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IV

Zehn bis zwölf Ukrainer Meilen waren die Städte, durch welche Basia auf dem Weg von Chreptiow nach Raszkow gekommen war, voneinander entfernt, und der ganze Weg längs des Dniestr betrug gegen dreißig Meilen. Von den Nachtrasten war man stets mit dem ersten Morgengrauen aufgebrochen und hatte erst spät am Abend neue Rast gemacht. So hatte die ganze Reise, die Rastzeit mit eingerechnet, trotz der schwierigen Wege und Gebirgsübergänge nur drei Tage in Anspruch genommen. So rasches Reisen war in den damaligen Zeiten etwas Ungewöhnliches, sowohl für Truppen als für einzelne Reisende; aber wer den Willen dazu hatte, oder dazu gedrängt war, konnte damit zu stande kommen.

Im Gedanken daran berechnete Basia, daß die Rückreise nach Chreptiow noch weniger Zeit erfordern würde, besonders da sie zu Pferde war und da es sich um eine Flucht handelte, bei welcher die Rettung von der Schnelligkeit abhing.

Allein schon am ersten Tage erkannte sie ihren Irrtum, denn bei der Unmöglichkeit, auf der Straße längs des Dniestr zu fliehen, war sie genötigt, weite Bogen durch die Steppen zu machen und dadurch wurde der Weg bedeutend verlängert.

Ueberdies konnte sie Irrwege einschlagen, und es war wahrscheinlich, daß dies der Fall sein würde; sie konnte auf bereits aufgetaute Flüsse stoßen, auf unwegsame, undurchdringliche Wälder, auf Sümpfe, die selbst im Winter nicht zufrieren. Durch Menschen und durch Tiere konnte ihr Unheil widerfahren – darum mußte sie, obwohl sie auch des Nachts weiter eilen wollte, wider Willen zu der Ueberzeugung gelangen, daß selbst im günstigsten Falle der Zeitpunkt ihrer Ankunft in Chreptiow sehr fraglich sei.

Es war ihr gelungen, sich Azyas Armen zu entziehen; doch was würde ihr weiteres Schicksal sein? Zweifellos, alles andere, war jenen schändlichen Armen vorzuziehen; aber dennoch stockte ihr bei dem Gedanken, was ihr noch bevorstehen könne, das Blut in den Adern. Der Gedanke kam ihr sofort, daß sie die Pferde nicht schonen dürfe, wolle sie nicht von Azyas Leuten eingeholt werden. Die Lipker kannten die Steppen durch und durch, und es war fast eine Unmöglichkeit, sich vor ihren Augen zu verbergen und der Verfolgung zu entgehen. Sie waren ja im Frühling und im Sommer den Tataren auf der Fährte, wenn weder auf dem Schnee noch auf der Erde die Spuren von Pferdehufen mehr zu erkennen waren; sie lasen in der Steppe wie in einem offenen Buch; sie überschauten diese Ebene mit Adlerblicken; sie schnüffelten gleich Jagdhunden nach jeder Spur; ihr ganzes Leben war in Verfolgungen aufgegangen. Umsonst nahmen zuweilen die Tataren durch Flußbette ihren Weg, um keine Spuren zu hinterlassen, – die Kosaken, die Lipker und die Czeremisen, desgleichen die polnischen Streifzügler wußten sie zu finden, ihren Finten mit gleichen Finten zu begegnen und, als seien sie aus dem Boden hervorgewachsen, sie plötzlich anzugreifen. Wie war es möglich, solchen Leuten zu entrinnen? Nur dadurch, daß man sie so weit hinter sich zurückließ, daß die Entfernung jede Verfolgung unmöglich machte. Aber in diesem Fall konnten ihre Pferde zu Grunde gehen.

»Sie werden zu Grunde gehen, wenn ich in gleicher Weise wie bisher weiter reite,« dachte Basia voll Schrecken, indem sie die triefend nassen, dampfenden Flanken der Tiere betrachtete und den Schaum, der in großen Flocken zur Erde fiel.

Darum ritt sie von Zeit zu Zeit langsamer und lauschte; und in jedem Windhauch, in dem Rauschen der dürren Blätter in den Schluchten, in dem Geräusch, das durch das Aneinanderschlagen verdorrten Steppenkrautes verursacht wurde, in dem Sausen der Flügelschläge eines vorüberziehenden Vogels, ja selbst in der Stille der Wildnis, die sie in ihren Ohren klingen hörte, glaubte sie die Stimmen der Verfolger zu vernehmen.

Und wieder eilte sie erschreckt in rasender Eile weiter, bis ihr das Keuchen der Tiere von neuem klar machte, in dieser Weise könne es nicht weiter gehen.

Das Gefühl der Verlassenheit und Ohnmacht lastete mehr und mehr auf ihr. Ach, wie fühlte sie sich verwaist, welch ein ebenso starker als unbilliger Groll gegen alle Menschen wuchs in ihrem Herzen, ja, selbst gegen die Nächststehenden, Teuersten, daß man sie so verlassen hatte.

Dann dachte sie, sicher sei dies eine Strafe Gottes für ihre leidenschaftliche Abenteuerlust, für ihre Hast, an jeder Jagd, jeder Expedition teilzunehmen, sehr oft gegen den Willen des Gatten, für ihre Ausgelassenheit und ihren Mangel an gesetztem Wesen.

Wenn sie daran dachte, weinte sie, und ihr Haupt erhebend, wiederholte sie schluchzend die Worte:

»Züchtige mich, aber verlaß mich nicht! Den Michal strafe nicht. Der Michal ist unschuldig.«

Inzwischen war die Nacht angebrochen, und mit ihr Kälte, Dunkelheit, Unsicherheit über den Weg und Bangigkeit. Die Gegenstände begannen sich zu verwischen, trübe zu werden, ihre bestimmten Umrisse zu verlieren, und wurden doch gleichzeitig in geheimnisvoller Weise lebendig. Und es war, als ob sie auflauerten.

Die vorspringenden Teile auf den schroffen, hohen Felsenwänden sahen wie Köpfe in spitzen oder runden Mützen aus – Köpfe, welche sich über irgend eine Riesenmauer beugten und mit stillen, unheilverkündenden Blicken auf die unten Vorbeireitende niederschauten. Die im Abendwind sich bewegenden Baumäste machten Bewegungen wie Menschen. Die einen winkten Basia, als wollten sie sie herbeirufen, um ihr irgend ein schreckliches Geheimnis ins Ohr zu flüstern; die anderen schienen zu sprechen und zu warnen: »Komme nicht heran!« Die Umrisse entwurzelter Baumstämme mahnten an irgend ungeheuerliche, auf dem Boden kauernde Gestalten, die zum Sprung ausholten.

Basia war mutig, sehr mutig, allein wie alle Menschen damaliger Zeit – abergläubisch. Als die Schleier der Nacht die Erde völlig verhüllten, da sträubte sich ihr das Haar auf dem Kopf, und kalte Schauer durchrieselten ihren Körper bei dem Gedanken an die bösen Geister, die vielleicht in diesen Gegenden hausten. Besonders vor Vampyren fürchtete sie sich. Der Glaube an diese war, durch die Nachbarschaft der Moldau, besonders längs der Ufer des Dniestr verbreitet, und gerade die Gegend um Jampol und Raszkow war in dieser Beziehung übel berüchtigt. Wie viele Leute waren daselbst schon eines plötzlichen Todes gestorben, ohne Beichte und Absolution! Basia gedachte all der Schauergeschichten, welche die Ritter des Abends am Kaminfeuer zu Chreptiow erzählt hatten, Geschichten von tiefen Abgründen, aus welchen man, wenn der Wind heulte, in Jammertönen die Worte »O Jesus, Jesus!« vernahm, von Irrlichtern und deren schnarchenden Stimmen, von lachenden Felsen, von bleichen Kindern, Vampyren mit grünen Augen und ungeheuerlichen Köpfen – welche flehentlich baten, daß man sie aufs Pferd nehme, und die einem das Blut aussogen, wenn man ihnen willfahrte, – endlich von Köpfen ohne Rumpf, die auf Spinnenbeinen einherwandelten und von den schrecklichsten aller dieser Gespenster, von den »Brukolaken«, welche ohne weiteres über die Menschen herfielen.

Sie begann sich zu bekreuzen und hörte damit erst auf, als ihre Hand erschöpft niedersank; dann betete sie noch eine Litanei, denn das war die einzige Waffe, mit der man sich der schlimmen Mächte erwehren konnte. Eine gewisse Beruhigung gaben ihr die Pferde, welche ohne irgend ein Anzeichen von Furcht kräftig mit den Nüstern schnoben. Zuweilen fuhr sie mit der Hand über den Hals ihres Renners, wie um sich zu überzeugen, daß sie sich in einer wirklichen, greifbaren Welt befinde.

Die anfangs sehr finstere Nacht wurde allmählich heller, und endlich flimmerten die Sterne durch einen leichten Nebelschleier hindurch. Für Basia war dies ein sehr günstiger Umstand, – zunächst darum, weil ihre Furcht sich verringerte, dann aber auch, weil das Sternbild des großen Bären ihr die Richtung nach Norden wies, wo Chreptiow lag. Als sie genauer ihre Umgebung betrachtete, wurde ihr klar, daß sie sich bereits weit vom Dniestr entfernt habe, denn die Felspartien waren seltener, Hügelland, zum Teil von Eichen bewachsen, zeigte sich und weite Ebenen thaten sich auf. Von Zeit zu Zeit freilich mußte sie durch Schluchten hindurch, in welche sie jedesmal mit bangem Herzen eindrang, denn in deren Tiefen herrschte Finsternis und durchdringende Kälte. Manche waren so steil, daß sie gezwungen war, sie zu umgehen, und dadurch ging viel Zeit verloren und der Weg wurde um ein Beträchtliches verlängert.

Schlimmer war es mit den Flüssen und Bächen, deren Wasser alle von Osten her dem Dniestr zuströmten. Sie waren alle aufgetaut, und die Pferde schnaubten vor Furcht, wenn sie des Nachts durch diese ihnen fremden Gewässer von ungewisser Tiefe waten mußten.

Basia versuchte nur an jenen Orten einen Uebergang, wo flache Ufer die Vermutung zuließen, daß das breit dahinfließende Wasser auch seicht genug sei. So war es auch tatsächlich in den meisten Fällen: bei einigen Uebergängen jedoch reichte das Wasser den Pferden bis an den Bauch. Basia kniete dann nach Soldatenart auf dem Sattel, und sich am Sattelknopf festhaltend, war sie bemüht, ihre Füße vor Nässe zu bewahren. Aber nicht immer gelang ihr das, und mehr und mehr fühlte sie eine durchdringende Kälte, die sich von den Füßen bis zu den Knien hinaufzog.

»Gebe Gott, daß es bald Tag wird, dann will ich schneller reiten,« wiederholte sie für sich von Zeit zu Zeit.

Endlich kam sie auf eine weitgedehnte, mit spärlichem Wald bedeckte Ebene, und als sie sah, daß die Pferde kaum mehr die Beine rühren konnten, hielt sie an, um zu rasten. Sofort streckten die Tiere den Hals nach dem Boden aus und mit einem Vorderfuß scharrend, begannen sie voll Gier Moos und welkes Gras abzuweiden. In dem Wald herrschte tiefe Stille, nur unterbrochen durch das kräftige Schnauben der Pferde, die das Gras in ihren mächtigen Kiefern zermalmten.

Als sie den ersten Hunger gestillt, oder besser gesagt, hinweggetäuscht hatten, trugen sie offenbar das Verlangen, sich auf den Boden niederzulassen und zu wälzen, aber Basia konnte ihnen das nicht gestatten. Sie wagte nicht einmal, ihnen die Gurten zu lockern und selbst vom Pferde zu steigen, denn sie wollte jeden Augenblick zur weiteren Flucht bereit sein.

Sie wechselte jetzt die Pferde und bestieg Azyas Roß, denn von ihrem eigenen war sie seit der letzten Rast getragen worden, und wenn auch edles Blut in seinen Adern floß, war es doch zarter gebaut als das Tatarenpferd.

Ihren Durst hatte sie beim Uebersetzen über die verschiedenen Gewässer mehrfach gestillt, jetzt fühlte sie Hunger, und sie verzehrte von dem Hanfsamen, von welchem sie auf dem Sattel Azyas ein volles Säckchen gefunden hatte. Er war etwas bitter; erschien ihr aber dennoch schmackhaft, und sie aß davon mit Dankgefühl gegen die Vorsehung, die ihr dies unverhoffte Stärkungsmittel gesandt.

Sie aß in mäßiger Weise, damit sie bis Chreptiow damit ausreiche. – Bald drückte ihr der Schlaf mit unwiderstehlicher Macht die Augenlider zu, aber zu gleicher Zeit hatte sie ein Gefühl von empfindlicher Kälte, die ihren ganzen Körper durchdrang, seitdem die Bewegung des Pferdes aufgehört hatte, ihr Wärme zu geben. Ihre Beine erstarrten vollständig; sie fühlte eine ungeheure Ermüdung im ganzen Körper, besonders aber im Rücken und in den Schultern, die sie im Kampf mit Azya besonders angestrengt hatte. Von übergroßer Schwäche ergriffen, schloß sie unwillkürlich die Augen.

Aber nach einer Weile öffnete sie sie wieder mit Gewalt. »Nein! Bei Tag und im Reiten will ich schlafen!« dachte sie; »wenn ich jetzt einschlafe, werde ich erfrieren.«

Ihre Gedanken verwirrten sich jedoch mehr und mehr oder überstürzten sich und schufen ungeordnete Bilder, in welchen der Wald, die Flucht, die Verfolgung, Azya, der kleine Ritter, Ewa und die letzten Ereignisse bunt durcheinander gemengt waren, bald wie in einem Traum, bald wie in einem halbwachen Zustand. Wie vom Winde getriebene Wellen eilte das alles vorüber, und Basia selbst eilte mit, ohne Angst, ohne Freude, als ob das so sein müsse. Es war, als ob Azya sie verfolge, aber zu gleicher Zeit sprach er mit ihr und war sehr um die Pferde besorgt; Herr Zagloba war ärgerlich, daß das Nachtessen kalt werde, Michal wies ihnen den Weg, Ewa aber folgte im Schlitten nach und ließ sich die Datteln schmecken.

Dann wurden diese Gestalten immer undeutlicher, als ob ein Nebelschleier oder die Dämmerung sie verhülle, bis sie nach und nach völlig verschwanden. Nur eine seltsame Dunkelheit blieb zurück, welche, obwohl das Auge sie nicht zu durchdringen vermochte, dennoch leer und von unermeßlicher Ausdehnung zu sein schien. Diese Dunkelheit drang überall ein, durchdrang auch Basias Köpflein und verlöschte in ihm alle Gesichte, alle Gedanken, wie ein Windhauch des Nachts im Freien brennende Fackeln verlöscht.

Basia schlief ein; zu ihrem Glück wurde sie durch ein ungewöhnliches Geräusch geweckt, ehe noch die Kälte ihr das Blut in den Adern erstarren machte. Die Pferde scheuten plötzlich; offenbar ereignete sich etwas Besonderes in dieser Einöde.

Basia, sofort ihre Geistesgegenwart wiedererlangend, ergriff Azyas Muskete, und über das Pferd gebeugt, begann sie mit so gespannter Aufmerksamkeit aufzuhorchen, daß ihre Nasenflügel sich bewegten. Ihre Natur war von solcher Art, daß jede Gefahr sofort in ihr Wachsamkeit und Mut und Kampfbereitschaft erweckten.

Nach aufmerksamem Lauschen fand sie keine Ursache zur Beunruhigung. Die Laute, die sie erweckt hatten, rührten von grunzenden Wildschweinen her. Waren es Mutterschweine mit ihren Ferkeln, kämpften ein paar Eber um ein Weibchen – der Lärm, den sie machten, durchdrang die ganze Wildnis. Zweifellos ging das alles in weiter Ferne vor sich, allein in der Stille der Nacht, bei der allgemeinen Ruhe, schien es so nahe zu sein, daß Basia nicht nur das Grunzen und Quietschen, sondern auch das laute Pfeifen der gewaltsam schnaubenden Rüssel vernahm. Plötzlich erscholl ein Krachen, ein Getrappel, das Krachen zerbrochener dürrer Zweige, und eine ganze Herde raste, für Basia unsichtbar, in der Nähe vorbei und verlor sich in den Tiefen des Waldes.

In dieser unverbesserlichen Basia erwachte augenblicklich, trotz ihrer schrecklichen Lage, die Jagdlust, und sie bedauerte lebhaft, daß sie die vorbeirasende Herde nicht gesehen hatte.

»Man möchte sich die Sache doch ein wenig ansehen,« sagte sie sich selbst. »Aber was thut's, da ich durch Wälder reite, werde ich sicher noch dergleichen zu Gesicht bekommen.«

Erst nach diesen Gedanken fiel es ihr ein, daß es besser sei, nichts zu sehen und so rasch als möglich weiterzukommen, und sie setzte ihren Weg fort.

Es war ratsam, sich nicht länger aufzuhalten, denn die Kälte hatte sie mehr und mehr durchdrungen, und die Bewegung des Pferdes teilte ihr Wärme mit und ermüdete sie verhältnismäßig wenig. Die Pferde jedoch, die nur ein wenig Moos und gefrorenes Gras gefressen hatten, gingen nur sehr ungern und mit herabhängenden Köpfen weiter.

Während der Nacht hatten sich ihre Flanken mit Reif bedeckt, und es schien, als schleppten sie ihre Beine nach. Waren sie doch seit der Mittagsrast fast ohne zu ruhen weiter geeilt.

Den Blick auf das Sternbild des großen Bären geheftet, war Basia über eine Waldwiese gekommen und drang nun in einen Wald ein, der nicht sehr dicht war, aber hügelig und von engen Schluchten durchzogen. Und es ward nun dunkler; nicht allein durch den Schatten der Bäume, deren Aeste sich weit ausbreiteten, sondern auch wegen der aufsteigenden Dünste, welche die Sterne verdeckten. Man mußte aufs Geratewohl weiterreiten. Die Schluchten und Wasserrinnen nur konnten noch einigermaßen als Merkzeichen dienen, denn Basia wußte, daß sie sich alle von Osten gegen den Dniestr zu erstreckten, und daß beim Kreuzen neuer Schluchten sie sich immer nach Norden zu bewege. Aber trotz dieses Merkmals konnte sie Gefahr laufen, sich entweder allzu sehr vom Dniestr zu entfernen, oder ihm allzu nahe zu kommen. Beides war gefährlich: im ersten Fall wurde der Weg bedeutend verlängert, im zweiten Fall war es nicht unmöglich, gerade auf Jampol zu stoßen und in Feindeshand zu fallen.

Ob sie aber Jampol noch vor sich oder im Rücken hatte, oder ob sie sich auf gleicher Höhe befand, darüber befand sie sich gänzlich im Unklaren.

»Es ist mehr Aussicht vorhanden, daß ich merke, wenn ich bei Mohilow vorbeikomme,« sagte sie sich, »denn es liegt in einer großen, langgedehnten Schlucht, welche ich vielleicht wiedererkenne.«

Dann blickte sie zum Himmel auf und dachte: »Gebe Gott, daß ich glücklich jenseits Mohilow gelange, denn dort beginnt schon Michals Herrschaft, dort werde ich keine Angst mehr haben!«

Die Nacht wurde finsterer. Zum Glück lag noch Schnee im Wald, auf dessen weißem Grunde die dunklen Baumstämme mit ihren starken niederen Aesten sich abhoben, so daß man ihnen ausweichen konnte. Basia sah sich jedoch dadurch genötigt, langsamer zu reiten, und abermals überfiel ihre Seele jene Furcht vor bösen Geistern, die zu Anfang der Nacht ihr Blut hatte zu Eis gerinnen machen.

»Wenn ich unter mir leuchtende Augen sehe, dann ist es nichts! vielleicht ein Wolf; aber in Manneshöhe ...«

Ein lauter Angstschrei entfuhr ihr.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes ...«

War es Täuschung, oder hatte ein wilder Luchs auf einem Baumast gesessen –

Basia hatte in Manneshöhe ein paar leuchtende Augen gesehen.

Vor Furcht hatten sich ihre Augen umnebelt; als sie nochmals hinschaute, war nichts mehr zu sehen und nur ein Geräusch zwischen den Aesten vernehmbar. Allein ihr Herz schlug so laut, als wolle es ihr die Brust zersprengen.

Und sie ritt weiter, lange, lange Zeit ritt sie weiter, den Tagesanbruch heiß ersehnend; die Nacht schien sich ins Unendliche auszudehnen. Abermals versperrte ein Fluß ihren Weg. Sie war schon weit hinaus über Jampol, an den Ufern der Rosawa, allein sie wußte es nicht und wußte nur, daß sie die Richtung nach Norden verfolge, sobald ein neuer Fluß ihren Weg kreuzte. Und sie wußte auch, daß jetzt die Nacht bald enden würde, denn es war merklich kühler geworden; offenbar trat Frostwetter ein; der Nebel fiel und die Sterne wurden wieder sichtbar, aber in matterem, unsichtbarerem Lichte.

Endlich begann die Dunkelheit lichter zu werden. Baumstämme, Aeste und Zweige wurden immer sichtbarer. Vollkommene Stille herrschte im Wald – der Tag begann zu grauen.

Nach einiger Zeit vermochte Basia schon die Farbe der Pferde zu unterscheiden. Endlich erschien im Osten zwischen den Aesten der Bäume ein breiter Lichtstreif – der Tag war da, ein heiterer Tag.

Basia fühlte unsagbare Müdigkeit. Ihr Mund öffnete sich zu unaufhörlichem Gähnen und ihre Augen schlossen sich; sie fiel in einen tiefen Schlaf, der aber nur kurz währte, denn ein Ast, der ihr Köpfchen streifte, weckte sie. Zum Glück schritten die Pferde sehr langsam dahin, da sie das Moos am Wege abweideten, also war auch jener Schlag nur ein leichter und hatte keine schlimmen Folgen. Schon war der Sonnenball emporgestiegen und seine herrlichen, aber blassen Strahlen schienen durch die unbelaubten Zweige. Bei diesem Anblick zog wieder Mut in Basias Herz; lagen doch nun zwischen ihr und den Verfolgern so viele Steppen, Berge, Schluchten und eine ganze Nacht.

»Wenn ich nur jenen von Jampol oder Mohilow nicht in die Hände falle,« sagte sie sich; »die andern werden mich schwerlich einholen.«

Auch dies brachte sie in Anschlag, daß zu Anfang ihrer Flucht der Weg über felsigen Boden geführt hatte, und darum die Pferdehufe keine Spuren zurücklassen konnten. Gleichwohl wurde sie abermals von Zweifeln erfaßt: »Die Lipker vermögen auch Spuren an Felsen und Steinen zu finden und werden mich hartnäckig verfolgen, bis ihre Pferde tot niederfallen.«

Daß dies letztere geschehen würde, war jedoch sehr wahrscheinlich. Basia konnte das nur zu gut an ihren eigenen Pferden erkennen, deren Weichen eingefallen waren, deren Köpfe herabhingen, deren Blick wie erstorben war. Während sie sich vorwärts bewegten, neigten sie unaufhörlich die Köpfe zu Boden, um ein wenig Moos zu erhaschen oder an den rotbraunen, dürren Blättern zu zupfen, die an dem niederen Eichengestrüpp hingen. Auch mußte Fieberhitze an ihnen zehren, denn so oft sie an ein Wasser kamen, tranken sie voll Gier.

Dennoch, als sie auf ein offenes, zwischen zwei Wäldern gelegenes Wiesenland gelangten, trieb Basia die ermüdeten Tiere zu einer scharfen Gangart an und jagte so weiter bis zum nächsten Forst.

Nachdem sie diesen durchritten, kam sie abermals auf eine, diesmal noch größere und ziemlich hügelige Waldwiese. – Hinter den Hügeln, in einer Entfernung von etwa einer Viertelmeile, stieg Rauch kerzengerade in die Höhe. Dies war der erste bewohnte Ort, auf welchen Basia stieß, denn das Land war mit Ausnahme des Flußgebietes eine Wüstenei, oder war vielmehr in eine solche verwandelt worden, nicht allein durch die Einfälle der Tataren, sondern auch durch die stetigen polnisch-kosakischen Kriege. Nach Herrn Czarneckis letzter Expedition, welcher Busza zum Opfer fiel, sanken die Städtchen zu elenden Ansiedelungen herab, und an den Stätten, wo Dörfer gestanden hatten, erhob sich junger Wald. Und noch nach Herrn Czarnecki, noch bis in die jüngste Zeit, in welcher der große Sobieski diese Länder dem Feind entriß, hatten hier viele Streifzüge, Schlachten und Metzeleien stattgefunden. Schon begann zwar wieder neues Leben sich zu entfalten, allein die Strecke, durch welche Basia kam, war besonders öde und hatte nur noch Räubern zum Versteck gedient, welche durch die Besatzungen von Raszkow, Jampol, Mohilow und Chreptiow fast gänzlich ausgerottet worden waren.

Der erste Gedanke Basias beim Anblick jener Rauchsäule war, gerade darauf zuzureiten und die Meierei oder Hütte, oder auch nur den einfachen Feuerherd aufzusuchen, wo sie Wärme und Nahrung finden konnte. Aber bald fiel ihr ein, daß es in dieser Gegend minder gefährlich sei, mit einer Herde Wölfe, als mit Menschen zusammenzutreffen, denn hier waren die Menschen wilder und grausamer als die Tiere. Nein, es war besser, die Pferde noch anzutreiben, um diesem menschlichen Schlupfwinkel auszuweichen, in welchem höchstens der Tod lauern konnte.

Hart am Rande des gegenüberliegenden Waldes gewahrte Basia einen kleinen Heuschober; auf weiter nichts achtend, hielt sie dort an, um ihre Pferde zu füttern.

Diese fraßen gierig, indem sie ihre Köpfe bis über die Ohren in den Schober steckten und ganze Büschel Heu herauszogen. Dabei waren ihnen die Gebißstangen sehr hinderlich, allein Basia konnte sie nicht abzäumen, denn sie sagte sich in richtiger Weise:

»Wo Rauch ist, da muß auch ein Haus sein, und da hier ein Schober steht, so haben die Leute Pferde, auf welchen sie mir nachsetzen können, – also muß ich auf der Hut sein.«

Sie blieb gleichwohl fast eine Stunde lang bei dem Heuschober stehen, bis die Pferde gehörig gefüttert waren; sie selbst aß von dem Hanfsamen, dann ritt sie weiter, und nach einigen hundert Schritten sah sie plötzlich zwei menschliche Gestalten vor sich, welche Reisigbündel auf dem Rücken trugen.

Die eine war ein Mann, nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, mit einem von Blatternarben entstellten Gesicht, mit schiefstehenden Augen, häßlich, abstoßend und mit einem wilden, tierischen Gesichtsausdruck; die andere ein halbwüchsiger Bursche. Er war blödsinnig; dies zeigte sich an seinem einfältigen Lächeln und an seinem leeren Blick.

Beide ließen ihre Reisigbündel beim Anblick eines bewaffneten Reiters zur Erde fallen und schienen sehr erschreckt zu sein. Aber die Begegnung war eine so plötzliche und beide waren dem Reiter so nahe, daß sie nicht fliehen konnten.

»Gelobt sei der Herr!« sagte Basia.

»In alle Ewigkeit, Amen!«

»Wie heißt dieser Hof?«

»Wozu braucht's einen Namen; es ist ja nur eine Hütte!«

»Wie weit ist es nach Mohilow?«

»Das wissen wir nicht!«

Jetzt begann der ältere Mann Basias Gesicht genau zu betrachten. Da sie Männerkleider trug, hielt er sie für einen halberwachsenen Jungen, und sofort zeigte sich auf seinem Gesicht Frechheit und Grausamkeit an Stelle der früheren Furcht.

»Wie jung Ihr doch seid, Herr Ritter!«

»Was geht's Dich an?«

»Und Ihr seid allein?« frug der Bauer, einen Schritt näher rückend.

»Truppen folgen mir!«

Jener blieb stehen, warf einen Blick über die weite Ebene und sagte:

»Das ist nicht wahr. Niemand ist zu sehen!«

Er machte noch ein paar Schritte vorwärts; seine schiefgeschlitzten Augen leuchteten unheimlich auf, und er begann durch ein eigentümliches Falten der Lippen den Schlag der Wachtel nachzuahmen, offenbar um damit jemanden herbeizurufen.

All dies schien Basia sehr verdächtig zu sein, und ohne Zögern setzte sie dem Manne das Terzerol an die Brust und rief:

»Schweig, oder Du bist des Todes!«

Augenblicklich verstummte der Bauer, ja, er warf sich sofort platt zur Erde nieder. Der Blödsinnige that das gleiche und stieß dabei vor Schrecken ein Geheul aus wie ein Wolf; vielleicht hatte er einst durch einen Schrecken den Verstand verloren, denn aus seinem Geheul klang eine entsetzliche Angst.

Basia ließ den Pferden die Zügel schießen und flog gleich einem Pfeil dahin. Zum Glück hatte der Wald kein Unterholz und die Bäume standen weit voneinander ab. Bald zeigte sich eine andere Waldwiese, die schmal, aber sehr lang war. Durch die Fütterung hatten die Pferde frische Kraft gewonnen und jagten wie der Wind dahin.

»Sie werden heimeilen, Pferde besteigen und mich verfolgen,« dachte Basia.

Ein Trost lag darin, daß die Pferde so rasch liefen, und daß der Platz, wo sie die Leute getroffen, dem Hause nicht allzu nahe lag.

»Ehe sie die Hütte erreichen, ehe sie die Pferde herausführen, bin ich durch mein rasches Reiten eine oder zwei Meilen entfernt von ihnen.«

So war es auch. Als aber einige Stunden vorüber waren und Basia sich überzeugte, daß sie nicht verfolgt werde, und nun langsamer ritt, da überkam eine große Angst und tiefe Niedergeschlagenheit ihre Seele, und gewaltsam brachen ihr die Thränen aus den Augen.

Jene Begegnung hatte ihr gezeigt, wie die Menschen dieser Gegend geartet waren und wessen man sich von ihnen versehen konnte. – Wohl kam ihr dies nicht unerwartet. Sie wußte sowohl aus eigener Erfahrung, als durch das, was man in Chreptiow erzählt hatte, daß die früheren friedlichen Bewohner sich entweder aus den Wildnissen geflüchtet hatten oder vom Krieg verschlungen worden waren, während diejenigen, welche sich dort noch aufhielten, durch den fortwährenden Bürgerkrieg, durch die Ueberfälle der Tataren in einer beständigen Unruhe lebten und unter Lebensbedingungen, welche die Menschen zu reißenden, einander verfolgenden Tieren machen; sie lebten ohne Kirche, ohne Glauben, ohne ein anderes Beispiel als Mord und Verwüstung, ohne ein anderes Recht als das Faustrecht; alle menschlichen Gefühle waren ihnen verloren gegangen, und sie verwilderten wie die Tiere des Waldes.

Basia wußte dies alles wohl. Dennoch erhofft der einsam in der Wildnis umherirrende, durch Kälte und Hunger gequälte Mensch unwillkürlich in erster Reihe Hilfe von ihm ähnlichen Wesen. So war es Basia zu Mut gewesen, als sie den Rauch sah, der eine menschliche Wohnung ankündigte. Dem ersten Antrieb ihres Herzens folgend, wäre sie gern darauf zugeeilt, hätte im Namen Gottes die Bewohner begrüßt und ihr müdes Köpfchen unter deren Dache zur Ruhe niedergelegt. Aber die grausame Wirklichkeit fletschte ihr wie ein bösartiger Hund die Zähne entgegen, und ihr Herz war von Bitterkeit erfüllt, und Thränen des Schmerzes und der Täuschung traten ihr in die Augen.

»Von niemand darf ich Hilfe erwarten, nur von Gott!« dachte sie. »Gebe Gott, daß ich keinem Menschen mehr begegne.«

Dann sann sie darüber nach, warum jener Bauer den Wachtelschlag nachgeahmt; sicherlich wollte er Leute herbeirufen, die in der Nähe waren. Es fiel ihr ein, daß sie sich in dem Bereich befinde, wo die Räuber hausen, welche, aus den Schluchten längs des Flusses vertrieben, sich tiefer ins Land, in die Wildnisse geflüchtet; die Nachbarschaft der weiten Steppen gewährte hier mehr Sicherheit und erleichterte im Fall der Not die Flucht.

»Aber was soll ich beginnen,« frug sich Basia, »wenn ich mehreren Menschen, oder gar mehr als zehn Menschen begegne? Die Muskete ist für einen, die beiden Terzerole für zwei, der Säbel nimmt es ebenfalls mit noch zweien auf; aber wenn die Anzahl größer ist, dann werde ich eines schrecklichen Todes sterben.«

Und wie sie inmitten der Schrecken der vergangenen Nacht den Tag herbeigesehnt hatte, so wünschte sie nun die Dämmerung herbei, die sie vor bösen Augen leichter bergen konnte.

Zweimal noch schien es ihr, während sie ununterbrochen weiterritt, daß sie in der Nähe von Menschen vorbeikomme. Einmal erblickte sie am Rande einer Hochebene eine Anzahl von Hütten. Vielleicht wohnten dort keine gewerbsmäßigen Räuber, allein dennoch zog sie es vor, rasch dahinjagend vorüberzureiten; sie wußte auch, die Landleute waren nicht viel besser als Räuber, und die Axthiebe von Holzfällern waren an ihr Ohr gedrungen.

Endlich senkte sich die ersehnte Nacht zur Erde nieder. Basia war so aufs Aeußerste ermüdet, daß sie, auf einer nackten, unbewaldeten Steppe angelangt, zu sich sagte:

»Hier kann mich kein Baum zerschmettern; ich muß schlafen, selbst wenn ich erfriere.«

Als sie die Augen schließen wollte, schien es ihr, als ob weit in der Ferne auf dem weißen Schnee sich eine Anzahl schwarzer Punkte nach verschiedenen Richtungen hin bewege. Nach einer Weile überwand sie ihr Schlafbedürfnis. »Das sind gewiß Wölfe!« sagte sie leise.

Nachdem sie wenige Schritte weitergeritten war, verschwanden jene Punkte; dann fiel sie in einen so tiefen Schlaf, daß sie erst erwachte, als Azyas Roß, auf welchem sie ritt, zu wiehern begann.

Sie blickte umher und fand sich an dem Rande eines Waldes; und sie erwachte zur rechten Zeit, denn sie hätte durch einen Baum Schaden nehmen können.

Plötzlich bemerkte sie, daß das andere Pferd nicht mehr an ihrer Seite war.

»Was ist geschehen?« rief sie in großer Bestürzung aus.

Eine sehr einfache Sache war geschehen. Basia hatte zwar die Zügel des Zelters an dem Knopf ihres Sattels befestigt; aber ihre Finger hatten nicht mehr vermocht, einen festen Knoten zu schürzen; die Zügel hatten sich losgelöst und das ermüdete Pferd war zurückgeblieben, um unter dem Schnee Futter zu suchen, oder sich niederzulegen.

Zum Glück staken die Terzerole in ihrem Gürtel, und das Pulverhorn und den Rest des Hanfsamens hatte sie auch bei sich. Schließlich war dies Mißgeschick nicht allzu groß, denn Azyas Tatarenpferd, obgleich es dem ihrigen an Schnelligkeit nachstand, übertraf es unzweifelhaft an Widerstandsfähigkeit gegen Kälte und Anstrengung. Dennoch grämte sich Basia um das geliebte Tier, und im ersten Augenblick wollte sie nach ihm suchen.

Sie war jedoch erstaunt, als sie ringsum über die Steppe schaute, daß sie nichts von dem Tiere wahrnahm, obwohl die Nacht ungewöhnlich hell war.

»Es ist zurückgeblieben,« dachte sie, »sicherlich ist es nicht vorausgelaufen; aber es muß irgendwo in einer Vertiefung liegen, wo man es nicht sehen kann.«

Azyas Pferd wieherte ein zweites Mal, wobei es die Ohren zurücklegte und in eigentümlicher Weise sich schüttelte; aber die Steppe antwortete mit Schweigen.

»Ich will zurückreiten und suchen!« sagte Basia.

Und sie wandte ihr Pferd; aber eine bange Furcht erfaßte sie plötzlich, und sie glaubte den Ruf einer menschlichen Stimme zu hören:

»Basia, kehre nicht um!«

Und in diesem Augenblick wurde die Stille durch andere, unheilverkündende Stimmen in der Nähe unterbrochen, die wie aus der Erde zu kommen schienen: ein Heulen, Kreischen, Quietschen, Aechzen, endlich ein furchtbares Wimmern, kurz abgerissen. Dies war um so schrecklicher, weil auf der Steppe nichts zu sehen war. Kalter Schweiß bedeckte Basia vom Kopf bis zu den Füßen, und von ihren blauen Lippen brach der Schrei:

»Was ist das? was geschieht da!«

Sie erriet wohl sofort, daß es Wölfe waren, die ihr Pferd zerrissen, doch war es ihr unfaßlich, daß sie nichts sah, da, nach den Lauten zu schließen, alles kaum fünfhundert Schritte von ihr entfernt vorgehen konnte.

Aber zur Hilfe zu eilen, war nicht an der Zeit, denn das Pferd mußte schon in Stücke zerrissen sein, und sie mußte an ihre eigene Rettung denken. Basia schoß ein Terzerol ab, um die Wölfe zu erschrecken, und ritt weiter. Dabei sann sie über das Geschehene nach, und nach einer Weile fiel ihr ein, daß es vielleicht keine Wölfe gewesen, die ihr Roß zerrissen, weil die Stimmen aus dem Boden hervorzukommen schienen. Bei diesem Gedanken lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken; aber eine weitere Ueberlegung erinnerte sie daran, daß es ihr im Traum vorgekommen war, als ob sie bergan und bergab und dann abermals bergan reite.

»So muß es gewesen sein,« sagte sie sich, »ich muß schlafend durch irgend eine Schlucht geritten sein, die nicht sehr steil war. Dort mag mein Zelter zurückgeblieben und die Beute der Wölfe geworden sein.«

Der Rest der Nacht verlief ohne weiteren Unfall. Das tatarische Pferd, welches am Morgen sich gehörig mit Heu gesättigt hatte, lief mit großer Ausdauer, so daß Basia selbst seine Kraft bewunderte. Es war von einer fast grenzenlosen Widerstandsfähigkeit. Während der kurzen Rasten, die Basia sich erlaubte, fraß es allerhand ohne Auswahl: Moos, welkes Laub, ja, es biß sogar die Rinde von den Bäumen ab, und es lief ohne Unterlaß. Basia versetzte es in rascheren Lauf, als sie über Wiesenflächen kamen. Da ächzte es zuweilen und keuchte laut; hielt sie es zurück, so schnaubte es gewaltig, schüttelte sich, ließ den Kopf vor Ermüdung hängen, fiel aber nicht. Der Zelter hätte eine solche Reise nicht überdauert, wenn er auch den Wölfen nicht zur Beute gefallen wäre. Am nächsten Morgen begann Basia, nachdem sie ihre Morgenandacht verrichtet, die Zeit zu berechnen, die sie gebraucht hatte.

»Donnerstag nachmittag entkam ich Azyas Händen« – sagte sie sich – »und ritt in gestrecktem Galopp bis in die tiefe Nacht; eine Nacht verbrachte ich unterwegs, dann einen ganzen Tag, dann abermals eine ganze Nacht und jetzt hat der dritte Tag begonnen. Die Verfolger, die mir nachgesetzt haben werden, müssen schon umgekehrt sein, und Chreptiow müßte schon in der Nähe sein, da ich die Pferde nicht geschont habe.«

Nach einer Weile setzte sie hinzu: »Ach, es ist Zeit, höchste Zeit! Gott, erbarme Dich meiner!« Zuweilen kam ihr der Wunsch, sich dem Dniestr zu nähern, denn dort konnte sie leichter darüber ins Klare kommen, wo sie sich befinde; aber wenn sie sich erinnerte, daß fünfzig Leute Azyas bei Herrn Gorzenski in Mohilow zurückgeblieben waren, dann hielt die Furcht sie wieder zurück. Es war möglich, daß sie, weil sie einen so weiten Bogen hatte machen müssen, noch gar nicht an Mohilow vorbeigekommen war. Unterwegs hatte sie, so lange der Schlaf ihr nicht die Lider schloß, eifrig darauf geachtet, ob sie nicht an eine sehr breite, langgedehnte Schlucht komme, gleich der, in welcher Mohilow lag; aber sie sah nichts dergleichen. Die Schlucht konnte übrigens auch gegen das Innere des Landes enger sein und ein ganz anderes Aussehen als bei Mohilow haben, oder sie konnte sich schon einige hundert Schritte hinter Mohilow verengern oder auch gänzlich aufhören. Mit einem Worte, Basia hatte nicht die leiseste Ahnung davon, wo sie sich eigentlich befinde.

Unaufhörlich flehte sie zu Gott, er möchte sie ans Ziel führen, denn sie fühlte, daß sie diese Beschwerden, den Hunger, den Mangel an Schlaf, die Kälte nicht lange mehr werde aushalten können. Während drei Tagen hatte sie nur von Hanfsamen gelebt, und obwohl sie aufs sparsamste damit umgegangen war, so hatte sie dennoch diesen Morgen das letzte Körnlein verzehrt, und der Sack war leer.

Jetzt konnte sie sich nur noch durch die Hoffnung beleben und erwärmen, daß Chreptiow nahe sei. Aber auch von Fieberhitze wurde sie nun erwärmt. Basia fühlte sehr wohl, daß sie von Fieber befallen sei, denn obwohl es immer kälter geworden war und jetzt geradezu Frost herrschte, fühlte sie an Händen und Füßen, die zu Anfang der Reise wie erstarrt waren, jetzt um so größere Hitze, und sie empfand einen brennenden, quälenden Durst.

»Wenn ich nur die Besinnung nicht verliere,« sagte sie sich, »wenn ich nur noch mit meinem letzten Hauch Chreptiow erreichen und Michal sehen kann, dann mag Gottes Wille geschehen.« ...

Abermals mußte sie zahlreiche Flüsse und Bäche überschreiten, aber diese waren entweder seicht oder zugefroren; einige hatten zwar schon fließendes Wasser, aber der Untergrund war noch fester, harter Eisboden. Sie fürchtete solche Uebergänge darum am meisten, weil das sonst so mutige Roß sich augenscheinlich davor ängstigte. Beim Betreten des Wassers oder Eises begann es zu keuchen, legte die Ohren zurück, leistete manchmal Widerstand und schritt endlich, wenn dazu genötigt, vorsichtig einen Fuß um den andern setzend und mit aufgeblähten Nüstern umherwitternd, hinüber.

Es war Nachmittag geworden, als Basia, einen dichten Wald durchreitend, vor einem Flusse Halt machte, der größer und bedeutend breiter als die früheren Flüsse war. Ihrer Vermutung nach konnte es die Ladawa oder der Kalusik sein. Ihr Herz klopfte vor Freude bei diesem Anblick. Jedenfalls konnte nun Chreptiow nicht mehr ferne sein; wäre sie auch über den Ort hinausgekommen, sie konnte sich doch als gerettet betrachten, denn hier war das Land nicht nur bevölkerter, sondern auch die Menschen waren weniger zu fürchten. – Der Fluß hatte, so weit Basias Auge reichte, steile Ufer, nur eine Stelle war flach, und das Wasser, durch das Eis gestaut, hatte hier das Ufer überschwemmt, als ergieße es sich in ein weites seichtes Gefäß. Längs der Uferseite war das Wasser des Flusses gefroren; nur in der Mitte floß ein breites Band dahin, und Basia hoffte, darunter, wie schon häufig, festes Eis zu finden.

Nach kurzem Sträuben ging das Pferd mit herabhängendem Kopfe und mit den Nüstern den vor ihm liegenden Schnee beschnüffelnd, hinein. Als sie an das fließende Wasser kamen, kniete Basia wie gewöhnlich auf den Sattel und hielt sich mit beiden Händen an dem Sattelknopf. Das Wasser plätscherte unter den Hufen des Tieres. Das Eis war in der That fest; die Hufe schlugen darauf wie auf einen Stein. Aber die Hufeisen mußten durch den weiten, stellenweise felsigen Weg sich abgestumpft haben, denn das Pferd fing an zu rutschen und seine Beine glitten so weit auseinander, als wollten sie unter ihm davonlaufen; plötzlich stürzte es nach vorwärts, so daß seine Nüstern ins Wasser tauchten; dann raffte es sich auf, fiel auf sein Hinterteil, raffte sich abermals empor, begann aber erschreckt mit den Hufen um sich zu schlagen und in verzweifelter Weise sich abzumühen. Basia riß es kräftig am Zügel, – da ließ sich ein dumpfes Krachen hören und die Hinterbeine des Tieres versanken bis an die Hüften.

»Jesus! Jesus!« schrie Basia laut.

Das Pferd, dessen Vorderbeine noch auf festem Eise lagen, machte die schrecklichsten Anstrengungen, aber augenscheinlich brachen die Eisstücke, auf welchen es stand, unter seinen Füßen zusammen, denn es sank noch tiefer und stieß dabei ein heiseres Stöhnen aus.

Basia hatte nur noch so viel Zeit und Geistesgegenwart, das Pferd an der Mähne zu fassen und sich über dessen Kopf auf das ungebrochene Eis, das vor ihm lag, zu schwingen. Dort stürzte sie nieder und wurde ganz durchnäßt, allem sie erhob sich wieder, und da sie festen Grund unter den Füßen spürte, wußte sie sich gerettet. – Sie wollte auch noch das Tier retten, beugte sich vor, erfaßte es am Zügel und zog mit aller Kraft an, indem sie sich nach rückwärts stemmte.

Allein das Tier sank immer tiefer und vermochte nicht mehr, mit seinen Vorderbeinen auf das feste Eis zu klimmen. Die Zügel spannten sich straffer und straffer, und tiefer und tiefer sank es hinab, endlich so tief, daß nur noch Hals und Kopf aus dem Eise hervorragten. Da begann es mit fast menschlicher Stimme zu ächzen, indem es die Zähne aufeinanderbiß; seine Augen hefteten sich mit unbeschreiblicher Trauer auf Basia, als wollte es ihr sagen: »Für mich ist keine Rettung mehr, lasse die Zügel los, sonst zieh ich auch Dich hinein!«

Es war in der That keine Möglichkeit der Rettung mehr vorhanden, und Basia mußte die Zügel loslassen.

Als das Pferd unter dem Eise verschwunden war, betrat sie das jenseitige Ufer, setzte sich unter ein entlaubtes Gebüsch und schluchzte wie ein Kind.

Ihre Energie war in diesem Augenblick völlig gebrochen. Und außerdem hatte sich der Schmerz und die Bitterkeit, welche seit der Begegnung mit Menschen ihr Herz erfüllte, mehr und mehr gesteigert, und sie wurde davon ganz überwältigt. Alles schien sich gegen sie verschworen zu haben, die Ungewißheit des Weges, die Dunkelheit, die Elemente, die Menschen und die Tiere; Gott allein schien noch über ihr zu wachen. Auf diese gütige, milde, väterliche Obhut hatte sie ihr ganzes kindliches Vertrauen gesetzt, und nun hatte auch dies Vertrauen sie getäuscht. Sie sagte sich das nicht deutlich, aber sie fühlte es umsomehr.

Was blieb ihr noch? Klagen und Thränen! Und doch hatte sie alle die Tapferkeit, all den Mut, all die Ausdauer bewiesen, welche solch ein armes schwaches Geschöpf zeigen konnte. Jetzt war ihr das Pferd ertrunken – diese letzte Hoffnung auf Rettung, dieser letzte Hoffnungsanker – das einzige lebende Wesen, das mit ihr war. Ohne dieses Pferd fühlte sie sich ohnmächtig der unbekannten Entfernung gegenüber, die sie noch von Chreptiow trennte, den Wäldern, Schluchten, Steppen gegenüber, und nicht nur wehrlos gegenüber den Verfolgungen durch Menschen und Tiere, sondern auch so ganz vereinsamt, so ganz verlassen.

Sie weinte so lange, bis sie keine Thränen mehr hatte. Dann kamen Erschöpfung, Müdigkeit und ein Gefühl von Hilflosigkeit so stark über sie, daß die Empfindung dem Gefühl der Ruhe glich.

Tiefe Seufzer entrangen sich ihrer Brust und sie sagte sich:

»Dem Willen Gottes muß ich mich fügen; hier werde ich sterben müssen.«

Und sie schloß die Augen, die einst so hell und fröhlich geblickt, nun aber tief eingesunken waren.

Obgleich ihr Körper mit jedem Augenblick hilfloser wurde, stürmten doch die Gedanken durch ihren Kopf, gleich einem erschreckten Vogel, und ebenso stürmte es in ihrem Herzen. Hätte niemand auf der Welt sie lieb, das Scheiden vom Leben wäre leichter; aber sie wußte sich von allen so geliebt!

Und nun malte sich ihre Phantasie aus, wie es sein würde, wenn Azyas Verrat und ihre Flucht bekannt würde; wie man nach ihr suchen, wie man sie zuletzt finden würde, blau, erfroren unter diesem Gebüsch am Flußufer in ewigen Schlaf versunken. Und plötzlich sprach sie mit lauter Stimme:

»Ach, der arme Michal wird verzweifeln! Ach, ach!«

Und dann bat sie ihn um Verzeihung und sagte ihm, es sei nicht ihre Schuld.

»Michal,« sprach sie, die Arme um seinen Hals schlingend, »ich that alles, was in meiner Macht stand, aber es war zu schwer, mein Teuerster! Der Himmel wollte es anders!«

In diesem Augenblick fühlte sie die innige Herzensneigung zu dem geliebten Manne so stark, ein so gewaltiges Verlangen ergriff sie, wenigstens in der Nähe des Teuren zu sterben, daß sie, alle Kraft zusammenraffend, sich von dem Ufer erhob und den Weg fortsetzte.

Zu Anfang fiel ihr das unendlich schwer. Ihre Füße waren durch das lange Reiten des Gehens entwöhnt; sie hatte die Empfindung, als schreite sie auf fremden Füßen weiter. Zum Glück empfand sie kein Gefühl von Kälte; sie hatte sogar sehr warm, denn das Fieber war noch keinen Augenblick von ihr gewichen. In die Tiefe eines Waldes eindringend, schritt sie beständig weiter und trug dabei stets Sorge, die Sonne zur linken Seite zu lassen, das Tagesgestirn senkte sich schon nach der Moldau zu, denn der Tag war schon vorgeschritten; es mochte etwa gegen vier Uhr sein. Basia lag jetzt weniger daran, sich dem Dniestr zu nähern, denn es schien ihr, daß sie Mohilow bereits hinter sich habe.

»Wenn ich das nur sicher wüßte! wenn ich's nur wüßte!« sprach sie, indem sie ihr blau gewordenes und zugleich von Fieber glühendes Antlitz zum Himmel erhob. »Wenn doch ein Tier oder ein Baum zu mir sprechen würde: noch ein oder zwei Meilen von hier liegt Chreptiow – vielleicht könnte ich es noch erreichen.«

Aber die Bäume schwiegen; ja, sie schienen ihr feindlich gesinnt, denn sie hemmten sie durch ihre Wurzeln im Weiterschreiten.

Basia stolperte nur zu oft über die mit Schnee bedeckten Wurzelknoten und deren freiliegende Ausläufer. Nach einiger Zeit fühlte sie sich wie durch eine Last beschwert, und sie zog darum den warmen Pelzrock von den Schultern und ging in ihrem einfachen Oberrock weiter.

Dadurch erleichtert, schritt sie rascher und rascher vorwärts, bald stolpernd, bald in tieferen Schnee fallend. Die feinen, pelzgefütterten Saffianstiefelchen, ohne eigentliche Sohlen und nur für Schlittenfahrten oder Reiten trefflich geeignet, schützten jetzt ihre Füße nicht genügend gegen das Anstoßen an Steine oder an sonstige Unebenheiten des Bodens; überdies waren sie durch die Flußübergänge durchnäßt und nunmehr durch die von Fieber erhitzten Füße in fortwährend feuchtem Zustand; sie mußten im Wald bald gänzlich zu Grunde gehen.

»Ich gehe entweder barfuß nach Chreptiow oder in den Tod,« dachte Basia.

Und ein schmerzliches Lächeln erhellte ihr Gesicht, denn sie empfand einen gewissen Trost dabei, daß sie so ausdauernd zu gehen vermochte, und daß, sollte sie unterwegs erfrieren, ihr Andenken in Michals Gedächtnis kein Vorwurf treffen könne.

In Gedanken sprach sie fortwährend mit ihrem Gatten und sagte jetzt zu ihm:

»Ach, mein lieber Michal, eine andere hätte nicht einmal das thun können, so zum Beispiel Ewa.«

An Ewa hatte sie mehr als einmal während der Zeit ihrer Flucht denken müssen, und mehr als einmal betete sie für sie; denn das war ihr klar, da Azya Ewa nicht liebte, so konnte deren Los, ebenso wie das der andern in Raszkow Verbliebenen, nur ein schreckliches sein.

»Sie haben es schlimmer als ich,« wiederholte sie sich von Zeit zu Zeit, und dieser Gedanke verlieh ihr neue Kräfte.

Aber als ein, zwei und drei Stunden vorüber waren, verringerten sich diese Kräfte mit jedem Schritt. Langsam schwebte die Sonne über den Fluß hinüber, ergoß einen rötlichen Widerschein über das Firmament und versank; der Schnee leuchtete in violettem Schimmer. Dann wurde das goldene und purpurfarbene Licht des Abendhimmels allmählich dunkler und schmäler; aus einem das Firmament überflutenden Meer wurde es zu einem See, aus dem See zu einem Strom, aus dem Strom zu einem Fluß, zuletzt glich es nur noch einem im Westen ausgespannten feurigen Faden, dann wich das Licht der Dunkelheit.

Es war Nacht.

Eine Stunde war abermals verflossen. In tiefes, geheimnisvolles Dunkel hüllte sich der Wald, und schweigend, von keinem Lufthauch bewegt, schien er darüber nachzudenken, was mit diesem armen, umherirrenden Geschöpf zu beginnen sei. Aber es lag nichts Gutes in dieser Ruhe und Todesstille – nein, Gefühllosigkeit und Starrheit. –

Ununterbrochen ging Basia weiter, und immer schneller sog sie die Luft mit ihren fieberheißen Lippen ein; auch fiel sie immer häufiger zu Boden, sowohl der Dunkelheit als der mangelnden Kräfte wegen.

Sie wandte den Kopf nach oben, allein nicht um die Lage des großen Bären zu erkennen, denn sie hatte keinen Sinn mehr dafür. Sie ging, um zu gehen; sie ging, weil sie nunmehr von unendlich hellen und lieblichen Gesichtern umschwebt war, wie sie dem Tode voranzugehen pflegen.

Die vier Seiten des Waldes schienen rasch aufeinander zuzulaufen, sich zu verewigen und ein Zimmer zu bilden: es war die Chreptiower Gaststube. Basia ist darin und sieht alles ganz deutlich. Im Kamin brennt ein helles Feuer, und auf den Bänken sitzen wie gewöhnlich die Offiziere: Herr Zagloba hänselt Herrn Snitko, Herr Motowidlo sitzt schweigend und schaut in die Flamme, und wenn ein zischender Laut aus dem Feuer dringt, sagt er in seiner gedehnten Weise: »O Seele im Fegfeuer, was ist dein Begehr?« Die Herren Muszalski und Hromyka spielen Würfel mit Herrn Michal. – Basia tritt auf diesen zu und sagt: »Michalek, ich setze mich auf die Bank, um mich ein wenig an Dich zu schmiegen, denn mir ist's so seltsam zu Mute.« Michal schlingt den Arm um sie: »Was ist Dir denn, mein Kizchen? vielleicht daß ...« Und er neigt sich an ihr Ohr und flüstert ihr irgend etwas zu. Aber sie erwidert: »Ach, mir ist's so sonderbar.«

Wie ist diese Gaststube so hell und traut, und wie lieb ist dieser Michal! Nur Basia fühlt das Unheimliche, und Bangigkeit erfaßt sie ...

Ein so fremdartiges Gefühl hat sie erfaßt; sie ist plötzlich frei von Fieberhitze, denn völlige Erschöpfung überwältigt sie, wie eine Vorbotin des Todes. Die Gesichte verschwinden, das Bewußtsein kehrt ihr zurück und mit ihm das Gedächtnis.

»Ich fliehe vor Azya,« sagt sie sich, »ich bin im Walde, und es ist Nacht, ich kann Chreptiow nicht mehr erreichen. Ich sterbe ...«

Nach der Fieberhitze wird sie jetzt von einer Kälte durchschauert, welche ihr durch den ganzen Körper bis ins Mark der Knochen dringt. Die Beine brechen unter ihr zusammen, und sie kniet im Schnee vor einem Baume nieder.

Nicht das leiseste Wölkchen trübt mehr ihren Geist. Sie ist tief traurig, daß sie vom Leben scheiden soll, aber sie weiß, daß ihre Todesstunde naht, und voll Sehnsucht darnach, ihre Seele Gott zu empfehlen, beginnt sie mit gebrochener Stimme zu beten:

»Im Namen des Vaters, des Sohnes ...«

Plötzlich wird ihr Gebet durch gewisse wunderliche, scharfe, durchdringende, knarrende Töne unterbrochen, die unangenehm die Stille der Nacht durchdringen.

Basia öffnet unwillkürlich den Mund. Die Frage »was ist das?« erstirbt auf ihren Lippen. Für einen Augenblick legt sie ihre zitternden Finger an die Wangen, als ob sie es nicht glauben könne, und ihren Lippen entringt sich mit einemmal der Schrei:

»O Jesus, Jesus! Das ist ein Ziehbrunnen, das ist Chreptiow! O Jesus!«

Da rafft sich dieses eben noch sterbende Wesen auf, und keuchend, zitternd, die Augen voll Thränen, mit wogender Brust eilt sie durch den Wald, fällt, steht wieder auf, immerfort die Worte wiederholend:

»Sie tränken die Pferde! Das ist Chreptiow! Das sind unsere Ziehbrunnen ... Ach, nur das Thor erreichen! Ach, nur das Thor! O Jesus! Chreptiow ... Chreptiow!« ...

Und der Wald lichtet sich, das freie, schneebedeckte Feld zeigt sich und die Anhöhe, von welcher eine Anzahl leuchtender Augen auf die eilende Basia niederschauen.

Und das sind keine Wolfsaugen ... Das sind ja die Fenster von Chreptiow mit ihrem lieben, hellen, rettenden Licht! Das ist das Fort, dort auf dem Hügel, das seine Ostseite dem Walde zuwendet.

Noch war sie etwa hundert Schritte davon entfernt, doch wußte Basia nicht, wie sie diese zurücklegte ... Die Soldaten, die am Thor nach der Dorfseite zu standen, erkannten sie nicht in der Dunkelheit, ließen sie jedoch passieren, in der Meinung, sie sei ein von dem Kommandanten als Bote ausgesandter, nunmehr zurückkehrender Knabe. Atemlos stürzte sie hinein, durchlief den Waffenplatz, eilte am Ziehbrunnen vorüber, an welchem die eben erst von einem Streifzug heimgekehrten Dragoner auf die Nacht ihre Pferde tränkten und blieb an der Eingangsthüre des Hauptgebäudes stehen.

Der kleine Ritter und Herr Zagloba saßen rittlings auf einer Bank am Kaminfeuer und schlürften ihren Krupnik. Anmerk. d. Uebersetzerinnen: Branntwein mit Honig. Sie redeten von Basia, in der Meinung, sie richte sich jetzt irgendwo in der Ferne, etwa in Raszkow, häuslich ein. Beide waren niedergeschlagen, denn sie hatten Sehnsucht nach ihr, und sie stritten sich täglich wegen der Zeit ihrer Rückkehr.

»Gott verhüte, daß plötzlich Tauwetter und Regen eintritt, denn wenn das der Fall ist, weiß der Himmel, wann sie zurückkehrt,« sprach Herr Zagloba mit verdüsterter Miene.

»Der Winter wird noch anhalten,« meinte der kleine Ritter, »und in acht bis zehn Tagen werde ich gen Mohilow jeden Augenblick nach ihr Ausschau halten.«

»Ich wollte, sie wäre nicht gegangen. Ohne sie ist für mich kein Leben in Chreptiow.«

»Aber warum rietest Du denn so sehr zu der Reise?«

»Rede doch nicht so, Michal! Du bist schuld an der Reise!«

»Wenn sie nur gesund wiederkehrt!« ... Dabei stieß der kleine Ritter einen Seufzer aus: »Gesund und so rasch als möglich!«

In diesem Augenblick knarrte die Thüre und ein kleines, erbarmungswürdig aussehendes Geschöpf in zerfetzten Gewändern, mit Schnee bedeckt, rief mit kläglicher Stimme:

»Michal, Michal!«

Der kleine Ritter sprang auf, war aber im ersten Augenblick so betroffen, daß er wie versteinert stehen blieb. Er breitete die Arme aus, zwinkerte mit den Augen und rührte sich nicht vom Platze.

»Michal! ... Azya ist ein Verräter ... wollte mich entführen ... aber ich entfloh und ... rette mich!«

Bei diesen Worten schwankte sie und fiel wie tot zur Erde; jetzt sprang er hinzu, hob sie in seinen Armen wie eine Feder auf und schrie mit markerschütternder Stimme:

»Barmherziger Christ!«

Ihr armes Köpfchen mit dem bläulich gewordenen Antlitz hing leblos über seinen Arm hernieder, und in der Meinung, er halte nur noch eine Leiche in seinen Armen, begann er mit entsetzlicher Stimme zu schreien:

»Basia ist tot! ... tot! ... Hilfe! ...«


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