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Gegen Mitternacht – im Schlosse lag alles schon im tiefsten Schlummer – klopfte Stephan noch einmal leise an Arys Tür.
»Bist du bereits zu Bett, oder kann ich dich noch für einige Minuten sprechen?«
»Ich lese noch. Bitte, komm nur herein, mein lieber Junge. Du störst mich nie,« klang die Antwort freundlich Zurück.
Die Klinke in der Kand, blieb Stephan mehrere Minuten Zwischen Tür und Angel stehen.
Wie bezaubernd das Mädchen aussah. Welch wunderbare Haare hatte Ary. Die gelöste, goldig flimmernde Flut stach seltsam intensiv von der hellblauen Farbe des Morgenrockes ab. Sie hatte den Kopf in die Kissen des Liegesofas gedrückt und sah schelmisch und neugierig zu ihm empor. Das Buch war ihrer Kand entglitten und zu Boden gefallen.
»Nun? Hübsch, daß du nochmals kommst, Stephan.«
Er zögerte mit der Antwort.
»Ich habe meine Siebensachen zusammengepackt, tue das immer selbst. Man hat im Leben nicht immer gleich einen Kammerdiener zur Hand.«
Darauf zog er sich einen Stuhl bis zu ihrem Lager hin.
»Na also, Schwesterlein, du wirst mich natürlich, wie schon so oft, einen langweiligen Pedanten und schwerfälligen Kerl schelten, der immer alles gleich bitter ernst nimmt. Einerlei. Sieh mal, Ary, der Doktor ist mir wert geworden in diesen vierzehn Tagen; es steckt nämlich viel in dem Menschen, eine tiefe Gelehrtennatur von streng sittlicher Lebensauffassung ist er. Bitte, Ary, verdrehe ihm doch nicht den Kopf mit deinen schönen Augen!«
Sie lachte kurz.
»Unsinn! Ich denk' ja gar nicht dran!«
»Dann tust du es unbewußt – um so gefährlicher. Erstens hinderst du ihn damit am Arbeiten, und zweitens möchte ich nicht, daß er einer völlig aussichtslosen Sache wegen einen Knacks bekommt.«
»Diese Idee von dir ist wirklich komisch, Stephan!« Jetzt lachte sie wieder, doch herb und gezwungen. »Aber eigentlich hast du so unrecht nicht. So ein armer Narr könnte sich am Ende was einbilden. Mir käme das wahrhaft dumm vor.«
Stephan schaute die Liegende prüfend von der Seite an.
»Dann bitte, kokettiere nicht mehr mit ihm; ganz besonders jetzt nicht, wo ihr beide so viel allein sein werdet.«
»Sei nur unbesorgt, mein Junge. Ich will mich bemühen, deinem braven Doktor hübsch aus dem Wege zu gehen.«
Er strich liebevoll über die schmale, spitzfingerige Mädchenhand.
»Und nicht böse sein, daß ich, der Jüngere, mir herausnahm, dir einen Rat zu erteilen. Wir zwei verstanden uns doch bisher immer.«
»Keine Spur, Stephan, du bist ein lieber, guter Kerl!«
»Na, denn nochmals, lebe wohl! Wenn du morgen früh aufstehst, bin ich über alle Berge.«
In herzlichster Weise trennten sie sich.
Aber Raineria las nicht mehr in dem neuesten spannenden Roman. Mit etwas flackernden Augen starrte sie vor sich hin.
Alter lieber Stephan! Ein Prachtmensch! Allein manchmal verstehen wir uns doch nicht! dachte sie mit aufquellender Bitterkeit. Was habe ich denn hier vom Leben? Diese Lotterwirtschaft ringsum!
Verächtlichen Blickes streifte sie das zwar mit einer gewissen Genialität, doch in flitterhafter Eleganz eingerichtete Gemach.
Verwelkte Blumen – die ersten Frühlingsblüten – steckten in einst kostbaren, jetzt schadhaften Meißener Vasen, der seidene Sofabezug war zerschlitzt, die Politur des hübschen Rokokotisches fleckig und verkratzt, und von der Tapete war die Grundfarbe kaum mehr zu erkennen. Es war ja auch so gänzlich einerlei, ob hier Ordnung und Sauberkeit herrschte oder nicht. Wer sah es, wer fragte danach? O, und diese Langeweile! Und wenn nun ein lebensprühender junger Mensch einmal etwas Anregung, etwas anderes sucht, ein wenig, sagen wir getrost, kokettieren möchte und Spaß daran findet, daß ein Paar unheimlich ernste Männeraugen sehnsüchtig, verlangend und heiß zu leuchten beginnen, wen ginge das wohl an? Rechenschaft ist man sich nur selbst schuldig. Pah! – – –
Der nächste Morgen war trübe und neblig. Vom Wallgraben herauf, der das Schloß an der Westseite umgab, stiegen allerlei unangenehme Dünste auf. Grüner Schlamm und zäher Entengrieß schwamm darauf herum, und es schien ganz ersichtlich, daß der Koch sich hier wohl öfters der Küchenabfälle entledigte, denn die in einer Ecke des Tümpels angeschwemmten Gemüse- und Fischüberbleibsel, Kartoffel- und Orangenschalen boten ein wenig erquickliches Bild.
»Dieses Loch muß einmal ausgetrocknet und eine hübsche, abfallende Terrasse hier angelegt werden. So hab' ich mir's längst gedacht!« sagte Graf Ignaz stets zu jedem die Zugbrücke passierenden Gaste. Allein bei jenem Vorhaben war es Jahr um Jahr geblieben.
Heute – die Uhr hatte soeben neun geschlagen – trafen Vater und Tochter zufällig in der großen Eingangshalle zusammen.
Über die breite, ausgetretene Eichentreppe gelangte man zu den Wohnräumen, wogegen sich links eine niedere, eisenbeschlagene Tür befand, die in einen unbenutzten, turmartigen Anbau führte, worin sich auch das sogenannte Archiv befand.
Graf Ignaz im Reitanzug, einen schlappen, braunen Filz über dem linken Ohr, stutzte beim Anblick der Tochter, die, schick angezogen und bereits tadellos frisiert, leichtfüßig vom oberen Stockwerk herankam.
»Nanu? Wo willst du denn hin? Stephan ist ja schon seit Stunden fort,« sagte er mit seinem mehr schroffen als väterlich zärtlichen Lachen.
Die Gefragte sah ihm völlig unbefangen in das hartgeschnittene, braune Gesicht und entgegnete in vorwurfsvollem, trotzigem Ton:
»Es bekümmert sich ja hier sonst keine Seele um unseren fleißigen Maulwurf, wie du den Doktor nennst. Der buddelt und buddelt seit vierzehn Tagen für uns in Moder und Staub herum, und wir bezeigen ihm nicht ein einziges Mal das Interesse, das seinen mühseligen Arbeiten wohl gebührt. Stephan hat Herrn von der Thann nie im Archiv besucht; so will ich es endlich einmal tun. Er ist so fabelhaft bescheiden, und ich denke mir, daß etwas Lob und Anerkennung ihn freuen würde.«
Rainerias klangvolle Stimme hatte einen auffallend weichen Ton, daß der Vater sie überrascht ansah.
»Sanft wie die Tauben und klug wie die Schlangen,« versetzte er mit kurzem Lachen. »Doch du hast recht; man muß solchen Leuten, die einem nützen können, gelegentlich etwas Zuckerbrot reichen. Wenn dieser edle Thann mir wirklich was herausschnüffelt, dann will ich ihn glänzend honorieren« (Graf Ignaz nahm stets eine hochmütige Miene an, wenn er vom Gelde sprach); »mich aber zu ihm dort unten in dies Rattenloch zu setzen – nee, Kind, das kann keiner von mir verlangen. Man hat doch anderes zu tun!«
Raineria lächelte spöttisch und dachte, daß der Vater außer dem Spiel und seinen Pferden eigentlich gar nichts auf der Welt zu tun hätte.
Stirnrunzelnd fuhr der Schloßherr fort:
»Übrigens – ich komme eben aus dem Stall, die kleine Rappstute hat eklig geschwollene Fesseln und lahmt verteufelt, daher mußten die großen Gäule mit dem Sandschneider Stephan zur Bahn bringen. Franzek ist ein Rhinozeros, gibt nicht mehr ordentlich acht. Habe Verdacht, daß er neuerdings säuft.«
»So nimm dir doch einen zuverlässigeren Kutscher, Papa. Deine kostbaren, schönen Pferde sind's wohl wert.«
»Teufel auch! So'n neumodischen, verwöhnten Affen, der Leutnantsgehalt kriegt und vom Vierspännigfahren keinen blauen Dunst hat. Nee, solchen Kerl werde ich mir nicht auf den Bock setzen. Schau, dem Franzek sieht man schließlich den Bauernlümmel von einst wahrlich nicht an. Ich ziehe mir schon meine Leute – hahaha! Also, auf Wiedersehen, Kleine! Grüße mir den Doktor. Ich wäre heillos gespannt auf den Inhalt der alten Ledermappe!«
Einen Gassenhauer pfeiffend, eilte der Graf an der Tochter vorbei treppan.
Mehrere Minuten blieb Raineria tiefatmend inmitten der großen, leeren Halle, in der jedes Wort und jeder Schritt dröhnend widerhallten, stehen, dann schlich sie auf Zehenspitzen bis zur entgegengesetzten kleinen, eisenbeschlagenen Tür und klinkte sie leise auf.
Hu! Wie gruselig! Tiefe Dunkelheit gähnte ihr entgegen, und die daraus hervorquellende, kalte Moderluft wirkte atembeklemmend. Der Weg zur Unterwelt! Wenn man hier in die Tiefe abstürzte, gelangte man wohl schnurstracks hinein. Etwas ganz Neues, Reizvolles – allerdings!
Raineria kicherte belustigt; ängstlich war sie keineswegs.
Also die elektrische Taschenlampe hervor und die Treppe gesucht. Halt! Vorsicht! Da kamen schon die Stufen. Sie leuchtete nach unten und zählte laut: »Eins, zwei, drei, vier, fünf und sechs!«
Jetzt wieder halt! Absatz. Der Raum erweiterte sich, und wie von irgendeinem Fenster her drang plötzlich ein schwacher Lichtschein zu ihr herüber. Dabei Grabesstille. In beängstigender Deutlichkeit tönte jeder Herzschlag, jeder leise Atemzug an Rainerias Ohr.
Da – ein Rascheln – Knistern! Das Rattenloch, hatte Papa gesagt. Ekelhaft, man konnte ja leicht auf solches Viehzeug treten.
Und hier arbeitete Dr. von der Thann stundenlang! Unglaubliche Willenskraft! Raineria hob den Arm und leuchtete nun mit dem Lämpchen geradeaus, zugleich vernahm sie einen von den Kellerwänden widerhallenden Ruf: »Wer ist da? Wünscht man mich zu sprechen?«
Des Doktors Stimme! Das war ihr wundervoller Klang, der Raineria vom ersten Tage an entzückt hatte.
»Ja, ich bin's! Raineria Sumiersky!« klang ihre Antwort heiter zurück, wobei sie mit noch immer hocherhobenem Arm stehenblieb.
Im Nu war Herr von der Thann an ihrer Seite. Seine vom Lichtschein grell beleuchteten Züge verrieten freudige Überraschung, während die meist ernst blickenden Augen einen Ausdruck widerspiegelten, der das Mädchen mit Genugtuung erfüllte.
Noch nie, seit ihrem täglichen Zusammensein, hatte er die Empfindung seines Innern, seine Bewunderung, sein Entzücken so unverhohlen verraten wie jetzt.
Sprachlos, wie benommen, starrte er in das rosig überhauchte, lachende Gesicht.
»Da bin ich nun wirklich in Ihr Verlies hinabgestiegen! Der Weg ist beschwerlich, allerdings, doch ich hoffe, meinen unerfahrenen Laienaugen wird sich hier so viel Reizvolles bieten, daß meine Wißbegier befriedigt sein dürfte!« begann Raineria unbefangen und gutgelaunt; dabei begegnete sie schelmisch prüfend seinem Blick.
»Ich danke Ihnen, Gräfin. Ihr Besuch macht mich glücklich – und stolz!« erwiderte er mit stockendem Atem, doch offen und schlicht.
»Haben Sie mein Kommen nie erwartet, Herr von der Thann?«
»Manchmal wohl – allerdings. Allein da der Besuch unterblieb, setzte ich keine allzu große Anteilnahme für den Gegenstand meiner Arbeit bei Ihnen voraus.«
»Wieso?«
»Wenigstens belehrte mich Graf Stephan einmal, daß gerade Sie, Komtesse, das Suchen nach dem Stammbaum für überflüssig halten.«
Sie lachte.
»Vielleicht. Da haben Sie recht. Es ist mir überhaupt schleierhaft, wozu Papa irgendwelche Zweifel hegt. Kennen Sie den Zusammenhang, Doktor?«
»Zum Teil ja.«
»Na also. Deswegen bin ich auch wirklich nicht hier heruntergekraxelt; aber ich möchte Sie mal bei der Arbeit sehen, überraschen. Zu Ihrer Tätigkeit gehört Heroismus! Männer, die etwas im Leben leisten, vor sich bringen, imponieren mir immer.«
»Werden Sie mir zürnen, Gräfin, daß ich darauf erwidere, dies nie von Ihnen gedacht zu haben?« fragte Christoph zögernd.
»Gott bewahre. Verraten Sie mir lieber, was Sie anfänglich überhaupt noch alles von mir gedacht haben.«
Wieder beleuchtete sie mit der Taschenlampe sein in Erregung zuckendes Gesicht.
»Darf ich?«
»Bitte.«
»Der erste Abend war durchaus nicht ermutigend für mich. Ich hatte das peinliche Empfinden, als würde mein Leisten und Können absichtlich von Ihnen unterschätzt, als mache es Ihnen Vergnügen, mich – sozusagen – zu erniedrigen – und...« er stockte.
»Weiter – weiter!« gebot sie rasch.
»Von irgendeiner anderen Frau wäre mir das völlig gleichgültig gewesen. Mein Beruf steht mir viel zu hoch, um Bitterkeit oder Groll über kleinliche Herabsetzung schmerzlich zu empfinden, allein von Ihnen, Gräfin...« wieder zögerte er.
»Ach, bitte, sagen Sie doch alles!« bat sie diesmal fast weich.
Allein er schwieg.
Raineria reichte ihm lächelnd die linke freie Hand entgegen, die er an die Lippen zog.
»Warum Sie auch immer so bescheiden sind, Herr von der Thann?« sagte sie dabei merklich gepreßt und schritt an seiner Seite dem Arbeitsplatze zu.
Das durch ein kleines, vergittertes Fenster hereinlugende schwache Tageslicht erhellte hier das Feld von des Doktors mühseliger Tätigkeit.
Ein mit Stößen schmutziger und abgegriffener Folianten, zerknitterter Manuskripte und Drucksachen bedeckter Tisch, worauf mehrere Vergrößerungsgläser, eine Flasche Klebegummi und allerhand Schreibgerät ausgebreitet lagen, war das erste, was ins Auge fiel.
Am Boden standen zwei offene, einen bunten Wirrwarr von Büchern und Schriftstücken aufweisende Holzkisten, auch die in Fensternähe an der Wand lehnenden Regale zeigten von Job Christoph nur notdürftig geordneten Lesestoff. Zwei dürftige Stühle trugen zur Vervollständigung dieser kümmerlichen Einrichtung bei. Auf dem einen stand ein noch halbgefüllter Sack, dessen Inhalt zum Teil zerstreut am Boden lag.
Mehrere Minuten blieb Raineria halb neugierig, halb scheu vor diesem Platz stehen, dann sagte sie kopfschüttelnd: »Es ist unverantwortlich, daß Papa Sie in solch einer Umgebung arbeiten läßt, Herr von der Thann!«
Zum erstenmal lachte er fröhlich auf.
»Ich finde diesen Raum noch recht behaglich und wohnlich, Gräfin, bin ganz anderes gewöhnt. Wenn ich zum Beispiel meine Arbeit in ein elegantes Zimmer verlegen sollte, dann würde mir entschieden die Stimmung fehlen, so harmoniert das alles mit meiner mir lieb gewordenen Tätigkeit.«
»Darum schauen Sie wohl auch immer so schrecklich ernst drein, Doktor? Ich habe mir schon oft gedacht, Sie müssen viel Trübes erlebt haben.«
Raineria hatte sich auf den freien Stuhl gesetzt und sah mit ihren großen, schimmernden Augen teilnehmend zu ihm empor.
Job Christophs Herz begann plötzlich unruhiger zu hämmern. Die Situation, in der er sich hier befand, schien so eigenartig. Gewiß, diese Stunde gehörte ihm. War er nicht ihr Herr? Was wollte das Mädchen? Warum kam es zu ihm herab? Seinetwegen? Tor! Und dennoch. – Das eigene Gemisch in Raineria Sumierskys Natur hatte ihm schon oft zu denken gegeben. Zuweilen lag etwas Ungebändigtes, eine suggestive Kraft in ihrem flimmernden Blick, deren sie sich selbst vielleicht kaum bewußt sein mochte, um dann schnell wieder hochmütiger Unnahbarkeit zu weichen.
Job Christoph hatte ja einer Frauenseele gegenüber nie das richtige Verständnis oder auch nie Gelegenheit gehabt, über weibliche Vorzüge, Charakterschwächen und Fehler nachzugrübeln. Wirklich schlechte Eigenschaften setzte er in seinem vornehmen Sinn und seiner idealen Lebensauffassung an einer Dame nie voraus.
Hier, bei diesem ebenso schönen wie geistvollen Mädchen, ertappte er sich jedoch zuweilen darüber, Vergleiche und Schlüsse zu ziehen, ja sich sogar in den Gedanken zu vertiefen, weshalb das Schicksal gerade ihn noch nie einer Versuchung ausgesetzt hatte.
War es denn in seiner Brust auch schon einmal mit jener Seele und Nerven beherrschenden Gewalt aufgelodert, gleich einem Feuerbrand, Sinn und Herz entzündend, Vernunft und gute Vorsätze zunichte machend?
Nein. Vor Job Christophs Augen trat plötzlich ein Frauenbild in reiner, stiller Jungfräulichkeit, einfach und bescheiden in Haltung, Anzug und Gebärden, die langen, goldbraunen Zöpfe schlicht um den Kopf gelegt, die großen blauen Augen gütig und freundlich zu ihm aufgeschlagen. Genau so hatte er jenes Mädchen während seiner Knabenjahre, als Jüngling und dann als Mann vor sich gesehen und immer gleich anmutig. Der Anblick schien verwachsen mit seinen liebsten, besten Erinnerungen und hatte schon oft beruhigend auf Gemütsstimmung und Verstimmungen gewirkt. Irene! Ja, schon der Name in seiner schönen Bedeutung besaß solch harmonisch friedlichen Klang. Und dann war ein Tag gekommen – es galt ein Abschiednehmen –, an dem sie beide von einer fast quälenden Wehmut ergriffen worden waren. Etwas geheim Verborgenes hatte sich da plötzlich aus Job Christophs Brust Bahn gebrochen.
»Willst du meine Braut und später meine Frau sein, Irene?« hatte er in überquellenden Glücksgefühlen gerufen, selig in dem Bewußtsein, nun einen Schritt getan zu haben, der ihn zu neuer Arbeits- und Schaffenskraft berechtigen und anspornen sollte. Wie süße Musik klang ihm des holden Mädchens Jawort ins Ohr. Seine Braut! War das nicht Ironie? Zwei junge, mittellose Menschenkinder sollten sich binden, in eine ungewisse, aussichtslose Zukunft hinein? – Sei es drum! Willensstärke und Tatkraft schwellten seine Brust, und in ihren Augen lag ein stilles, hoffnungsseliges Glück. An das alles dachte Job Christoph jetzt, als Rainerias Blicke in seltsam unergründlichem Ausdruck auf ihm ruhten.
Das Glück. – Also es gab doch noch etwas anderes als das, was sein Herz für die holde, sanfte Jugendfreundin, die heimliche Verlobte, empfand?
Gewiß, hoch und unantastbar stand der Gedanke an Irene in seinem Innern, er gehörte zu ihm selbst, er hatte ihm als Halt, als Leitstern in vielen Arbeitsleistungen gedient, im Wust und Staub der harten Werktage hatte er oft den reinen Hauch des süßen Mädchenmundes verspürt.
Allein seit seiner Anwesenheit im Strelnower Schloß schien ein willen- und nervenlähmender Odem um ihn zu wehen. Eine hehre Lichtgestalt, ein Götterbild, glänzend, berückend, stand immer vor seiner fiebernden Phantasie. War er verhext? Trieben böse Geister, etwa die unheimliche Ahnfrau, ihr Spiel mit ihm? O, gerade mit ihm, der jedes Unwahre, Unlautere und Unklare verabscheut! Seine ganze Natur hatte sich anfangs dagegen gesträubt. Gleich Versündigung an der Lauterkeit des eigenen Charakters dünkte es ihn und ließ ihn erröten.
Und dennoch hatte er in Strelnow bereits Nächte durchlebt, in denen er sich mit fast wilder Gier an die bloße Möglichkeit anklammerte, Raineria könne ihm doch vielleicht mehr sein als des Schloßherrn Tochter, die Dame der großen Welt! Ja, wenn?...
Wie aus wüstem Traum fuhr Job Christoph bei ihrer Frage zusammen.
»Trübes erlebt?« wiederholte er noch einmal zögernd. »Ja, allerdings, ich habe beide Eltern früh verloren und mußte, wo andere noch von sorgender Vaterhand geleitet werden, mir meinen Weg allein bahnen. Aber das Bewußtsein des eigenen Schaffens, die treue Arbeit sind es, die meinem Dasein stets einen Reiz verliehen – sonst nichts!«
Seine Stimme zitterte merklich, als er das sagte.
»Und was hoffen Sie von der Zukunft, Herr von der Thann?«
Raineria war wieder hastig aufgesprungen und stand, die schmale, beringte Hand auf die Tischplatte gestützt, das blonde Haupt ein wenig herabgebeugt, kaum zwei Fuß breit von ihm entfernt.
Job Christophs Atem flog. Ihm schwindelte.
»Haben Sie jemals von einem Narren, einem Wahnsinnigen gehört, der sich Dinge vor die Seele gaukelt, die – eitel Hirngespinste sind, in diesen Phantasiegebilden aber dennoch voll krankhafter Ekstase, in Entzücken fortlebt, bis die graue, krasse, unbarmherzige Wirklichkeit ihn endlich heilt und zur Vernunft bringt? Jetzt an meine Zukunft zu denken, Gräfin, wäre – eine Qual für mich. Ich lebe – will nur der Gegenwart leben!« stieß er, als ob es ihm eine Erleichterung gewährte, dieses seltsame Bekenntnis zu enthüllen, laut und ungestüm hervor.
Wie Job Christoph dabei vor ihr stand, das leicht gewellte blonde Haar frei aus der breiten Denkerstirn gestrichen, die von tiefster Erregung flammenden Augen groß und weit geöffnet, mit sichtbar zuckenden Lippen, da mochte er wohl mit keiner Faser denjenigen Männern gleichen, die Rainerias Lebensweg bisher gekreuzt hatten. Etwas Souveränes, eine jede Nichtigkeit des Alltags beherrschende Kraft sprach aus diesem Blick, der festgebannt an dem ihren haften blieb.
Hatte er die schmelzende Weichheit nun darin wahrgenommen?
Warum sprach sie jetzt nicht? War dieses herzbeklemmende, allein doch beredte Schweigen die Antwort darauf, daß sie den wahren Sinn seiner Worte verstand?
»Nur der Gegenwart leben!« stieß er noch einmal, halb ächzend, hervor.
Dann dünkte es dem Manne im schlichten, leinenen Arbeitskittel, als sei alles um ihn herum in blendendes Licht gehüllt. Die düsteren Kellermauern wurden zum Feenpalast, angefüllt mit jenem sinnberauschenden Duft, der, seit er Rainerias Nähe empfand, ihn stets umschmeichelt hatte. Ein Singen und Klingen durchzitterte die Luft.
Träumte er, oder lebte er im wildesten Fieberwahn?
Ein Paar weiche Arme hatten sich plötzlich um seinen Hals geschlungen, der entzückende, ach, so vergötterte Kopf mit dem Goldhaar schmiegte sich dicht an seine hoch und wild pochende Brust, und zwar bebend, doch warm und schmelzend klang eine Stimme an sein Ohr: »Tor! So leben wir doch der Gegenwart! Wer hindert uns beide daran? Willst du denn noch immer blind sein, Job Christoph?«
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