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Vrena hatte sich weinend in den Sessel geworfen, als Jöken Mürk fort war. Rode Harms stand ratlos vor ihr:

»Ich begreife deine Aufregung nicht. Wenn du dich angemeldet hättest, wäre ich natürlich zu Hause gewesen.«

Vrena antwortete ihm nicht.

Am Vormittage hatte Frau Behnke sie besucht, scheinbar so im Vorübergehen. Als sie aber sah, daß Karla nicht zu Hause war, ließ sie sich Zeit und brachte das Gespräch vorsichtig auf Vrenas Ehe. Sie hatte herzlich mit ihr gesprochen und es verstanden, Vrenas Widerstand zu überwinden. Vielleicht war es ihr auch dadurch möglich geworden, weil Vrena eine Auseinandersetzung mit Karla gehabt hatte. Sie wollte ihre Schwester veranlassen, Syrrha auf einige Zeit nach Dranshop einzuladen. Karla aber weigerte sich entschieden, und Vrena warf ihr vor, daß sie Syrrha ungerecht behandelte. Darüber war es zum Streit zwischen den Schwestern gekommen.

So fielen Frau Behnkes Worte bei Vrena auf weicheren Boden:

»Glauben Sie mir, Ihr Mann würde sich freuen, wenn Sie unerwartet nach Börshoop zurückkämen. Solche Überraschung in seine Einsamkeit hinein wäre der erste Schritt zu einer Versöhnung, denn daß er sich nach einem Menschen sehnt, hat mein Mann aus seinen Worten herausgefühlt.«

»Ihr Mann hat ihn in den letzten Tagen gesprochen?« fragte Vrena überrascht. Frau Behnke berichtete von der Aussprache zwischen Rode Harms und dem Konsul, was sie für gut hielt. Vrena war nachdenklich geworden. Sie begriff, daß Frau Behnke nicht allein aus eigenem Antrieb zu ihr gekommen war.

Am Abend kehrte Vrena dann nach Börshoop zurück. Je mehr sie sich dem Hause näherte, umso versöhnlicher wurde sie gestimmt. Sie sah ein, daß die Frau an die Seite des Mannes gehört und seiner Eigenart Verständnis entgegenbringen muß. Ein Schiff, das gewöhnt ist, Lasten zu tragen, eignet sich schlecht zu fröhlicher Fahrt. Es wird immer schwer und ernst seine Bahn ziehen und zu der grauen Härte seiner Planken paßt kein leichter Wimpelschmuck, aber Menschen, die sich ihm anvertrauen, werden sicher sein in dem starken Schutz seiner Bohlen. So erschien ihr jetzt Rode Harms. Als der Wagen an den festen Gehöften von Bögerlant vorüber rollte, empfand Vrena wieder das Gefühl von Geborgensein. Diese Häuser lagen ebenso breit und zuverlässig da wie das Haus, das Rode Harms ihr bereitet hatte. Sie war drauf und dran gewesen, das alles von neuem gegen ein unruhiges Leben einzutauschen. Sie schloß aufatmend die Augen. Sie war froh, daß sie den Weg zurück fand.

Aber das Haus, in das sie nun kam, war leer. Es klang kein freudig erstaunter Ausruf ihr entgegen. Es war niemand da, der ihre Hände nahm, niemand, der ihre Rückkehr anerkannte und ihr sagte: »Ich habe so lange auf dich gewartet.«

Erst von dem Wächter erfuhr sie, wo Rode Harms war. Ihre Bereitschaft zu versöhnlicher Stimmung verging. Sie wartete verdrießlich. Auch Alma war nicht da, die ihr nach der Fahrt in dem zugigen Wagen hätte aufwarten können. ›Sie feiern also Hochzeit‹, dachte sie ärgerlich. ›Rode Harms läßt sich von dem Vater des Dienstmädchens bewirten. Er zecht mit seinen Leuten zusammen. Da fühlt er sich nun zu Haus.‹

Sie wirft ihm jetzt in Gedanken vor, daß er die Einladung zu der Weihnachtsfeier bei Konsul Behnke abgelehnt hat. ›Er wird auch mit ihnen Weihnachten gefeiert haben‹, denkt sie zornig. Mit jeder Minute längeren Wartens wächst ihr Verdruß. Sie hat den Mantel auf den Stuhl geworfen, die Handschuhe über den Tisch weg auf die Erde. Ab und zu tritt sie aufgebracht ans Fenster. Sie hört von der Straße her Schwadronieren. Ein quäkriges Lachen bricht in das Haus. Rode Harms' behagliches Sprechen kommt die Treppe empor. Dazwischen knarrt rostig eine alte Stimme.

›So also wartet er auf mich‹, überfällt es sie.

Was nun aus Vrena spricht, ist nicht eine vernünftige Frau, die jedes Wort abwägt und dem Augenblick gewachsen ist, sondern ein gekränktes Kind, das auf einmal eine Freude zerbrochen sieht. Es wird ungerecht und läßt seine Wut zügellos hinschießen. Auch als Jöken Mürk schon gegangen ist, nimmt Vrena keine Vernunft an. Sie sitzt in eigensinnigem Schweigen und läßt die Worte des Mannes an sich vorbeigleiten. Erst als Rode Harms sagt: »Du hättest den alten Mann nicht kränken sollen«, bricht sie los. Sie wirft ihm alles wieder vor, was sie ihm schon oft gesagt hat aber sie übersteigert diese Vorwürfe noch. Ihre Worte fahren gegen das Fischerhaus los, darin Rode Harms geboren wurde, hämmern gegen das armselige Dorf, gegen die Not und Mühsal darin und schlagen auf das bißchen Freude ein, das die Armen sich gönnen. Es ist, als wollte sie mit Worten Börshoop von Grund auf zerstören.

Rode Harms schweigt erschrocken. Er findet kein Wort zur Verteidigung. Er sagt nur traurig: »Bist du gekommen, mir das zu sagen?«

Vrena ist aufgesprungen und als hetzten die eigenen Worte sie aus dem Haus, hat sie den Mantel umgeworfen und ist fortgelaufen. Die Tür flog hart ins Schloß.

Rode Harms geht ihr nicht nach. Er steht mitten im Zimmer, unbeweglich. Die Uhr schlägt. Er zählt mechanisch die Stunden. Die Uhr schlägt zwölfmal. Sie hat einen hellen scharfen Klang. Er durchschneidet die Stille.

Vrena läutet an der Tür des Hauses auf der Rowen Düne. Die Klingel fällt schrill in den nächtlichen Schlaf.

Syrrha richtet sich erschrocken auf. Frems geht schlurfend an die Tür.

»Wer ist da?« fragt er verschlafen.

»Mach auf!« Es ist Vrenas Stimme. Frems öffnet verstört. Er zittert, als Vrena an ihm vorbei die Treppe empor läuft.

Oben ist ein lang hinhallendes Weinen.

 

Vrena war nach Dranshop zurückgekehrt. Sie hatte darauf gewartet, daß Rode Harms in dem Haus auf der Rowen Düne nach ihr fragen würde, aber er war nicht gekommen.

Ihre Worte lagen wie schwere dunkle Blöcke in seinen Gedanken, zu fest gerammt, als daß er sie hätte wegwälzen können. Diese Worte waren ein grausam klüftiges Gebirge, unübersteigbar für ihn und ohne jeden Pfad. Sie standen Tag und Nacht vor ihm aufgetürmt, und er mußte aus tiefer Verbitterung zu ihnen aufsehen. Vrenas Worte, die an seiner Herkunft rüttelten und an allem, was ihm in Börshoop lieb war, hatten ihn niedergeworfen und eine unwiderstehliche Macht zwang ihn stets von neuem, sich ihre maßlosen Vorwürfe zu vergegenwärtigen. Da mochte er wohl, zwischen Haß und Kleinmütigkeit schwankend, seinen Gedanken vergebens zurufen: Laßt es vergessen sein, denkt nicht mehr daran! Er befahl es ihnen, er beschwor sie, aber sie blieben unerbittlich. Kein Mensch ist Herr seiner Gedanken, eigenmächtig steigen sie auf, breiten sich oft in erschreckliche Irrgänge und ohne daß der Mensch es will, schieben sie ihn in eine wesenlose Verdammnis, die aus Schemen und Schatten aufsteigt und in gierigen Fängen mit seinem Entsetzen vor derlei Gedanken erbarmungslos spielt.

Zwei Tage war Vrena bei Syrrha geblieben, dann ließ sie sich von Frems nach Dranshop fahren.

Der alte Kutscher, der ein unglückliches Ereignis ahnte, war völlig niedergeschlagen und kam mit allen Verrichtungen nur langsam vom Fleck, so daß Vrena ihn ungeduldig anfuhr. Als der Wagen sich Rode Harms' Hause näherte, hielt Frems die Pferde etwas zurück und wandte sich mit einem halb fragenden, halb bittenden Blick zu Vrena, aber sie winkte ihm hastig und ließ ihn schneller zufahren. Der Alte gehorchte seufzend. ›Mögst du es nicht bereuen, junge Frau‹, dachte er, ›es ist gar leicht etwas weggeworfen, und wenn man sich eines Tages doch danach sehnt und es sucht, hat es die Erde verschluckt. Willst du nicht umkehren? Es ist noch Zeit.‹ Die Pferde gehen langsamer schon. Wenn man sich umwendet, sieht man das Haus noch. Vielleicht blickt er dem Wagen nach, jäh erschrocken und ohne Mut, sich bemerkbar zu machen. Wie langsam die Pferde schon gehen. Vrena fahrt hoch.

»Beeil dich, Frems!« ruft sie, »ich will vor Nacht in Dranshop sein.«

Die Pferde laufen wieder, der Wagen rollt. Es ist ein grauer Nachmittag, februarfeucht und kalt. Wie könnt es ein sonniger Tag auch sein?

Ein paar Tage nach Vrenas Abfahrt kam Syrrha zu Rode Harms. Vrenas Koffer standen noch in seinem Hause. Sie war an jenem Abend nur in Hut und Mantel zu Syrrha gekommen. Nun sollten die Koffer nach Dranshop geschafft werden und noch einige Dinge, die sie ihrer Schwester bezeichnet hatte.

»Alma wird alles bereitstellen«, sagte Rode Harms, »Kog kann es dann morgen nach Dranshop schaffen und Alma mag mitfahren und ihm dabei zur Hand gehen.«

So war eigentlich Syrrhas Auftrag erledigt, aber sie zögerte noch und wartete wohl darauf, daß Rode Harms sich aussprechen möchte. Er schwieg jedoch hartnäckig, und so saßen sie sich wortlos gegenüber. Rode Harms saß ungeschickt, er hatte eine dicke Joppe an und sah aus wie ein Mann, der von der Arbeit kommt.

›Was mag Vrena an ihm gefunden haben?‹ fiel es Syrrha ein.

Sie betrachtete ihn mit vorsichtigem Blick. Rode Harms fühlte es und sein Mund zog sich für einen Augenblick unwillig zusammen. Er stand auf und ging durch das Zimmer.

›Wie ihn das Schreiten verwandelt‹, stellt Syrrha verwundert fest. Er ist ein Mensch ungeschickt zur Ruhe, aber stark und entschlossen in der Bewegung. Er hat einen freien Schritt, wie Menschen ihn haben, die sich durch nichts beengen lassen. Solch ein Schritt ist schon Handeln. Entschluß deutet er an und einen greifenden Willen.

Syrrha war zaghaft gekommen, aber ihr Kleinmut hatte sich vor seiner Schlichtheit verloren. Nun aber, vor dem Auf- und Abwandelnden stellte sich diese Unsicherheit wieder ein. Sie fürchtete, daß sie kein Wort zur Verteidigung ihrer Schwester finden würde, wenn er jetzt zu reden begänne, denn dieser schreitende Mensch trug so hüllenlos sein klares und vorwärtsdrängendes Leben zur Schau, trug es mit einer so geraden Einfachheit, daß man sich hätte schämen müssen, vor ihm ein unruhiges, haltloses und flattriges Leben zu entwirren.

Syrrha erhob sich rasch. Er bemerkte plötzlich ihre Verlegenheit und da er wußte, wie zurückgesetzt von den Schwestern sie lebte, sagte er ihr zum Abschied ein freundliches Wort. Diese kleine hingesagte Freundlichkeit nahm Syrrha verwirrt entgegen und wandelte sie auf dem Heimwege gedankenvoll in eine warm aufkeimende Zärtlichkeit.

Rode Harms hatte Vrenas Sachen durch Alma zusammenpacken lassen, und der Danziger sollte sie nun nach Dranshop bringen. Anstelle von Alma fuhr Hede Lorm mit, die in der Dranshoper Niederlage der Räucherei sowieso einiges zu erledigen hatte.

Per Stieven war mit dem Kutter zu einem größeren Fang unterwegs. Sie waren weit hinausgefahren und wollten achtzehn Stunden auf See bleiben. So fügte sich diese Dranshoper Fahrt gut für Hede Lorm. Sie hatte Mute zu Hilke gebracht. Da war das Kind sicher aufgehoben und konnte mit Öllerke spielen. Hede Lorm hatte also Zeit und freute sich, einmal wieder in der Stadt zu sein, denn sie war lange Zeit nicht aus Börshoop herausgekommen.

Bei Alma war manches von Frau Holwes Redereien hängen geblieben und wenn sie sich auch nach wie vor gut mit Hede Lorm stand, so war doch ein kleines Mißtrauen da, das bei jeder Gelegenheit durchblitzte. So hatte Hede Lorms Fahrt mit dem Danziger mancherlei Unleidliches für sie. Es war ihr in ihrem Herzen nicht recht, daß die junge Frau ihres Vaters so auf lange Stunden aus dem Gesichtskreis gerückt war, umso mehr, als das Mädchen aus allen Tuscheleien herausgehört hatte, daß Hede Lorm gerade in der Dranshoper Hafengegend gut bekannt sein sollte. Dazu kam, daß Alma nicht viel von dem Danziger hielt. Sie kannte ihn viele Jahre. Er hatte in ihrer Kindheit schon als Handelsmann im Hause mit vorgesprochen. Damals war er ein lustiger und offener Mensch gewesen, der für die Kinder immer eine Süßigkeit in der Tasche hatte. Seitdem er aber in der Räucherei arbeitete, sein sicheres Einkommen besaß und infolge seiner Gewandtheit und Fixigkeit von Rode Harms bei schwierigeren Geschäften bevorzugt wurde, maßte er sich manches Vorrecht an, blies sich den Fischern gegenüber gern auf und tat so, als ginge es nicht mehr ohne ihn. Das mochte nun noch hingehen, doch hatte sein Wesen in der letzten Zeit etwas Undurchsichtiges bekommen und er nebelte sich in einer Schwatzhaftigkeit ein, die sich nach außen gutmütig auftat, von der man aber nicht wußte, welchen Kern sie barg.

So war von Anfang an eine geheime Angst in Alma und sie ließ sich von Hede Lorm versprechen, bald zurückzukommen. Man konnte damit rechnen, daß die beiden am Abend zurück wären. Alma wartete ungeduldig auf sie. Sie ging oft auf den Hof und horchte auch die Straße entlang.

»Du mußt dich nicht ängstigen«, sagte Rode Harms, »sie werden Aufhaltungen gehabt haben. Manchmal muß man in den Kontoren länger warten, vielleicht haben sie auch bei Fräulein Karla nicht gleich jemand angetroffen.«

Alma gab sich Mühe, sich mit diesen Worten beruhigen zu lassen, doch kam sie nicht von ihren drückenden Gedanken los. Sie war ein heiteres, gerngläubiges Kind gewesen. Das Schicksal, das sich in Rode Harms' Hause vor ihr abspielte, und das sie mehr ahnte als erkannte, hatte einen Schatten auf ihr zutunliches Wesen geworfen. Sie war ernster und älter geworden und zog Fragen in den Kreis ihrer Betrachtung, über die sie vor nicht langer Zeit noch hinweggesungen hatte.

Die Nacht verging und der Wagen war nicht aus Dranshop zurückgekommen. Erst am Morgen fuhr er auf den Hof. Der Danziger erging sich schimpfend in Ausflüchten.

Hede Lorm verhielt sich still. Sie senkte den Blick, als Alma sie ansah. Das Mädchen lief in die Küche und weinte.

Alma trug noch immer die dünne Kette um den Hals, die Hede Lorm ihr zur Konfirmation geschenkt hatte. Jetzt riß sie die Kette ab und wollte sie zum Fenster hinauswerfen, aber da sah sie das schmale Kreuz daran, erschrak und verschloß sie zu unterst in ihrem Nähkasten.

Rode Harms nahm den Danziger beiseite und machte ihm Vorwürfe. Kog blieb bei seinen Beteuerungen und schwur Stein und Bein, daß die Sache sich so verhielte, wie er sie darstellte. In dem Gasthof, wo er auszuspannen pflegte, wäre der Stallschlüssel nicht zu finden gewesen. Schließlich sollte sich herausgestellt haben, daß ein Knecht den Schlüssel auf eine Tanzerei aus Nachlässigkeit mitgenommen hätte. So konnten sie die Pferde nicht herausbekommen. »Wir haben stundenlang gesucht«, wollte er glaubhaft machen. »Ich war schon dabei, die Tür aufzubrechen, aber der Wirt hats nicht zugegeben. Es ist ein altes schweres Kastenschloß. Da wäre die ganze Tür draufgegangen. Gegen Morgen ist der Kerl erst gekommen. Da sind wir todmüde losgefahren.«

Zu Hede Lorm sagte Rode Harms nichts. Er nahm ihren Bericht über die Auslieferung der Sachen an Vrena wortlos entgegen.

Von diesem Tage an fand Alma kein Wort mehr für Hede Lorm. Sie ging ihr nicht aus dem Wege. Im Gegenteil, es schien als suchte sie jede Gelegenheit, um sich vor Hede Lorm bemerkbar zu machen. Auch am Abend, als ihr Vater zurückgekommen war, ging sie zu ihnen. Per Stieven fiel das veränderte Wesen seiner Tochter auf.

»Was hast du denn?« fragte er mehrmals. Hede Lorm sah bei diesen Fragen mit einer scheuen Ängstlichkeit zu Alma hinüber. Doch das Mädchen schwieg, und Per Stieven war von der langen Fahrt zu ermüdet, um sich mit Alma zu beschäftigen.

Scheinbar ging alles nach wie vor seinen geordneten Gang. Wenn Per Stieven zurückkam, war er froh, Hede Lorms sorgliche Achtsamkeit um sich zu haben. Trotz ihrer Arbeit in der Räucherei fand sie immer noch Zeit genug, das eigene Haus freundlich und sauber zu halten. Per Stieven erkannte das willig an und ärgerte sich über Alma, die jetzt zwar öfter als früher kam, aber am Tisch immer mit einem vorwurfsvollen Gesicht Hede Lorm gegenüber saß.

»Du mußt es ihr nicht übelnehmen«, sagte Per Stieven einmal zu seiner Frau, »Alma ist ein junges Ding und die Veränderung hier im Hause scheint ihr schwerer einzugehen, als ich dachte.«

Hede Lorm hatte sich vorgenommen, mit Alma zu sprechen, aber im letzten Augenblick wagte sie es doch nicht. Sie bemühte sich freundlich zu dem Mädchen zu sein und es durch Kleinigkeiten zu erfreuen, weil sie wohl darauf vertraute, daß die Zeit allem den Stachel nehmen würde, aber je mehr sie um Alma warb, umso störrischer wurde das Mädchen. Es blieb in seiner stummen Abwehr. Man kann Menschen aus einem Hause herausschweigen. Das Nichtgesagte redet lauter als das Gesprochene. Das freundliche Wort, das ohne Antwort bleibt, flattert wie ein verirrter Vogel zwischen den Wänden und sein ängstlicher Flügelschlag läßt hier und da den Kalk herabrieseln. Eines Tages wird auch die letzte Freundlichkeit sich zwischen den kalten Steinen zerschlagen.

›So soll das bis in alle Ewigkeit fortgehen‹, fürchtet sich Hede Lorm. ›Es ist ein Gewitter, das sich nicht entladen will. Das nimmt mir den Atem. Das Mädchen hat wohl recht, aber es ist grausam. Ich würde alles darum geben, es ungeschehen zu machen.‹

Sie will an die Nacht in Dranshop nicht mehr denken. Sie geht dem Danziger weit aus dem Weg. ›Ich bereue es doch, siehst du es denn nicht?‹ fragen ihre Blicke das Mädchen.

Aber die Nacht glomm weiter in ihren Gedanken. Per Stieven ist ein wortkarger, schwerer Mensch. Wenn die Sprache nur vier Worte hätte, würde sie für ihn ausreichen. ›Darf man nicht ein Mal das Herz singen lassen?‹ denkt Hede Lorm. Wenn ihr Herz sang, hatte er es nicht gehört. Er umgab sie mit seiner Zuverlässigkeit und mit seinem geraden und gerechten Sinn, und er forderte dafür die Zuverlässigkeit einer freundlichen Liebe, ihre Sorgfalt zu häuslichen Dingen, sparsames Auskommen und ein geregeltes Gedeihen. ›Das könnte ihm auch Alma geben‹, sagt sich Hede Lorm, ›ich hab gewußt, daß er nicht gern in den Festtagsrock steigt, aber eine Freude hin und wieder gehört zum Leben. Er hätt schon mit mir nach Dranshop fahren können, dann wär das nicht gekommen.‹ Aber auf einmal schaukelt ein Abend heran mit Musik und mit Tanz. Wie ein buntes Schiff kommt er daher. Lichter sind da, Gelächter und Lust. Komm an Bord und fahr mit, komm an Bord, junge Frau, warum willst du dich wehren und sträuben? Deine Füße sind traurig, die Straße ist grau, wir wollen dich einmal erfreuen. Ein jeder von uns hat schon Tränen geweint. Das Schicksal schlug oft hart an die Tür. Laß einmal das alles vergessen sein. Die Nacht ist nun da und der billige Wein, der Tanz und die Gläser voll Bier. In jedem Gesicht schläft ein anderes Gesicht, das trägt nur den Schmerz um den Mund, o wecke das arme hinschlafende nicht, es träumt über ihn ein zärtliches Licht aus blauer Mitternachtsstund.

Lichter waren und Gelächter. Jener Abend glitt heran wie ein Schiff. Man war hineingehoben worden in diese verlangenden Stunden, die auf einmal alles vergessen machten, die ihre Minuten wie sprühende Funkelsteine vorbeitanzen ließen, ein lockendes Feuerwerk, das in den Takten der Musik knisterte, unter den Füßen der Tanzenden hinsprang und in den Gläsern, die man lachend zum Munde führte, aufzuckte. Man war ihm willenlos hingegeben. Wußte sie, wer in dieser Stunde neben ihr saß, Per Stieven oder Kog? Sie fühlte nur, daß es ein Mann war, der seine Arme robust um sie gelegt hatte, der ihren Fuß in derber Lust trat, der das Geld über den Tisch rollen ließ und die Gläser immer von neuem füllte. Ein jeder von uns hat schon Tränen geweint, was fragt wohl das Leben nach dir? Laß heute das alles vergessen sein, die Nacht ist nun da und der billige Wein, der Tanz und die Gläser voll Bier.

Diese Nacht glomm noch in ihren Gedanken. Hede Lorm wollte sie vergessen, doch gelang es ihr nicht. Die Nacht brannte in ihr weiter wie ein dunkler Schein. Sie weinte darum und haderte mit ihrem Herzen. Sie war oft voll Verzweiflung.

Per Stieven merkte nichts von alledem. Vor ihm hatte sie ein warmes gleichmütiges Gesicht.

Einige Zeit darauf verschwand der Danziger. Er hatte sich in aller Stille davongemacht. Von Rode Harms war er mit Pferd und Wagen nach Elshoeft geschickt worden, um, wie er es öfter tat, Fische aufzukaufen. Kog aber hatte das Gespann in dem Dranshoper Gasthof untergestellt und dem Wirt gesagt, daß er nicht mehr die Absicht hätte, länger bei Rode Harms zu bleiben. Sie hatten schon mehrere Gläser getrunken, als Kog mit seinem Entschluß herausrückte.

»Wenn dein Knecht morgen das Gespann in die Niederlage bringt, kann ers im Kontor gleich bestellen. Mir paßts nicht mehr, der Strohwisch zu sein, an dem sich jeder reibt. Dazu ist mir mein Fell zu schade.«

In der letzten Zeit war er oft mit den Börshooper Fischern in Krach geraten. Rode Harms hatte ihn seit der Dranshoper Fahrt mit Hede Lorm links liegen lassen. Man war bald in der Räucherei dahinter gekommen und die Frauen, die dort arbeiteten und ihn bisher mit einem gewissen Respekt behandelt hatten, begannen, sich über ihn lustig zu machen. Der Danziger ließ sich vor ihnen nichts merken, aber in der Kneipe bei Drüsel zahlte er es ihren Männern mit vielen Bosheiten heim. Er besaß ein schnelles Mundwerk und die Fischer waren ihm in ihrer Schwerfälligkeit nicht gewachsen. Doch vergalten sie es ihm durch allerlei Redensarten, die ihn insgeheim aufbrachten. Eines Abends war Stim Kaat, auf den der Danziger einen besonderen Groll seit der Ablehnung seines Geldes hatte, bei Drüsel gewesen. Kog wußte, wie befreundet Stim Kaat und Per Stieven waren und daß jedes Wort, das gegen Per Stieven gesagt wurde, auch Stim Kaat traf. So fing der Danziger an, seine Witze über Per Stievens junge Ehe zu reißen. Er ließ sogar vorsichtig sein Vergnügen über den Abend mit Hede Lorm in Dranshop durchblicken.

»Nun, du kennst sie ja auch«, rief Kog über den Tisch Stim Kaat zu.

Stim Kaat überhörte diesen Zuruf.

»Du hast doch damals mit ihr getanzt, als Jan und Peter dran glauben mußten!«

Stim Kaat ergriff wortlos sein Glas und schmiß es nach dem Danziger. Es flog hart an dessen Kopf vorbei und zerkrachte an der Wand.

Die anderen waren aufgesprungen und hielten Stim Kaat zurück. Kog hielt es für geraten, sich aus der Gaststube zu drücken. Er war aber sofort nach Mole Deeps Haus gegangen, vor dem Netze zum Trocknen aufgehängt waren. Er suchte das Netz heraus, zu dem er Stim Kaat einmal Geld gegeben hatte und nahm es mit. Doch hatte er seitdem Furcht, daß Stim Kaat über sein unredliches Geldverdienen etwas verlauten lassen könnte. So fühlte sich der Danziger unsicher in Börshoop und er wäre am liebsten bei Nacht und Nebel davongegangen.

Die Fahrt zu den Elshoefter Fischern kam ihm daher wie gerufen. Es war ihm gelungen, seine Sachen unbemerkt auf den Wagen zu bringen, und als das letzte Gehöft von Bögerlant seinen Blicken entschwand, atmete er erleichtert auf. Er war sich noch nicht darüber klar geworden, wohin er nun sollte, aber mitten in all seiner Bedenkenlosigkeit erwachte auf einmal ein Heimweh. Wie ein Kind, das eines mutwilligen Streiches wegen ein schlechtes Gewissen hat und sich der der verdienten Strafe auf dem Boden des väterlichen Hauses oder hinter der Schürze der Mutter verstecken will, so hatte auch der Danziger nur diesen einen Wunsch: nach Haus. Er konnte sich nicht vorstellen, wie die alte Gegend ihn empfangen würde. Vielleicht war sie ihm noch fremder als früher. In diesem Augenblick der Entscheidung aber erschien sie ihm als die einzige Zuflucht.

Rode Harms gab nicht viel auf seinen Weggang. Die Nachricht war am Abend gekommen, und Alma war mit die erste, die es erfuhr.

Sie lief sofort zu ihrem Vater. Wie eine Siegesbotschaft rief sie es in die Stube.

Hede Lorm, die neben Per Stieven am Tisch saß, erblaßte. Sie legte das Brot, das sie schneiden wollte, hin und sah sprachlos auf Alma.

»Er ist weg!« schrie das Mädchen ihr ins Gesicht. »Wenn dus nicht glaubst, geh doch hin!«

»Was geht mich Kog an?« antwortete Hede Lorm verwirrt.

»Ach so?« höhnte Alma.

»Was fällt dir ein?« fuhr nun Hede Lorm auf, »wie du mir kommst, paßt mir schon lange nicht mehr. Laß dir erst mal vom Leben die Nase abwischen!«

Per Stieven sah verdutzt hoch.

»Was ist denn los?« brummelte er.

»Sie weiß schon, weshalb sie so schreit«, ereiferte sich Alma. »Der Danziger ist davongelaufen. Schrei doch noch lauter, vielleicht hört ers!«

Per Stieven warf den Löffel auf den Tisch.

»Was soll das heißen«, rief er.

Alma antwortete nicht. Sie hatte sich in die Ecke gesetzt und heulte.

»Merkst dus nicht«, sagte Hede Lorm scharf, »sie will die Elster machen, die dir was ins Ohr schwatzt. Hier ist ein Groschen für deine Nachricht. Das ist noch zuviel.«

Sie warf Alma einen gestrickten Geldbeutel hin. Das Mädchen sprang auf und lief aus der Stube.

Per Stieven war aufgestanden:

»Jetzt ists genug! Was ist in euch gefahren? Sowas kenn ich nicht.«

»Sags der draußen«, antwortete Hede Lorm kurz und machte sich mit den Tellern zu schaffen. Per Stieven stand noch einen Augenblick unschlüssig und ging dann in den Flur. Alma hatte sich in die Türecke gelehnt, den Kopf gegen die Wand, und schluchzte.

»Du hast sie aufgebracht«, sagte Per Stieven vorwurfsvoll, »du mußt nun sagen, was du gegen sie hast. Sie ist von Natur aus ein friedlicher Mensch, und ich denke, du könntest mit ihr auskommen.«

Alma erwiderte nichts darauf. Sie schluchzte nur lauter.

»Du kannst mir schon sagen, was du gegen sie hast«, redete Per Stieven ihr zu, »ich brings zwischen euch in Ordnung.«

Er bekam keine Antwort.

»Das bin ich nicht gewohnt von dir«, wunderte sich Per Stieven, »wenn du nichts gegen sie vorbringen kannst, sollst du auch nicht gegen sie haken. Ich will Frieden im Haus haben.«

Er ging mißmutig in die Stube zurück. Hede Lorm war bei Mute. Er hörte sie in der Kammer sich bewegen.

Draußen wurde die Türe zugemacht. Alma war gegangen.

Hede Lorm kam an diesem Abend nicht wieder in die Stube. Sie hatte sich zu Mute ins Bett gelegt. Per Stieven saß allein. Er wartete, daß Hede Lorm noch einmal zu ihm herein käme. Er saß in Gedanken da und schüttelte ein paarmal verständnislos den Kopf. Dann erhob er sich, nahm das Brot, schnitt ein paar Scheiben ab, bestrich sie und wickelte sie vorsichtig in Papier. Es sollte sein Essen sein für die frühe Fahrt am Morgen. Er stellte eine Kanne daneben, eine Laterne und legte seine Uhr dazu. So hatte er alles beisammen. Er holte auch noch die langschäftigen Stiefel herein, die an der Flurwand hingen, und die Öljacke vom Stuhl neben dem Herd. Dann legte er sich zu Bett für die paar Stunden, die ihm gegönnt waren.

Am Morgen, als er schon fort war, kleidete Hede Lorm Mute an. Sie war nicht in die Räucherei gegangen, sondern hatte einer Nachbarin gesagt, daß sie unpäßlich wäre.

Aus früheren Tagen besaß sie noch einen Koffer. Da hinein tat sie das Wenige, das ihr gehörte. Auch Mutes Wäsche legte sie hinzu und die Puppe, die noch immer das Kleid aus der holländischen Bluse trug.

»Du hast deinen guten Mantel an«, sagte Mute.

»Wir wollen verreisen«, antwortete Hede Lorm.

»Dann zieh ich auch meinen Mantel an«, lachte Mute. Es war ein kleiner roter Plüschmantel mit einem weißen Krimmerkragen. »Das Schäfchen«, nannte ihn Mute. Sie war immer stolz, wenn sie ihn tragen durfte, denn er wurde nur bei besonderen Gelegenheiten hervorgeholt. Er war für Mute etwas zu groß, aber sie sollte noch hineinwachsen. »Im nächsten Jahr kannst du ihn den ganzen Winter tragen«, hatte die Mutter ihr versprochen.

Mute freute sich, daß sie nun verreisen wollten. Sie bat, es schnell noch Kiek Möns sagen zu dürfen, doch Hede Lorm erlaubte es nicht.

»Wir kommen ja bald wieder«, tröstete sich Mute, »dann will ich ihr alles erzählen.«

Es war noch früh am Morgen, als sie aus Börshoop fort gingen. Die Fischer waren draußen auf der See und die Frauen arbeiteten in der Küche. So trafen sie niemand.

Sie gingen bis zu Drüsels Wirtschaft. Hede Lorm wußte, daß Fenner mit seinem Fuhrwerk in den Vormittagsstunden dort immer zu einem kurzen Frühstück Rast machte.

Als sie in die Gaststube traten, wollte Fenner gerade gehen.

»So fein?« staunte er, »und einen Koffer? Wo soll denn die Reise hingehen?«

»Wir wollen nach Dranshop«, sagte Hede Lorm, »wenn du uns ein Stück mitnehmen könntest, wäre es schön.«

Sie sagte das ganz leicht hin und ohne jede Verlegenheit.

»Da habt ihr Glück gehabt«, lachte Fenner, »ich will hin und Zucker kaufen.«

Sie stiegen auf seinen Wagen. Mute setzte sich neben ihn auf den Bock und Hede Lorm weiter zurück, so daß sie halbverdeckt von dem Plan war. Sie saß zwischen zwei Kisten, in denen Fenner seine Handelsware hatte. Während der Fahrt kamen die Kisten ins Rutschen und drückten schwer auf Hede Lorms Fuß. Doch saß sie still und rührte sich nicht. Hede Lorm kam nicht wieder. Sie war dreißig Tage mit Per Stieven verheiratet, als sie ihn verließ. Er konnte es lange nicht fassen, weil er nicht begriff, aus welchem Grunde sie fortgegangen sein könnte. Sie hatte auch keinerlei Nachricht hinterlassen, keinen Gruß, kein Wort. Sie war ihm eine gute Frau gewesen in den dreißig Tagen und auch in der Zeit vorher. Er hätte nichts gewußt, was er ihr hätte vorwerfen können. Doch ist alles Schicksal, vorbestimmt und aufgezeichnet. Dem kann keiner entgehen. So legte es Per Stieven sich aus. Er ahnte wohl, daß zwischen Alma und Hede Lorm etwas vorgefallen wäre, doch fragte er nicht danach. Er sprach nicht mehr von der Frau, und niemand hätte zu sagen vermocht, ob er sie aus seinen Gedanken gestrichen hatte oder ihr in seinem Herzen noch ein Andenken bewahrte.

Er nahm aber Alma wieder zu sich ins Haus. Vielleicht glaubte er, daß die Umgebung eines fremden Hauses ihr doch nicht gut täte, denn er hatte wohl gemerkt, daß sie in manchem verändert war. Vielleicht hoffte er, daß sie ihre frühere Munterkeit wieder gewinnen würde, und daß, wenn auch nicht bald, so doch später einmal ihr Singen wieder durch das Haus gehen könnte.

Rode Harms kam das alles ungelegen. Nach Almas Weggang sah er sich in dem Haus ganz allein. Er hatte gedacht, daß Alma ein paar Stunden am Tage bei ihm nach der Wirtschaft sehen würde, aber sie wollte nichts mehr mit der Räucherei zu tun haben, denn sie hatte gehört, daß man dort tuschelte, Hede Lorm wäre dem Danziger nachgefahren.

Es war auch nicht möglich, daß Wine kam, um in seinem Hause nach dem Rechten zu sehen. Sie mußte sich mit ihrer Hochzeit beeilen, damit, wie man sagt, das Kind ins fertige Bett kommt.

»Es ist neugierig, da wirds bestimmt ein Mädchen«, hatte Stim Kaat gelacht. Darüber war Hannes Lietz verdrießlich.

»Mach dir nichts draus«, tröstete ihn Stim Kaat, »es ist schon gut, daß es ein Mädchen wird, oder soll Öllerke mal allein bleiben?«

Daraufhin hatten sie angestoßen und fühlten sich verschwägert, so daß sie von diesem Zeitpunkt alles was sie taten, für eine gemeinsame Zukunft zu tun hofften.

Ab und zu hatte sich Frems bei Rode Harms sehen lassen. Er war niedergeschlagen und konnte es nicht fassen, daß eine Ehe, von der er sich nur Gutes versprochen hatte, auseinander gegangen sein sollte. Er wagte nicht, auf Vrena Sterenbrink zu sprechen zu kommen, hoffte aber doch, daß Rode Harms einmal von ihr anfangen möchte. Aber er mußte vergeblich darauf warten, und er ging ungetröstet in seinem umständlichen Kummer jedesmal heim.

Eines Abends kam Syrrha zu Rode Harms. Frems hatte ihr erzählt, daß Alma wieder bei ihrem Vater wäre, und daß es Rode Harms noch nicht gelungen sei, eine tüchtige Person für seine Wirtschaft zu finden. Sie hatte sich gedacht, daß er vielleicht zu den Mahlzeiten zu ihr ins Haus kommen würde, doch scheute sie sich, es ihm anzubieten. Sie wünschte, daß der Vorschlag von ihm käme.

Seit den Tagen nach Vrenas Abreise hatten sich Syrrha und Rode Harms nicht mehr gesprochen. Für ihn waren die Schwestern Sterenbrink in eine vergangene Ferne gerückt, und wenn Frems kam, sah Rode Harms in ihm nicht den Kutscher der Sterenbrinks, sondern einen alten Mann, der ihm gut bekannt war und der wie Jöken Mürk oder Jakob Tharden seine Tage in Börshoop zu Ende bringen wollte. Syrrha dagegen hatte oft an Rode Harms gedacht. Was Vrena ihm zum Vorwurf machte, dieses innerliche Zurückgehen nach dem Fischerdorf, fand bei ihr eine andere Auslegung. Rode Harms erschien ihr als der Mann, der Welt und Menschen kennen gelernt hatte und nun nach Arbeit und Erfolg, nach dem Auf und Ab eines geschäftigen Lebens bereit war, in den idyllischen Frieden einer Landschaft zurückzukehren, in welcher der geheimnisvolle Herzschlag des Meeres sich mit dem leisen Puls des Sees vermählte, und das Land wie ein schmaler bräutlicher Gürtel sich hindehnte, aufstrahlend in den köstlichen Farben der Jahreszeiten. Was sie selber an Erwartungen einer in sich verliebten Einsiedelei in einsamen Stunden sich ausgemalt hatte, dichtete sie nun auch in Rode Harms hinein. Es war kein Begehren nach ihm, aber wenn sie sich nicht gescheut haben würde, die Überschwenglichkeit ihres Gefühls in Worte zu kleiden, so hätte sie ihn in Gedanken den Bruder ihrer Seele genannt. Sie wünschte sich oft, den herben Reiz dieser abgeschlossenen Landschaft mit ihm gemeinsam zu erleben. Sie liebte auch die Vorstellung, wie sie, die Letzte eines alten Geschlechtes mit allen Abwandlungen eines überspitzten Lebensgefühls im Blute, und er, der gradmaschige Sproß aus kleiner hartnäckiger Fischerfamilie, ihre Sprachen, Gedanken und Erkenntnisse gegen einander abwägen, sichten und in einander einfügen würden. Darüber hatte sie in der letzten Zeit oft gedacht, aber sie wagte nicht, sich Rode Harms zu nähern. Sie fürchtete eine falsche Auslegung bei ihm oder bei Vrena, und so zögerte sie auch mit dem einfachsten Anerbieten einer Betreuung seines frauenlosen Haushalts, so weit es in ihren Kräften stand, und bis man eine tüchtige Hilfskraft für ihn gefunden hatte.

Sie war nun zu ihm gekommen in der Hoffnung, daß er von sich aus sie darum bitten würde.

Rode Harms war erstaunt über diesen Besuch, aber er machte aus seiner Freude kein Hehl. Die letzten Ereignisse in Börshoop, die Flucht des Danzigers, das Verschwinden der Hede Lorm, das Geschick Per Stievens hatten ihm hart zugesetzt. Er war mit keinem Menschen mehr zusammen gekommen. Er ging nur zu den Mahlzeiten zu Drüsel. Nun taten ihm Syrrhas besorgte Fragen wohl. Sie waren darüber ins Erzählen gekommen und Syrrha verstand es, dieses Gespräch bei Börshoop verweilen zu lassen. Er wunderte sich darüber, daß sie jetzt mit dem Dorf so vertraut schien. Sie sprach von dem alten Kars, mit dem sie oft hinausruderte. Er hatte mit seinem Sohn viel Ärger gehabt und ihn kurzerhand aus dem Haus herausgesetzt. Der junge Kars wohnte nun in dem Anbau, worin es weder Ofen noch Fenster gab. Sie waren mit Aalgabeln auf einander losgegangen. Am liebsten hätte der Alte den Jungen ganz aus dem Gehöft gewiesen, aber der Sohn pochte auf sein mütterliches Erbteil, das der Alte ihm nicht auszahlen konnte.

Solche Geschichten ereigneten sich öfter in Börshoop. Man war vom Boot her die Weite der See gewöhnt und sah sich zu Hause in eine unerträgliche Enge versetzt, wo einer dem anderen im Wege stand. Besonders wenn ein strenger Winter keinen Fischfang gestattete und man gezwungen war, die Tage müßig zu verbringen, entluden sich oft alle Erbitterungen. Sie rannten gegen einander an, bis das Wetter wieder zugänglich wurde und Fisch und Meer sie versöhnte.

»Es ist das alte Piratenblut«, sagte Rode Harms lächelnd.

Sie kostete dieses Wort aus wie. eine Frucht. Dieses Hingeworfene bot sich ihr wie eine geheimnisvoll verschlossene Pflanze dar, die sich nun öffnete, und aus der ein Börshoop blühte, das sie noch nicht bedacht hatte in diesem Augenblick waren die Fischer, die in den niedrigen Häusern hausten, nicht mehr arme Werktätige für sie, sondern Nachkommen verwegener Seefahrer aus den frühesten Tagen erster Meerfahrt. Diese Menschen in ihrem uralt ewigen Handwerk erhoben sich vor ihren Gedanken in einer unwandelbaren Zeitlosigkeit. Das braune Segel der Boote, die vor ihren Augen über den See fuhren, erschien ihr als die große Fahne einer stolzen Freiheit, eine Fahne, die nicht im Winde berauscht hin- und herflattert, sondern sich dem Gesetz der Arbeit einfügt zu Glück und Gunst des Bootes und seiner Insassen.

Syrrha fühlte sich von diesen Gedanken weit weggetragen. Jedes Bild, das ihr jetzt einfiel, schoß wie eine Möwe über die Worte hin, die sie mit Rode Harms wechselte. Ihr Gesicht war belebt. Sie hielt den Kopf etwas vorgebeugt, wie lauschend. So saß sie da, eine der letzten drei Verwehten aus dem Hause auf der Rowen Düne, Syrrha Sterenbrink, die aus dieser Stunde ein Grüßen herfühlt aus verronnener Zeit, denn irgendwo im Hafen des Herzens rauscht noch ein Segel von Wikings Fahrt.

Rode Harms beobachtet voll Verwunderung, wie sich der Ausdruck ihres Gesichtes wandelt.

Sie hatte in ihren Zügen immer etwas Verhülltes, etwas Traumbefangenes. Ein hinwandlerisch Gleiten lag darin, ein versponnenes Hinknien in den Abendsang dämmernder Wölbungen. So ungefähr war der Ausdruck ihres Gesichtes.

Doch als Rode Harms nun zu ihr blickte, war dieses Gesicht aus allen Schleiern herausgetreten und stand vor ihm, klar und bewußt.

›Sie ist stolz‹, denkt Rode Harms, ›sie ist vielleicht stolzer als Karla, aber ihr Stolz wird aus einer Demut geboren. Karla ist der Tyrann, Vrena die Herrin, aber Syrrha ist der Mensch.‹

Sie fühlt, daß er über sie nachdenkt und errötet. Sie erhebt sich befangen.

»Ich werde dich begleiten«, sagt Rode Harms.

Sie nickt wortlos.

Am Ufer liegt ein Boot. Das Segel ist schon gesetzt. Simon Gülke ist dabei, die leeren Fischkörbe einzuladen.

»Du kannst uns mitnehmen«, ruft Rode Harms.

Sie steigen ein. Rode Harms setzt sich an das Steuer, Syrrha gegenüber.

Simon Gülke hockt zwischen den Körben und raucht in langen Zügen seinen Tabak. Der zurückgehende Mond sandte sein spärliches Licht. Ab und zu knarrten die Taue, mit denen der Segelbaum am Mast befestigt war. Sonst war nur noch das Gluckern des Wassers am Boot. Syrrha hatte die Hände fest auf die Planken gelegt. Wundervolles, trotziges Holz.

Mit diesem Tage begann die Freundschaft zwischen Syrrha und Rode Harms. Sie sahen sich bald täglich. Rode Harms nahm in dem Haus auf der Rowen Düne seine Mahlzeiten ein und verbrachte dort auch seine Abende. Was er bei Vrena vermißt hatte, fand er bei Syrrha. Er konnte mit ihr über alle Börshooper Angelegenheiten sprechen. Sie hatte Muße, sich mit seinen Plänen wegen des Neulandes am Tief zu beschäftigen, und sie ließ sich von ihm über den Prozeß gegen die Papierfabrik unterrichten. Darüber war Rode Harms besonders froh, denn er wagte mit diesen Dingen Martha jetzt nicht zu kommen. Sie hatte genug mit der Verwaltung des Erbes zu tun, das Pudmar ihr hinterlassen hatte. Dazu kam, daß sie ihrer Niederkunft in der nächsten Zeit entgegensah.

Durch seine Besuche bei Syrrha löste sich Rode Harms wieder von den Fischern. Einige von ihnen, besonders die Frauen, verübelten ihm den Verkehr im Haus auf der Düne. Es wurden hämische Bemerkungen über ihn und Syrrha gemacht. Da Rode Harms sich nichts vorzuwerfen hatte, kam er nicht auf den Gedanken, daß man in Börshoop darüber reden könnte. Auch Syrrha fand nichts dabei. Nur Frems war bekümmert, weil er hin und wieder durch Andrees ein Wort erfuhr. Er machte einmal seinem Herzen Luft, als Jöken Mürk bei ihm in der Stube saß.

»Du mußt nichts draufgeben, sag ich dir«, antwortete der alte Mürk. »Der Mensch ist ein ernsthaftes Geschöpf. Wer ihn zum Narren macht, auf den fällt Schimpf und Schande zurück.«

Das waren Worte, die er von Jakob Tharden gehört hatte und an denen er sich aufrichtete, wenn ihn zuweilen jäh die Erinnerung überfiel an jene Zeit, in der er zum Gespött der anderen durch Börshoop getorkelt war und aus der ihn Rode Harms herausgeführt hatte.

Frems hatte ihn beschworen, Rode Harms gegenüber von dem Gerede nichts verlauten zu lassen. Doch Jöken Mürk glaubte es seiner Freundschaft schuldig zu sein, nicht schweigend darüber hinzugehen. Er erzählte es aufgebracht Stim Kaat:

»Ich werde es nicht auf ihm sitzen lassen, so wahr ich der Kaptän bin. Da wird man dazwischen fahren. Sie sollen ihr Maul nicht mehr aufreißen.«

Er stellte nun die Fischersfrauen zur Rede und auch die Männer bekamen ihr Teil ab.

Einige wie Gülke und der alte Kars wußten gar nicht, um was es sich handelte, und er mußte ihnen haarklein das Getratsch, das über Syrrha und Rode Harms aufgekommen war, auseinandersetzen.

Mit Frau Holwe, in der er die Quelle aller Redereien sah, hatte er einen besonders heftigen Tanz.

»Kümmere dich um deine eigene Nase!« rief sie erbost. »Man kennt sie noch, als sie blau wie 'n Karpfen war.«

»Dir wird noch 'ne Butt ins Maul springen«, schrie der Kaptän.

Frau Holwe war gerade dabei, die Netze leer zu machen. Sie hatte eine Scholle in der Hand und fuchtelte damit vor seinem Gesicht.

»Da hast du eine«, lachte sie wütend.

Er machte sich schleunigst davon. Frau Holwe war ein Satan, dem man alles zutrauen konnte. Es tat nicht gut, sie bis zum Äußersten zu reizen.

Über den Weg rief er ihr noch drohend zu: »Flotzmaul!« Es fiel ihm im Augenblick nichts Ärgeres ein.

Am Nachmittag berichtete er Rode Harms, wie er ihnen allen die Köpfe gewaschen hätte. Rode Harms, der nichts von dem Gerede in Börshoop ahnte, wurde aus seinen Andeutungen nicht klug. Jöken Mürk klärte ihn vorsichtig und mit vielen Entschuldigungen auf.

»Du mußt dir nichts draus machen. Das alles fällt auf sie zurück. Der Mensch ist eine ernsthafte Person. Wer ihrer spottet, versündigt sich am Himmel. Du kannst den Garnsherrn fragen, der sagts auch.«

Wenn Rode Harms auch nichts auf das Geschwätz gab, so war es ihm doch vor Martha unangenehm. Er fürchtete, daß das, was man über ihn und Syrrha sprach, auch ihr zu Ohren gekommen sein könnte, und da er ihr lauteres und strenges Wesen kannte, wußte er nicht, wie sie es ihm auslegen würde. Über alle Annäherung an Syrrha hatte er sie nicht vergessen. An dem Tage, als ihr Kind geboren wurde, war er sofort besorgt zu ihr gegangen. Er konnte sie nicht selbst sprechen. Sie war zu leidend, denn sie hatte sich die Monate über bei der vielen Arbeit nicht schonen können. Er hatte ihr Blumen da gelassen und gebeten, daß sie ihn als Paten für den Neugeborenen bestellen möchte, der nach dem Vater auf den Namen Jürgen getauft werden sollte. Sie hatte ihm das zusagen lassen. Außer Rode Harms sollten noch der alte Christof Hingsten und Stim Kaat die Patenschaft übernehmen. Martha wünschte auch, daß eine angemessene Taufe hergerichtet wurde, und wenn es auch im Gedenken an den Toten still und feierlich zuging, so hatte sie doch weder an Trank noch Speise gespart, so daß man wohl mit Recht sagen konnte, daß der kleine Jürgen mit aller Stattlichkeit, die einem Hofbauernsohn zukommt, als Christenmensch in das Leben geführt wurde. Der alte Hingsten war gerührt, weil Martha sich seiner in Ehren erinnert hatte, und er ließ es sich nicht nehmen, täglich nach seinem Patenkinde zu sehen. Wie ihn einst Mariechen mit kleinen nichtigen Geschenken aus ihrer Kramwelt erfreut hatte, so brachte er jetzt dem kleinen Pudmar das mit, was der Zufall ihm in den Weg warf, ein paar bunte Hühnerfedern, einen blinkernden Stein oder ein schneeweißes Ei, das er behutsam ausgeblasen hatte und nun auf dem Wiegentuch an einem Zwirnsfaden tanzen ließ.

Einmal war Rode Harms da gewesen, als Martha das Kind wickelte und das Frischgebündelte vor sich im Schoße hielt. Sie saß an dem Fenster, das nach dem Hof hinausging. Die Stube lag zu ebener Erde und so sah man an Martha vorbei auf den Hof. Stall und Schuppen schlossen nach den Seiten hin den Blick ab, der aber in grader Flucht über den See und das jenseitige Ufer gleiten konnte. So hatte man vor sich das Viereck des Hofes mit Wagen, Brunnen und Apfelbaum, dahinter den viereckigen Ausschnitt des Sees, auf dem fast reglos ein Segel stand, und wieder dahinter die sich in den Himmel verlierende Fläche der Felder, durch eine ferne fast winzige Baumstraße harmonisch geteilt. Vor dieser weiten klaren Schau saß nun Martha mit dem Kind auf dem Schoß. Sie hielt ihr Gesicht mit einem kleinen glücklichen Lächeln zu dem Kind gewendet, dessen rundes Köpfchen mit einer hölzernen Steifheit an ihrem Arm lehnte, während die kleinen Füße neugierig sich spreizten.

Auf Rode Harms hatte dieser Anblick einen so tiefen Eindruck gemacht, daß ihn von jener Stunde an das Bild wie ein frommer Spruch begleitete, den man von Kind her, für jede Minute gewärtig, bereit hat. Martha war ihm dadurch näher gerückt als je, und er gab sich keinem Zweifel darüber hin, daß sie allein die Frau wäre, die sein Leben begütigen könnte.

Nun war er über das, was Jöken Mürk ihm berichtet hatte, unruhig geworden. Er stellte seine Besuche bei Syrrha ein. Sie wunderte sich darüber, daß er wortlos fortblieb, und sie hätte gerne den Grund gewußt, doch widerstrebte es ihr, zu ihm zu gehen, und so wartete sie, daß er selbst die Aufklärung bringen möchte.

So waren ein paar Wochen ins Land gegangen. Rode Harms fühlte sich in seinem Stillschweigen vor Syrrha unbehaglich. Er kam sich vor wie ein junger unreifer Mensch, der in einem stummen Rückzug die einfachste und sicherste Rettung aus einer unleidlichen Verwicklung sieht. Er entschloß sich, mit Syrrha zu sprechen. Er wollte ihr alles sagen, und wo es not tat, um ihren freundschaftlichen Beistand bitten. Zwar glaubte er, daß sich die völlige Loslösung von Vrena ohne Widerstand regeln ließe, doch wünschte er, daß es in einer guten Form geschähe. Darin könnte Syrrha ihm beistehen. Er wollte sie auch von seiner Hoffnung auf Martha Pudmar unterrichten, und daß er nach Ablauf des Trauerjahres ihre Entscheidung erfragen würde.

Mit diesen Überlegungen ging er zu Syrrha. Als er eintrat, konnte sie ihre Freude nicht verbergen. Sie wünschte jetzt keine Entschuldigungen wegen seines Fernbleibens mehr zu hören. Es schien ihr zu genügen, daß er wieder da war. Ohne zu fühlen, daß Rode Harms etwas Besonderes auf dem Herzen hatte, wollte sie auf das Gespräch zurückkommen, mit dem sie bei seinem letzten Besuch nicht zu Ende gekommen waren Das verwirrte Rode Harms, und als es ihm dann gelang, die Rede auf die Gründe seines Kommens zu bringen, trug er sie nicht wie eine reifliche Überlegung vor, sondern wie ein unsicher dahintappendes Geständnis, das eher einer flüchtigen Eingebung entsprungen zu sein schien als dem klaren Entschluß seines Herzens.

Syrrha kannte Martha Pudmar kaum. Was Rode Harms nun von ihr erzählte, legte sie sich nach eigenem Gutdünken zurecht. Aus der arbeitsamen, pflichttreuen und klug schaltenden Frau, wie er Martha darstellte, erstand in ihrer Vorstellung eine nüchterne, hausbackene und mit dem Pfennig rechnende Wirtschafterin. Sie glaubte auf einmal, daß Rode Harms drauf und dran war, sich wieder zu verrennen, denn sie konnte sich nicht denken, daß er, der Weitgereiste und Welterfahrene, sich mit dem engen Kreis dieser Frau begnügen könnte. Sie widersprach ihm nicht, aber sie fühlte plötzlich eine Traurigkeit in sich aufsteigen, über die sie sich verwundert Rechenschaft zu geben suchte. Sie hatte ihr Gefühl für Rode Harms bisher noch nie überprüft. Sie war ein leidenschaftsloser Mensch, der sich mit romantischen Vorstellungen begnügte und eigentlich nie den Wunsch hatte, das erträumte Leben Wirklichkeit werden zu lassen. Nun erkannte sie mit Bestürzung, daß die Hinneigung ihres Herzens zu einem Manne von dem verwunschenen Pfad einer träumerischen Abgeschlossenheit abgeirrt und allzusehr schon dem Erfaßbaren zugebogen war. Diese Erkenntnis offenbarte sich ihr vollends, als Rode Harms ging. Sie fühlte sich jäh vereinsamt. Es überfiel sie das Verlangen, ihm nachzueilen, denn sie fürchtete, daß sein nächster Weg schon zu Martha wäre. Erst im letzten Augenblick, die Tür schon halb geöffnet, widerstand sie. Erschrocken über diesen Ausbruch ihres Gefühls trat sie zurück. Die Stille des Zimmers atmete um sie in vielen zitternden Lichtstrahlen. Syrrha lehnte hingelöst in dem atmenden Licht. Sie begriff, daß sie Rode Harms liebte.

 


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