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»München!« Donnernd rasselte der D-Zug in die Bahnhofshalle. Zugtüren wurden aufgerissen: überall ungeduldige Hast und rücksichtsloses Drängen. Hier freudiges Begrüßen, dort Rufe nach Gepäckträgern.
Noch einmal – Irene von der Thann war die Abteiltreppe leichtfüßig herabgesprungen – streifte sie des höflichen jungen Fremden Blick.
Jetzt fiel ihr auf, daß ein Lächeln um seine Lippen spielte. Er verneigte sich zuvorkommend, so wie man Bekannte grüßt, und in den hellen Augen lag ein Ausdruck: wir sehen uns gewiß noch einmal wieder!
Seine schöne Begleiterin war mit einem Mädchen, anscheinend die Jungfer, bereits schnell vorausgeeilt.
Warum wartete der junge Mensch? Wollte, er sie nochmals anreden?
Allein Irene stieß plötzlich einen Ruf freudiger Überraschung aus und stürmte, einem alten Herrn entgegen, hastig vorwärts.
»Onkel Gotthard! Du in München! Das ist ja wundervoll. Woher kommst du denn in aller Welt?«
»Direkt von Tegernsee, um dich zu begrüßen. Du hast mir ja selbst geschrieben, daß du heute hier eintriffst. Ist das nicht Grund genug?«
Die junge Frau hatte den Arm des alten Geistlichen ungestüm umklammert und sah beseligt in das runzelige Gesicht.
»Ich freue mich schrecklich! Job Christoph kommt erst morgen – und so bin ich doch nicht allein.«
»Weiß ich, weiß alles, Kindchen. Doch ich will ehrlich sein und mich nicht als gar zu uneigennützig hinstellen. Mein Kommen nach München hat nämlich noch einen anderen Zweck. Ich will Professor Ramberg nächste Woche sprechen hören. Er und dein Job haben mir gemeinsam eine Karte aus Genua geschrieben, und so blüht mir denn hier ein doppelter Genuß.«
»Herrlich, Onkel Gotthard! Der Vortrag wird sicher fabelhaft reizvoll werden. Ich freue mich auch darauf.«
»Na, und wie geht es dir, Ire? Siehst ein bissel schmal aus! Haben uns ja so lange nicht gesehen. Tante G. läßt grüßen; erhielt gestern Nachricht von ihr nach Tegernsee, sie klagt über argen Schwindel.«
»O, die Arme! Aber mir fehlt nichts. Bin gesund wie ein Fisch im Wasser. Die heiße, lange Fahrt war nur etwas ermüdend,« entgegnete sie heiter und zog, da eine weitere Unterhaltung in dem Gedränge nicht mehr möglich war, den Verwandten mit sich fort. –
Am späten Abend, es mochte wohl halb zwölf Uhr sein, saß Irene noch in ihrem Hotelzimmer.
Liebe, anregende, vertraute Gespräche mit dem Onkel hatten ihre Seele bewegt und jede Müdigkeit aus den Augen gescheucht.
Nachdem beide unten im Speisesaal die Abendmahlzeit eingenommen, hatte sie ihn noch bis zum Ausgang begleitet. Kanonikus Thorwald wohnte bei einem Amtsbruder in der Nähe der Frauenkirche. Der Geistliche schien sehr vergnügt und hatte beim Abschied geäußert: »Morgen siehst du mich nicht, Kind, da kommt dein Mann, den du an vier Monate entbehrt hast. Aber dann finde ich mich wieder ein, und wir essen irgendwo zusammen und schwelgen dann in Kunstgenüssen. Gott schütze dich, Ire!«
Als diese darauf in das einsame Zimmer zurückkehrte, wurde ihr plötzlich ganz bänglich zumute. Seltsam! Sie war ja doch reichlich daran gewöhnt, allein zu sein – von mehr als zwei Jahren ihrer Ehe hatte sie fast zehn Monate ohne den Gatten verbringen müssen. Aber einmal, den ersten Winter, war sie ja mit ihm nach Kairo gereist. Wie herrlich, berauschend schön schienen noch heute jene Erinnerungen, dort unter seiner Führung und Anleitung antike Kunst zu studieren. Zum erstenmal war damals das Bewußtsein in ihr erwacht: Du bist ihm vielleicht doch eine nicht völlig zu unterschätzende Kameradin. Sehr vieles hatte er mit ihr besprochen, sie belehrt und in die Geheimnisse und Mystik der alten Kulturländer eingeweiht.
Und seit jenen Tagen durfte sie auch mehr und mehr teilnehmen an seinen Arbeiten, seinem ihn ganz befriedigenden Lebenszweck, welcher der Gegenwart entrückt war und um zweitausend Jahre zurückgriff.
Noch heute gedachte Irene mit Entzücken solch weihevoller Stunden. Weit ins Land hinein, zu den Kunstdenkmälern und Pyramiden, waren sie oft beide allein gefahren, und so sah sie ihn im Geiste jetzt noch vor sich stehen, während der Vollmond seinen Silberglanz über die sagenumwobenen Stätten ergoß, und hörte ihn reden – reden! Keiner kannte Job Christoph so, wie sie ihn kannte, dem Alltagsleben weit entrückt, die Brust von Begeisterung geschwellt.
Wohl keiner hatte sich am Wohlklange dieser Stimme, welche metallisch hart und auch wieder warm und weich sich in die Seele einzuschmeicheln wußte, jemals so berauscht wie sie selbst.
In mädchenhaftem Unverstand hatte sie früher oft mehr Hingebung und Leidenschaft von ihrem Gatten erwartet und die stets gleichbleibende Ruhe und Güte hatte sie ungeduldig gemacht, so daß etwas gleich Trotz und Widerspruch sich in ihrem Innern löste. Sie wollte angebetet sein, mit Zärtlichkeit verwöhnt, ihre heißen Gefühle für ihn sollten mit dem nämlichen Maße gemessen werden. Heute war das alles ausgekämpft und überwunden.
Wie durfte man von solchem Manne törichte Liebeständelei erwarten! Galt Job Christophs Seele, sein ganzes Fühlen und Denken nicht ausschließlich seinem unermüdlichen Schaffen, seinem Berufe? Glücklich und dankbar mußte sie dagegen sein, daß sie ihm mehr bleiben durfte als vielleicht andere Frauen ihren Männern, die keinen Anteil hatten an deren Geistesleben. Welch ein Schatz von Verständnis und Vertrauen für sie bargen auch immer Job Christophs Briefe. Klang daraus doch oft ein verheißungsfreudiger Unterton: »Ich habe viel zu berichten, Ire. Du wirst mir ordnen helfen – hast du mir doch oft den Beweis des Verstehens geliefert!«
Und morgen kehrte er zurück.
* * *