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Tante Gismonda hatte eine Kaffeeeinladung absagen müssen. Ein großer Schmerz für die rundliche, an Wallungen leidende alte Dame, die darüber einen feuerroten Kopf bekam.
Aber in des so ernsten Bruders Zügen lag ein stark ausgeprägter Ausdruck von feinem Spottlächeln, daß sie nur wortlos das Schwarzseidene und die Schmelzhaube wieder im Spind verschloß.
Auch gerade an einem Sonntage mußte der fatale Mensch sich zu Tische ansagen! Wenn man die Nacht hindurch von Berlin gereist ist, braucht man doch nicht gleich Besuche zu machen.
Und was das dumme Ding, die Ire, für strahlende Augen hatte. Lächerlich! Sich gar etwas einbilden! Solch ein Hungerleider! Wenn er noch einen vernünftigen Beruf ergriffen hätte, Jura studiert oder Offizier geworden wäre wie sein Vater. Aber so was! Archäologe und Schriftsteller! Die alten ägyptischen Mumien, diese Scheusäler, wie in des Bruders Bibliothek eine im Glaskasten lag und vor der sich alle Dienstmädel des Abends grauten, nee, und die soundsovielten Dynastien der seligen Pharaonen zu studieren, das war weiß Gott nichts Reelles. Nee! Praktische Leute geben nicht einen Taler aus für solch unnützes Buch. Und nun scheint's gar, als habe Ire sich in den Menschen verguckt. Gemerkt hatte Tante G. längst was davon. Wenn junge Mädel heimlich Tagebuch schreiben und den Mond anschwärmen, da ist's nicht mehr geheuer. Aber heiraten? Wovon denn? Man rechnete wohl gar auf einen Zuschuß von ihr? – Pustkuchen! Ihr Geld kriegte mal das Spittel ln der Domvorstadt, und alle Sonntage bekamen dann die armen Weiberchens Kuchen und Schlagsahne zum Kaffee, im Andenken an sie selbst, weil sie das so gern gegessen hatte. So wollte Tante Gismolda Thorrwald bestimmen. Basta! –
Alle harrten bereits im Flur, als die Droschke mit Job Christoph vors Haus fuhr, sogar die beiden dienstbaren Geister standen voll Neugier in der Küchentür.
Kanonikus Thorwald begrüßte den jungen Freund mit herzhaftem Händedruck; Tante G. reichte ihm in ihrer steifen Art die Fingerspitzen, und ganz zuletzt, zagend, verschüchtert, doch einen Ausdruck seelischer Verklärung im leicht erblaßten Gesichtchen, näherte sich ihm Ire.
Für Sekunden ruhten ihre Hände ineinander.
Doch was bedeutete das? Nur ein schneller Blick aus den blauen Mädchenaugen hatte Job Christoph gestreift, und da legte es sich auch schon wie Eisenklammern um das wild pochende Mädchenherz.
Das war ja ein anderer, der hier vor ihr stand, ein tiefernster, hagerer, blasser Mann, straff und vornehm in Haltung und Anzug, aber ein Fremder, nicht mehr Job Christoph mit dem weichen, sonnigen Lächeln um den schön geschnittenen Mund.
Und seine Augen ruhten gleichfalls scharf prüfend, fast sondierend auf der kindlich schlanken Gestalt. Noch waren kaum zwei Monate verflossen, seit er sie zuletzt gesehen, allein das Bild, welches er damals von ihr mitgenommen, war doch anders gewesen. In vielleicht nur eingebildeter Verklärung hatte er anfangs, ehe Raineria in den Bannkreis seiner Phantasien getreten, an Ire gedacht.
Wie linkisch, schüchtern, unelegant, ja unbedeutend erschien ihm heute das kleine Ding, ohne eine Spur jenes unerklärlichen Etwas, das Frauen der großen Welt den nervenprickelnden Reiz verleiht. Und der Anzug! Puritanerhaft brav, ja geschmacklos dünkte ihn das graue Kleid.
Herr des Himmels, wie hatte er sich doch damals hinreißen lassen, dem Mädchen Sachen zu sagen, die – die –
Eine Art Entmutigung war der erste Eindruck, den dieses Wiedersehen auf ihn ausübte.
Aber Job Christoph faßte sich schnell und sah der Jugendfreundin fest und ruhig in die Augen. Da stutzte er.
Was lag doch alles in diesem wundersamen, strahlenden Blick! Meerestiefen von Glück, Hingebung und Seligkeit; sie schienen der klare Spiegel von Empfindungen, die er – ja er in dieser reinen Brust, geweckt hatte.
Und nun stand er bettelarm vor ihr. Mit zusammengepreßten Lippen sagte er endlich in mühsam erzwungener Ruhe und Herzlichkeit: »Es ist so schön, wieder einmal zu Hause zu sein, denn ich betrachte Breslau noch immer als meine Heimat, und der liebe Empfang macht mich ganz beschämt.«
Darauf führte der Kanonikus den Gast in sein Arbeitszimmer, während Tante G. der Nichte noch einige Weisungen betreffs des Mittagessens gab.
Allein ihre Worte bedeuteten für Ire nur leeren Schall.
Wie in tiefster Erschöpfung lehnte sie im stillen Speisezimmer, wo sie selbst den Tisch so reizend mit Frühlingsblumen geschmückt hatte, an der Wand.
Das Wiedersehen! Also das war das Wiedersehen! – – – – – –
»Na, mein junger Freund, jetzt lassen Sie mich Ihnen zu allererst Glück wünschen und für Ihre gütigen Mitteilungen aus Berlin danken. So was muß unter Männern abgemacht und besprochen werden. Vorher war keine Gelegenheit dazu. Frauen werden immer gleich sentimental, was ich nicht liebe. Also, Ihr Werk hat Erfolg? Dachte es mir, bei Ihren Fachkenntnissen und Ihrer Tüchtigkeit. Wie oft haben wir, gerade hier in meiner stillen Klause, all jene Fragen erörtert.«
»Ohne Sie, Herr Kanonikus, wäre ich ein Stümper geblieben. Wieviel schöne, lehrreiche Stunden habe ich hier in diesem Raume verbringen, wieviel Weisheit aus Ihren Bücherschätzen schöpfen dürfen,« entgegnete Dr. von der Thann freimütig, und seine Blicke flogen in fast scheuer Ehrfurcht durch das traute Gemach.
»Und durch die ehrende Aufforderung Professor Rambergs, ihn nach Ägypten zur großen Forschungsreise zu begleiten, sind Sie, was Ihre Zukunft anlangt, doch einen tüchtigen Schritt vorangekommen, lieber Job. Welch reichhaltige Schätze sind dort für ein neues Werk zu sammeln,« sagte der Kanonikus lebhaft.
Es lag ein warmer, väterlicher Unterton in seinen Worten, und er forschte weiter, was bei seiner sonstigen Zurückhaltung auffallend schien: »Ihr nun wohl demnächst der Öffentlichkeit übergebenes Buch wird in Fachkreisen Interesse erwecken, Auflagen erleben, sozusagen: eine melkende Kuh bedeuten. Schön. Das ermutigt natürlich zum Weiterschreiben. Hm – es ist wirklich sehr anerkennenswert, daß Sie gerade jetzt noch mal zu uns gekommen sind, junger Freund.«
Die klugen Augen, die trotz des Alters noch keiner Brille bedurften, richteten sich prüfend auf Dr. von der Thanns schmal gewordenes Gesicht, darin Unruhe und Befangenheit deutlich zu arbeiten schienen. Ein paarmal strich dieser gedankenvoll über seine breite Stirn, dann sagte er mit einem tiefen Atemzuge: »Mein Kommen hierher zu Ihnen, Herr Kanonikus, ist mit einer Absicht verbunden. Ich habe lange gekämpft und mit mir gerungen, ob ich alles offen bekennen soll. Aber gerade von Ihnen setze ich voraus, ganz richtig verstanden zu werden. Als Mann zum Manne gesprochen, halte ich es für Ehrenpflicht, etwas zu enthüllen, was ...« Er stockte, weil der alte Herr seine Rechte mit festem Druck auf des Gastes Arm gelegt hatte und ihn beinahe ungeduldig unterbrach: »Pst! Nicht weiter reden! Diese Präliminarien sind ia ganz belanglos. Ich kenne doch das Leben und die Jugend, weiß, daß man nicht zu streng, zu einseitig urteilen darf. Wenn in der Übereilung Fehler begangen wurden, so haben Sie gewiß schon längst eingesehen, daß das Herz oftmals mit dem Verstande durchgegangen, ist.«
Zeichen von Überraschung und Spannung malten sich in Job Christophs Zügen; allein zur Entgegnung kam es nicht.
Als ob es ihm ein Bedürfnis wäre, jetzt frei von der Seele herunter zu reden, fuhr der Kanonikus noch lebhafter fort: »Offen gesprochen, bin ich im Prinzip dagegen gewesen, aus allerlei Gründen. Sie sind noch reichlich jung, lieber Job. Das Unglück in meiner Familie stand immer wie eine Warnungstafel vor mir; aber das Kind, unser Kind, das Kleinod meines Lebens, ja, es ginge mir vielleicht zugrunde, wenn ich mich seinen Herzenswünschen widersetzen wollte.«
Job Christophs Augen verrieten plötzlich tödliches Erschrecken.
Das war ja ein Irrtum, ein gräßliches Mißverständnis, welches aufzuklären seine heiligste Pflicht war. Aber noch eifriger fuhr der Geistliche fort: »Ire hat mir alles anvertraut – von Ihrem Antrag, dem heimlichen Bunde usw. – und wenn sich noch irgendein Bedenken oder Zagen in mir geregt hätte, angesichts so viel Glückseligkeit, daß Sie nun kommen würden, müßte ich ja ein Tyrann sein, wollte ich euch beiden lieben Menschen meinen Segen vorenthalten!«
Wie mit Blut übergossen, gleichsam sprachlos, versteinert, lehnte Dr. von der Thann im Sessel.
Empfindungen wallten in ihm auf, als habe jener alte Mann dort Fesseln um ihn gelegt, Fesseln, die all sein Denken, Fühlen und Wollen grausam umschnürten.
Das durfte nicht sein. Er, mit der brennenden Leidenschaft für jene andere in der Brust, sollte sich hier an dieses kindliche, unfertige Wesen binden? Um einer einzigen Übereilung, ja Torheit willen sollte er gerade im Moment, wo er im Begriff gestanden, eine Beichte abzulegen, aus Mangel an Mut diesen edeldenkenden Mann in seinem irrigen Wahn belassen? Nimmermehr! Welch schreckliche Verwicklungen! An solch schwerwiegende Folgen hatte er nie gedacht.
Innerlich zerrüttet, zermürbt, wie er sich augenblicklich fühlte, noch unter dem fast demütigenden Eindruck von Rainerias Briefe stehend, hatte ihn gerade der jetzige Zeitpunkt richtig gedünkt, Ire die volle Wahrheit zu bekennen. Er wollte sie heute auffordern, mit ihm das Grab der Mutter zu besuchen, und auf dem Wege dahin, ohne sie direkt ansehen zu müssen, wäre Gelegenheit gewesen, sich frei auszusprechen. Das hatte er sich fest vorgenommen. Ire war ja, ihrem Wesen nach, noch ein halbes Kind, unselbständig, durch vielleicht übertrieben ängstliche Erziehung verzärtelt, ein Kind, welches erst das Leben geistig umgestalten mußte, und so würde sie sich den ganzen Ernst und die Bedeutung von Liebe und Ehe gewiß noch gar nicht klargemacht haben. Während seiner Reise hierher hatte er unausgesetzt darüber nachgegrübelt, in welch schonendster, zartester Weise man ihr diese notwendige Enttäuschung bereiten könnte.
So kam heute das Wiedersehen. Der Blick ihrer seltsamen Augen hatte ihn verwirrt. Gehörte sie zu den Menschen, die man unterschätzt?
Wie sagte Kanonikus Thorwald soeben in schmerzlicher Bewegung: »Ire ginge mir vielleicht zugrunde, wenn ich mich ihren Wünschen widersetzte!«
Und nun sollte er, ihr Jugendfreund, wie er sich früher so gern genannt, vor sie hintreten und rufen: »Ich liebe dich nicht! Habe dich nie wahrhaft geliebt! Gehe – suche dir ein anderes Glück!«
Glich das nicht einem brutalen Rütteln an etwas Heiligem?
Man würde ihn nicht verstehen; auch der weiterfahrene Lehrer nicht. Das hier waren eben Menschen, deren Lebensanschauung auf grundfestem, sittlichem Unterbau stand.
Und plötzlich, während er die guten, treuen Augen des väterlichen Beraters so warm und fragend auf sich ruhen fühlte, zuckten seltsame, fast befreiende Gedanken durch seinen fiebernden Sinn.
Nur eine kurze Spanne Zeit war verflossen, seit er den herzlos kalten Brief jener Circe, die ihn nur als Spielzeug müßiger Stunden betrachtet, die Mannesstolz und Manneswert so niedrig einzuschätzen schien, in wilder Empörung Zerknittert hatte.
Zeigte sich nun hier nicht Gottes Fügung? Durfte er noch zurück? Nein! Nur schweigen, um jener edlen, vertrauenden Menschen willen!
Pah! – All die Stunden im Strelnower Archiv, was bedeuten sie? Ein Sinnesrausch! Was auch bedeutete ihm heute noch das verführerische blonde Geschöpf mit den schönen und doch so falschen Augen? Satansspuk! Er verachtete – haßte es. Hier schien Vergessen, Ruhe, Friede, vielleicht auch noch einmal – Glück! Konnte er sich Ire nicht ziehen und modeln nach Gefallen, sie leiten und ihren engen Gesichtskreis zu erweitern trachten? Vertrauen fassen sollte sie, daß die blauen Sterne nicht mehr angstvoll fragend, wie heute bei Tische, zu ihm aufzublicken brauchten.
Nein und tausendmal nein, dieses Kind durfte nicht zugrunde gehen –- um seiner Verirrung willen!
Wie aus wüstem Traumzustande erwachend, schreckte Job Christoph empor. Die unerträgliche Nervenanspannung schien vorüber, und als Kanonikus Thorwalds volle freundliche Stimme an sein Ohr schlug, hatte er Fassung und Selbstbeherrschung zurückerlangt.
»Ich sehe, mein junger Freund, daß Sie sehr erstaunt sind und die Sachlage noch gar nicht so recht zu verstehen vermögen,« sagte der alte Herr in selbstzufriedener Heiterkeit.
»Ja, lieber Job, auf diesen Augenblick habe ich mich, seit Ire mir ihr Geheimnis anvertraut, längst gefreut. Wir wollen nun mal ganz rückhaltlos miteinander reden. Um in unserer anspruchsvollen Zeit einen behaglichen, hübschen Hausstand zu gründen, dazu gehört wohl noch etwas mehr, als Ihre in Aussicht stehenden, wenngleich recht nennenswerten Einnahmen bedeuten. Beim jährigen Budget muß immer noch ein Plus bleiben, so daß das Exempel stimmt. Also: Ires Vermögen beträgt zur Stunde annähernd an zweimalhunderttausend Mark!«
Der Kanonikus schien vielleicht befremdet, daß sein Gast durchaus kein Zeichen der Überraschung und Genugtuung verriet, aber für Job Christoph hatte das Wort Geld in diesem Augenblick einen unmittelbar verletzenden Klang.
Auch das noch, dachte er ergrimmt.
»Ja, lieber Junge, als ich damals, nach meines armen Bruders und seiner Gattin Tode, die Verhältnisse in Berlin ordnen mußte, blieben aus dem einst nicht unbedeutenden Kapital der Frau wirklich noch etwa hunderttausend Mark übrig. Diese Summe hat sich in den sechzehn Jahren, durch günstige Anlage gut verzinst, fast verdoppelt. Niemand weiß darum, weder Tante G. noch Ire selbst. Sie machen demnach gar keine schlechte Partie, lieber Job!«
Der Angeredete schüttelte aber nur merklich abweisend den Kopf und entgegnete mit einer gewissen Ungeduld: »Ich möchte Ihnen, Herr Kanonikus, einzig die Versicherung geben, daß ich redlich bestrebt sein will, Ihre Nichte nach besten Kräften zu beglücken.«
Der alte Herr schmunzelte.
»Wenn ich das nicht genau wüßte, bekämen Sie unser Kind überhaupt nicht. Doch ich kenne Sie ja von Ihren Knabenjahren an, und so kann die Sache wohl als abgemacht gelten!«
Abgemacht! Über Job Christophs Herz kroch ein eisiger Schauer. Allerdings – der vortreffliche Mann hatte ihm in rührendem Freimut sein volles Vertrauen geschenkt und des verwaisten Kindes Zukunft in die Hände des einstigen Schülers gelegt. Ja, abgemacht! Welcher Widerspruch, welches Opfer, welche Härte lag für ihn selbst in diesem Ausspruch: Nachsicht, Mitleid, strengste Gewissenhaftigkeit und unverbrüchliche Treue! – –
Kanonikus Thorwald erhob sich.
»Nun aber noch eins, lieber Job. Ich habe meine Pflicht getan – das Weitere machen Sie mit Ire allein ab. Diese gewissen Feierlichkeiten und Familienrührungen sind durchaus nicht nach meinem Sinn. Indes vergessen Sie ja nicht, noch in aller Form bei meiner Schwester um Ire anzuhalten. Sie würde Ihnen eine solche Verletzung der Tantenrechte und -würden nie vergeben.«
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