad fand, der in ein gebautes Feld führte. Er ging immer weiter, aber bald verlor sich der helle Schein gänzlich zwischen den Bäumen. Der Pfad, der anfangs breit in das Gehölz zu laufen schien, war jetzt kaum zu unterscheiden, obgleich der Widerschein des Schnees leuchtete. Der Boden senkte sich endlich und wurde ungleich. Brown wollte umkehren, nachdem er mehr als einmal in Gräben und Brüche gestüzt war, die der immer dichter fallende Schnee verbarg. Die letzte Anstrengung wagend, ging er noch einmal voran, und zu seiner großen Freude blickte nun in geringer Entfernung das Licht wieder zwischen den Bäumen hervor und schien mit dem Wege in gleicher Höhe zu sein. Der Boden aber senkte sich immer tiefer, und Brown sah, daß eine tiefe Schlucht zwischen ihm und dem Lichte lag. Als er mit vorsichtigen Schritten dem Abhange folgte, kam er in ein enges, sehr steil abstürzendes Tal, durch das sich ein kleiner Bach wand, dessen Lauf fast ganz durch Schnee gehemmt wurde. Die Trümmer einiger Hütten, deren schwarze Gipfel auf der Schneedecke abstachen, hinderten die Schritte des Wanderers, aber jede Schwierigkeit mutig überwindend, watete er durch den Bach und erreichte nach vielen Fährlichkeiten das jenseitige steile Ufer, bis er endlich vor dem Gebäude stand, aus welchem Licht kam.
Bei dem matten Scheine ließ sich das Gebäude nicht genau erkennen, doch schien es viereckig, klein, und sein oberer Teil ganz verfallen zu sein. Der übrig gebliebene Bogen des untern Gewölbes diente dem Gebäude in seinem gegenwärtigen Zustande als Dach. Das Licht kam aus einer langen, schmalen Spalte der Schießscharte, wie man sie gewöhnlich in alten Schlössern findet. Neugierig, das Innere des seltsamen Gebäudes zu sehen, blickte Brown durch die Oeffnung. Wilde Zerstörung! Auf dem Boden brannte ein Feuer! Dicker Rauch durchzog das Gemach, ehe es durch ein in den Gewölbebogen gebrochenes Loch seinen Ausgang suchte. Das qualmende Licht gab den Wänden das wüste Ansehen dreihundertjähriger Trümmer. Einige zerbrochene Kisten und Packe lagen in wilder Unordnung durcheinander.
Noch mehr zogen die Bewohner des Gebäudes den Blick unseres Wanderers an. Auf einem Strohlager, das mit einem weißen Tuche bedeckt war, lag eine Gestalt so still und ruhig, daß Brown sie anfangs für eine Leiche hielt, bis ein tiefes schweres Stöhnen ihm verriet, daß sie erst dem Tode nahe war. Eine weibliche Gestalt, in einem langen Mantel, saß auf einem Steine neben dem armseligen Lager; sie stützte die Ellbogen auf ihre Knie, und ihr Gesicht, abgewendet von dem Lichte einer eisernen Lampe, die neben ihr stand, war auf den Sterbenden gerichtet. Sie netzte seine Lippen von Zeit zu Zeit mit einem Getränk und sang dazwischen, tief und eintönig, eines von den Gebeten oder Zaubersprüchen, womit der Aberglaube des gemeinen Volks in einigen Gegenden von Schottland und Nord-England das Scheiden der Seele vom Leibe zu erleichtern wähnt, gleich dem Glockengeläute in der katholischen Zeit. Sie begleitete diese traurigen Töne mit einer langsamen, wiegenden Bewegung ihres Leibes, als ob sie das Zeitmaß des Gesanges dadurch hätte angeben wollen. Die Worte lauteten also:
Matt und müde, säumst Du doch,
Ringst mit Staub und Erde noch?
Aus dem Leibe schwing Dich hoch,
Hör' die Messe singen!
Wirf von Dir Dein sterblich Kleid;
Muttergottes hilft bereit,
Heil'ge lindern Dir Dein Leid,
Horch! die Glocken klingen.
Scheu' nicht Schnee vom Wind gejagt,
Regen, Hagel, Sturmesnacht;
Wirst in's Sterbkleid bald gebracht
Auf Dich fällt des Schlafes Nacht,
Wirst kein Licht mehr scheuen.
Eile, eile, nicht gesehnt!
Erde flieht, die Stunde tönt;
Ausgeatmet, ausgesöhnt!
Auf zum Himmel schauen!
Denn der Tag will grauen.
Die Sängerin schwieg, und es antwortete ihr ein dumpfes Stöhnen, das den letzten Todeskampf anzukündigen schien. »Es geht nicht,« – murmelte sie vor sich hin, »die Seele will nicht fort, es liegt zu schwer auf ihr. – Es hält ihn hier fest –
Himmel wird ihn nicht mögen,
Erde mag ihn nicht hegen.
Ich muß schon aufmachen und das Gesicht zum Eingang hin kehren,« sagte sie und stand auf, war aber vorsichtig dabei bedacht, sich nicht umzuschauen, schob behutsam die Riegel von der sorgfältig verschlossenen Tür weg und sprach dabei:
»Auf den Riegel – Kampf, vergeh!
Komm, du Tod, und Leben, geh!
Brown war von seinem Platze weggetreten und stand jetzt vor ihr, als die Tür sich auftat. Das Weib trat einen Schritt zurück und erkannte ihn auf den ersten Blick, als er den Fuß über die Schwelle setzte; aber auf ihr Gesicht trat auch sogleich ein Ausdruck von Verdruß, ja Schreck, während er dasselbe Gefühl wieder hatte, wie sie, denn auch er erkannte in ihr die Zigeunerin wieder, die er bei dem Ueberfall auf Dinmont in dem einsamen Wirtshause gesehen hatte. Er sah sie noch einmal an, und nun nahm er auf ihrem Gesichte, zu seiner nicht geringeren Ueberraschung, einen Zug von Besorgtheit, von Kümmernis wahr, der ihn an die wohlwollende Fee im Märchen erinnerte, die den Fremdling vor dem Eintritt in das gefahrvolle Schloß ihres Gemahls warnt. Dann hob sie, wie zürnend, die Hand und sagte:
»Hab' ich es Euch nicht gesagt? Ihr sollt Euch in nichts mengen, was Eure Augen sehen, wenn Ihr unbehelligt bleiben wollt? Nehmt Euch in acht vor Streichen, die man in Händeln davonträgt, die einen nichts angehen! Hier winkt Euch kein sanftes Sterbelager.«
Mit diesen Worten griff sie nach der Lampe und ließ ihren Schein auf das rauhe, wilde Gesicht des Sterbenden fallen, der eben den letzten Kampf bestand. Ein Stück Leinwand, das zu seinem Haupte lag, war mit Blut befleckt, und alles verriet, daß er keines natürlichen Todes gestorben war. Brown bebte zurück bei dem gräßlichen Anblick, und zu der Zigeunerin sich wendend, rief er:
»Unglückliches Weib! Wer hat das getan?«
»Wem es so bestimmt war, es zu tun, der hat's getan, kein anderer!« erwiderte sie, auf das Gesicht des eben verschiedenen Mannes einen festen, forschenden Blick werfend; »er hat einen harten Kampf gekämpft; aber jetzt ist's vorbei. Daß es so kommen werde, habe ich gewußt; daß es nicht schnell mit ihm gehen werde, auch; ich hab's aber gesehen, als Ihr hereintratet, daß ihm das letzte nun bevorstände; es war der Todesstoß ...und nun ist er hinüber!«
Da vernahm man in der Ferne Stimmen... »Sie kommen!« sagte die Zigeunerin, »und wenn sie Euch finden, so seid Ihr ein Kind des Todes, und hättet Ihr gleich hundert Leben zu vergeben!«
Brown blickte sich unruhig nach einer Waffe in dem Raume der Hütte um, sah aber keine Spur von einer solchen. Daraus eilte er zur Tür, um aus dem Raume zu fliehen, den er für eine Mördergrube hielt; aber Meg Merrilies packte ihn mit beispielloser Kraft am Arme und hielt ihn fest ...»Hierher, hierher!« rief sie leise; »und rührt Euch nicht, gleichviel was Eure Ohren vernehmen. Hier seid Ihr sicher, draußen nicht. Aber ruhig verhalten, und es wird Euch kein Leid geschehen!«
Brown erinnerte sich in seiner verzweifelten Lage an den wohlmeinenden Wink, den ihm die Zigeunerin früher gegeben, und meinte, daß er am besten für seine Sicherheit sorgen werde, wenn er sich nach ihren Worten richtete. Er mußte sich der Leiche gegenüber auf ein Strohlager werfen; sie deckte ihn sorgsam zu und warf auch ein paar Säcke noch drüber. Brown aber, um sehen zu können, was vorging, schob behutsam die Strohschicht ein wenig beiseite, so daß eine Art Luke für seine Augen entstand, die ihm ermöglichte, zu beobachten, was um ihn her vorging. Mit unruhigem Herzen wartete er nun den weiteren Verlauf des unheimlichen Abenteuers ab. Unterdes trat die Zigeunerin zu der Leiche zurück, rückte sie zurecht und legte ihr die Arme an die Seiten. Dann setzte sie ihm einen Holzteller mit Salz auf die Brust und ein Licht zu seinen Häupten, ein anderes zu seinen Füßen und steckte sie beide an. Dann stimmte sie ihren Gesang wieder an und wartete den Eintritt der Männer ab, deren Stimmen draußen zu hören waren.
Brown war ein tapferer Mann, aber er konnte eine gewisse Angst nicht bezwingen. Was hatte er anders zu gewärtigen, als daß Bösewichter, deren Gewerbe nächtlicher Mord war, ihn aus seinem elenden Versteck zerrten und den Mordstahl auf ihn zückten? Was blieb ihm in seiner hilflosen Lage, ohne Waffen, anders übrig als Bitten, die ihnen ein Spott sein mußten? Was weiter als Geschrei um Hilfe, das niemand hören konnte? Welch andere Bürgschaft für seine Sicherheit hatte er als das Mitleid der Alten, auf die am Ende auch nur geringer Verlaß war? Als der Schein der trüben Lampe auf ihr Gesicht fiel, forschte er in ihren Zügen, ob er dort etwas lesen konnte, das jenem echten Mitleid nahe käme, das Frauenherzen auch in dem Zustande der allertiefsten Gesunkenheit doch nicht vollständig unterdrücken können ... Aber er fand dort keinen Zug von wahrer, milder Menschlichkeit. Die Teilnahme, oder was es sonst war, das sich in dem Herzen dieses alten Weibes für ihn regte, entsprang nicht aus menschlichem Mitleide, sondern aus irgend einer wunderlichen, grillenhaften Verkettung von Empfindungen, die ihm unerklärlich waren. Vielleicht war eine eingebildete oder vermutete Aehnlichkeit dabei mit im Spiele? ähnlich, wie Macbeths Gemahlin meinte, der schlafende König habe Aehnlichkeit mit ihrem Vater ... Diese Gedanken flogen schnell durch Browns Seele, als er den Blick auf dieses seltsame Geschöpf gerichtet hielt.
Noch immer aber ließ sich kein Mensch sehen, und fast fühlte er sich versucht, seinen ersten Entschluß, sein Heil in der Flucht zu suchen, in Ausführung zu setzen, die Unschlüssigkeit verwünschend, die ihn in eine Lage gebracht hatte, wo ihm weder Widerstand noch Flucht möglich war.
Auch Meg Merrilies schien wachsam zu sein; denn sie lauschte, wie Brown recht gut merkte, auf jeden Ton, der draußen laut wurde. Dann drehte sie sich wieder nach der Leiche herum, um dies und jenes in ihrer Lage zu verändern; dann holte sie einen langen, dunkelfarbigen Schiffermantel aus einem Winkel hervor, den sie als Bahrtuch brauchte, und legte den Kragen desselben so, daß er den blutigen Verband verdeckte, was, wie sie murmelte, der Leiche doch ein besseres Aussehen gäbe.
Endlich traten mehrere Männer herein, wild von Aussehen, Gestalt und Kleidung.
»Meg, Du Satanskind!« riefen sie statt allen Grußes, »was fällt Dir ein, die Tür offen zu lassen?«
»Und hat einer von Euch je gehört, daß eine Tür verriegelt gewesen wäre, wenn jemand dahinter in Todesängsten gelegen? Wie soll die Seele durch Schloß und Riegel fahren?«
»Ist er denn tot?« fragte einer, zu dem Sterbelager tretend.
»Tot, mausetot!« erwiderte ein anderer; »aber hier ist was von guter Totenwache!« Dabei holte er aus einem Winkel ein Fäßchen mit Branntwein, und Meg Merrilies beeilte sich, Pfeifen und Tabak unter die Männer zu verteilen. Ihre Emsigkeit dabei galt Brown für ein sichres Zeichen daß sie es wirklich gut mit ihm meine; denn ihre Absicht, die wilden Männer zum Zechen zu verleiten, und auf diese Weise seine Entdeckung zu verhindern, war unverkennbar.
Brown konnte nun die Männer zählen: es waren ihrer fünf. Zwei von ihnen, starke, rüstige Gestalten, schienen Seemänner zu sein; die drei übrigen, ein Greis und zwei Jungen, alle mit pechschwarzem Haar, gehörten augenscheinlich zu der Zigeunerhorde der Meg Merrilies.
Der Schnaps fing an zu kreisen ... »Glückliche Reise!« rief einer von den beiden Seeleuten; »er hat, meiner Treu! eine stürmische Nacht getroffen, um in den Himmel zu steuern.«
»Was liegt ihm an Wind und Wetter?« fiel der andere ein; »ihm hat ja so mancher Nordwest um die Nase gepfiffen.«
»Aber gestern zum letztenmal!« meinte ein anderer verdrossen; »und nun mag die alte Meg für ihn beten wie schon oft.«
»Das tu ich nicht mehr,« sprach Meg, »und auch für euch nicht. Die Zeiten haben sich sehr geändert. Männer waren sonst Männer und fochten miteinander im offenen Felde. Und der Edelmann hatte ein freundliches Herz, ließ den armen Zigeuner nicht mit leerer Hand gehen. Aber ihr haltet auch nicht mehr auf die guten alten Gesetze, und da ist's eben kein Wunder, daß ihr so oft die Ketten scheuern müßt. Nein, ihr eßt von des Landmanns Brote, trinkt aus seinem Fasse, schlaft auf seinem Stroh in der Scheune, reißt ihm's Haus ein und schneidet ihm die Kehle ab für seine Mühe. Es ist Blut an euren Händen, mehr als je beim redlichen Kampfe. Seht zu, wie ihr einst sterben könnt! Es dauerte lange, ehe er starb; er hatte einen harten Kampf; konnt' nicht sterben, noch leben. Aber ihr – das halbe Land wird sehen, wie ihr am dürren Holze hängt.«
Ein wildes Gelächter erscholl auf diese Weissagung ... »Und warum bist Du zurückgekommen, alte Hexe,« sprach einer von den Zigeunern. »Konntest Du nicht bleiben, wo Du warst, und den Bauern im Cumberland wahrsagen? Sieh zu, daß Dir niemand auf der Fährte ist!«
»So? Sonst war ich wohl gut, als ich euch in dem großen Gefechte mit diesen Händen half,« antwortete Meg, ihre Fäuste erhebend. »Was wäre sonst aus euch geworden, ihr Maulhelden!«
Darauf setzte sie sich vor das Lager, wo Brown verborgen war, in einer Stellung, die jeden verhindert hätte, sich dem Versteckten, wenn sie nicht vorher aufgestanden wäre, zu nähern. Niemand aber schien sie stören zu wollen. Die Männer setzten sich ans Feuer und schienen eifrig Rats zu pflegen, sprachen aber so leise und in so wildem Kauderwelsch, daß Brown wenig verstand. Nur so viel erriet er, daß sie ihrem Unwillen gegen jemand Luft machten ... »Er wird schon sein Teil kriegen,« sprach einer und sagte einem Gesellen etwas ins Ohr.
»Damit habe ich nichts zu schaffen,« erwiderte dieser.
»Seit wann bist Du so hasenherzig geworden, Johnny?«
»Nicht mehr als Du, aber es war so etwas, das vor fünfzehn bis zwanzig Jahren den ganzen Handel störte. Hast Du von dem Sprunge gehört?«
»Der da,« antwortete der andere, auf den Leichnam deutend, »hat mir davon gesagt. Er lachte recht, wenn er uns zeigte, wie er ihn von dem Felsen geworfen hätte.«
»Aber die alte Meg schläft ein?« hob ein anderer an, »Sie wird faselig und fürchtet ihren eigenen Schatten. Gebt acht, sie wird noch aus der Schule schwatzen, wenn ihr nicht scharf aufpaßt.«
»Seid davor nicht bange,« fiel der alte Zigeuner ein. »Meg ist redlich, aber sie hat ihre eigenen Launen, und führt oft grillige Reden.«
Das Gespräch wurde in so rohem Kauderwelsch fortgesetzt, daß sich selbst aus Winken und Gebärden sein Inhalt nicht mehr erraten ließ. Als endlich einer der Männer bemerkte, daß Meg fest eingeschlafen war oder zu sein schien, befahl er einem der beiden Jungen, den schwarzen Peter hereinzubringen. Der Junge ging hinaus und kam mit einem Felleisen zurück, das Brown sogleich für das seinige erkannte. Er dachte mit unruhiger Besorgnis an den armen Burschen, den er bei dem Wagen zurückgelassen hatte. Mit ängstlicher Aufmerksamkeit sah er zu, und während die Kerle das Felleisen öffneten und auspackten, horchte er eifrig, ob nicht irgend etwas ihm das Schicksal des Fuhrmanns verriete. Die Spitzbuben waren zu erfreut über die Beute und zu eifrig mit ihrer Untersuchung beschäftigt, als daß sie über die Art, wie sie dazu gekommen waren, ein Wort hätten verlieren sollen. Brown hätte zu keiner andern Zeit so ruhig zugesehen, wie man ohne alle Umstände sein Eigentum teilte; aber in diesem gefährlichen Augenblicke konnte er nur an seine Selbsterhaltung denken.
Als der Inhalt des Felleisens verteilt war, ging es wieder ans Trinken, womit die Männer den größten Teil der Nacht zubrachten. Brown hoffte anfangs, sie würden sich völlig berauschen und ihm dadurch Gelegenheit zur Flucht geben; aber die Vorsicht, die ihr gefährliches Gewerbe notwendig machte, zwang sie, bei ihren Ausschweifungen Maß zu halten. Drei von ihnen legten sich endlich zur Ruhe, der vierte aber wachte und wurde nach zwei Stunden von einem andern abgelöst. Nach der zweiten Wache wurden die Schlafenden aufgeweckt, und man schien sich zum Aufbruche zu rüsten. Zwei Männer holten darauf eine Hacke und einen Spaten hervor, ein dritter fand eine Axt hinter dem Stroh, worauf der Leichnam lag. Mit diesen Werkzeugen gingen sie hinaus, während drei von ihnen, darunter die beiden rüstigen Seeleute, als Wächter zurückblieben. Ungefähr eine halbe Stunde nachher kam einer zurück und flüsterte dem andern etwas zu. Darauf wickelten alle den Leichnam in den Mantel und trugen ihn hinaus.
Meg Merrilies erhob sich sogleich, und als sie eine Weile an der Tür gelauscht hatte, kam sie zurück und befahl ihrem Gaste mit leiser gedämpfter Stimme, ihr sogleich zu folgen. Er gehorchte. Als er aus der Hütte ging, wollte er sein Geld, wenigstens seine Papiere wieder an sich nehmen, aber sie verbot es durchaus, und da er selbst bedachte, daß auf die Alte, die sein Leben, wie es schien, gerettet hatte, aller Verdacht fallen würde, wenn er etwas wegnehmen wollte, so gab er den Gedanken auf, nach seinem Eigentume zu greifen, und begnügte sich, einen Säbel sich anzueignen, den einer der Männer auf die Seite geworfen hatte.
Es war ein kalter Wintermorgen. Die blendende Schneefläche ringsumher erhöhte das matte Licht der Dämmerung. Brown warf einen Blick in die Gegend, um sich künftig der Stelle wieder erinnern zu können. Der verfallene Turm, worin er die Nacht zugebracht hatte, stand auf dem Rande eines Felsens, der über dem Flusse hing, und war nur von einer Seite, und zwar von der tiefen Schlucht her, zugänglich. Auf den übrigen Seiten aber war der Felsen so steil abgeschnitten, daß Brown am vorigen Abend mehr als einer Gefahr entgangen war; denn hätte er, wie es einmal seine Absicht gewesen, es versucht, rings um den Turm zu gehen, so würde er unvermeidlich seinen Untergang gefunden haben. Die Schlucht war so enge, daß die mit Schnee beladenen Wipfel der Bäume auf beiden Seiten an einigen Stellen sich berührten und ein Gewölbe über den Fluß bildeten, der langsam in der Tiefe rann. Auf der Stelle, wo die Schlucht sich ein wenig erweiterte und eine schmale Fläche zwischen dem Ufer und der steilen Bergwand sich ausbreitete, lagen die Trümmer des Dörfchens, durch die Brown in der verflossenen Nacht gekommen war. Die zerstörten Giebel, deren innere Seiten von Torfruß glänzten, sahen noch schwärzer aus gegen den Schnee, den der Wind ihnen entgegengetrieben hatte.
Brown konnte nur einen sehr flüchtigen Blick auf diese winterliche, traurige Landschaft werfen, denn als seine Führerin einen Augenblick verweilt hatte, als ob sie ihm hätte gestatten wollen, seine Neugierde zu befriedigen, ging sie schnell den Pfad hinab, der in das Tal führte. Er bemerkte, nicht ohne eine Regung des Argwohns, daß sie einen Weg nahm, den schon verschiedene Fußstapfen bezeichneten, ohne Zweifel von den Räubern, die die Nacht im Turme zugebracht hatten. Nach kurzem Nachdenken aber gab er seinen Verdacht auf. Sollte die Alte, die ihn den Zigeunern überliefern konnte, als er wehrlos war, erst in dem Augenblicke, wo er Waffen hatte und sich im freien Felde befand, zur Verräterin werden wollen? Er folgte ihr nun vertrauensvoll und schweigend. Der Weg ging durch das Bächlein, den frischen Fußstapfen nach, die weiter durch das zerstörte Dorf und dann in die Schlucht hinab führten, die bald wieder enger wurde. Endlich aber verließ die Zigeunerin diese Spur, und seitwärts sich wendend, wählte sie einen rauhen, unebenen Pfad zu der Bergwand hinan, die über das Dörfchen hing. Fast überall waren die Fußpfade verschneit; Meg Merrilies aber ging mit einem festen, sichern Schritt voran, der ihre genaue Bekanntschaft mit der Gegend verriet. Als sie die Höhe erreicht hatten, breitete sich eine weite, offene Gegend aus, die auf der einen Seite durch ein dichtes Gehölz begrenzt wurde.
Meg Merrilies ging weiter, längs dem Rande der Schlucht, bis sie unten Stimmen hörte. Darauf zeigte sich auf einmal, nicht weit entfernt, eine dichte Baumallee ... »Der Weg nach Kippletringan,« sprach sie, »läuft auf der andern Seite des Gehölzes. Aber macht, so schnell Ihr könnt! Es liegt mehr an Eurem Leben, als an dem andrer Leute. Und doch ... Ihr habt alles verloren ...«
Sie suchte in einer ungeheuren Tasche und zog einen schmutzigen Beutel hervor ... »Meg und die Ihrigen haben viel Almosen von Eurem Hause empfangen, und sie hat so lange leben sollen, daß sie etwas ersetzen kann.«
Mit diesen Worten legte sie den Beutel in seine Hand.
»Das Weib ist unsinnig,« dachte Brown; aber es war nicht Zeit, über die Sache Worte zu wechseln, da die Stimmen aus der Tiefe wahrscheinlich den Räubern gehörten ... »Wie soll ich Euch das Geld erstatten?« sprach er; »wie soll ich Euch für die Güte erkenntlich werden, die Ihr mir bewiesen habt?«
»Ich habe zwei Bitten an Euch,« antwortete die Zigeunerin, sehr leise und schnell. »Fürs erste sollt Ihr nie etwas von allem sagen, was Ihr heute nacht gesehen habt. Fürs zweite sollt Ihr diese Gegend nicht verlassen, ohne mich noch einmal zu sehen, und Ihr müßt mir im Wirtshause zu Kippletringan Nachricht lassen, wo Ihr zu finden seid; und wenn ich Euch rufe, es mag in der Kirche sein, oder auf dem Markte, auf der Hochzeit, oder beim Begräbnis, am Sonntage oder am Sonnabend, Fleischtag oder Fasttag, Ihr müßt alles verlassen und zu mir kommen.«
»Aber was wird Euch das helfen können, Mutter?«
»Euch gar viel, und das ist's, woran ich denke. Ich bin nicht toll, wenn auch gar vieles mich um den Verstand hätte bringen können. Ich bin nicht toll, ich fasele nicht und bin auch nicht betrunken; ich weiß, was ich verlange; ich weiß es, es ist Gottes Wille gewesen, Euch aus wunderbaren Gefahren zu erretten, und ich soll das Werkzeug sein, Euch wieder auf Eures Vaters Sitz zu bringen. Drum gebt mir Euer Wort und denkt daran, daß Ihr mir das Leben verdankt, in dieser gesegneten Nacht.«
»Wahrlich,« dachte Brown, »es ist etwas Wildes in ihrem Wesen, aber es ist mehr das Wilde der Kraft als des Wahnsinns... Wohlan, Mutter,« fuhr er fort, »ich gebe Euch mein Wort, da Ihr eine so unnütze geringe Gunst fordert. Es wird mir wenigstens Gelegenheit geben, Euch Euer Geld zu erstatten, und mit einer Zugabe.«
»Fort, Fort!« rief sie, mit der Hand winkend. »Denkt nicht ans Geld; es ist Euer eigen; aber denkt an Euer Versprechen und wagt es nicht, mir zu folgen und mir nachzusehen.«
Mit diesen Worten eilte sie in die Schlucht, und hinter ihr fielen Eiszapfen und Schneeflocken nieder, als sie verschwand.
Trotz ihres Verbotes suchte Brown eine Stelle auf dem Bergrande, wo er ungesehen in das Tal hinabblicken könnte, und es gelang ihm nach einigen Schwierigkeiten. Er fand eine Felsenspitze, die steil unter Bäumen und Gestrüpp hervorsprang. Brown kniete auf den Schnee, und vorsichtig das Haupt vorstreckend, konnte er beobachten, was in der Tiefe der Schlucht vorging. Er sah, wie er erwartet hatte, seine nächtlichen Gefährten, zu denen nun noch ein paar andere Männer gekommen waren. Sie hatten den Schnee am Fuße des Felsens weggeräumt und eine tiefe Grube gemacht, die zu einem Grabe dienen sollte. Alle standen rings umher und senkten eine Last, die in einen Schiffermantel gehüllt war, hinab, wie Brown sogleich vermutete, die Leiche des Mannes, den er in der vorigen Nacht hatte sterben sehen. Darauf standen sie einige Augenblicke schweigend, als ob ein teilnehmendes Gefühl über den Verlust ihres Gefährten in ihnen erwacht wäre. Alle Hände regten sich nun, das Grab zuzuwerfen, und da Brown bemerkte, daß die Arbeit bald vollendet war, so hielt er es für das sicherste, den Wink der Zigeunerin zu befolgen und schnell voran zu gehen, um das Gehölz zu erreichen.
Als er unter den Bäumen war, dachte er sogleich an den Beutel der Zigeunerin. Er hatte die Gabe ohne Bedenken angenommen, obgleich bei dem Gedanken an den Stand der Geberin das Gefühl in ihm erwachte, daß er sich dadurch manches in seiner Würde vergäbe. Aber er war freilich aus seiner mißlichen, wenn auch nur vorübergehenden Verlegenheit gerettet. Sein Geld, etwas Scheidemünze ausgenommen, war in dem Felleisen, das Megs Freunde genommen hatten. Es verging immer einige Zeit, ehe er von seinem Agenten Antwort, oder auch von seinem Gastfreunde in Charlieshope den Beistand erhalten konnte, auf den er rechnen durfte. Er faßte daher den Entschluß, Megs Hilfe einstweilen zu benutzen, da er ihr das Geld bald mit reichlichen Zinsen zu erstatten hoffte. »Es kann nur wenig sein,« dachte er, »und ich darf wohl glauben, die gute Frau wird auch ihren Anteil von meinen Banknoten erhalten, um sich für dieses Opfer zu entschädigen.«
Aber wie groß war sein Erstaunen, als er, den Beutel öffnend, eine große Anzahl von Goldstücken verschiedenen Gepräges und aus verschiedenen Ländern fand, die zusammen gegen hundert Pfund Sterling betragen mochten, und außerdem mehrere Ringe und andere Kleinode, deren Wert er, auch nur nach einer flüchtigen Ansicht, sehr hoch anschlug. Er war ebenso erstaunt als bestürzt, sich im Besitze eines Vermögens zu sehen, das mehr als sein eigenes betrug, aber wahrscheinlich durch eben die unrechtlichen Mittel erworben worden war, durch die er das seinige verloren hatte. Sein erster Gedanke war, sich an den nächsten Friedensrichter zu wenden, ihm den Schatz zu übergeben, der so unerwartet in seinen Gewahrsam gekommen, und dabei die merkwürdigen Ereignisse zu erzählen, die ihm begegnet waren. Bei flüchtigem Nachdenken aber stiegen manche Bedenklichkeiten dagegen auf: Würde er nicht sein Wort brechen und die Sicherheit, vielleicht das Leben der alten Frau in Gefahr setzen, die das ihrige gewagt hatte, ihn zu retten? Ueberdies war er ein Fremdling und hatte, wenigstens fürs erste, nicht die Mittel in Händen, sich bei einem beschränkten oder eigensinnigen Landbeamten, wie man ihrer unter den Friedensrichtern zur Genüge fand, Glauben zu verschaffen. Er wollte die Sache reiflicher erwägen. Vielleicht lag in dem Hauptorte der Grafschaft ein Regiment, und da er unter den Offizieren der Armee viele Bekannte hatte, konnte er dann leicht Mittel finden, sich über seine Person auszuweisen, und durch den Beistand des Regimentskommandeurs die Sache so vermitteln, daß die arme Zigeunerin, die er für verrückt hielt, und deren Zuneigung er einem Mißverständnisse oder einem Vorurteile zuschrieb, in sichere Verwahrung gebracht würde... »Nein,« sprach er zu sich selbst, »sie hat sich auf meine Ehre verlassen, und wenn sie der Teufel wäre, so soll sie sich nicht geirrt haben.«
Nach dieser Ueberlegung nahm er aus dem Schatze der Zigeunerin drei bis vier Goldstücke, um seine dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen; das übrige aber ließ er in dem Beutel, mit dem Entschlusse, denselben nicht wieder zu öffnen, bis er das anvertraute Gut entweder der Geberin erstatten oder in die Hände eines öffentlichen Beamten niederlegen konnte. Den mitgenommenen Säbel wollte er anfangs im Walde liegen lassen; aber es wäre unvorsichtig gewesen, sich wehrlos zu machen, so lange er noch Gefahr lief, den Räubern wieder zu begegnen. Sein einfaches Reisekleid verriet noch immer so sehr den Kriegsmann, daß die Waffe nicht übel dazu paßte.
So ging er mutig durch den Wald, die Landstraße zu suchen, die nach Kippletringan führen sollte.