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Die Mittagssonne brannte auf die Plattform des Alt-Casteller Bergfrieds. Kein Lüftlein regte sich.
Gebückt, mit gefalteten Händen, saß auf der Wächterbank der Blinde. Ein breitkrämpiger Hut schützte sein Haupt gegen die Sonnenstrahlen.
An der Sandsteinbrüstung lehnte der Kaplan und sah in die Ferne. Von Zeit zu Zeit fragte der Greis, und immer wieder kam die dumpfe Antwort zurück: »Nichts, gnädiger Herr.«
Stundenlang waren sie also gesessen und gestanden. Da begann der Blinde zu klagen: »Ich elender Mensch, hier sitze ich und kann nicht einmal sehen, wo meine Söhne kämpfen für des Hauses Ehre.«
»Die Sieben, Herr, bedürfen keiner Aussicht,« antwortete der alte Mann, der Kaplan.
»Mich quält ein Traum, Andächtiger.« Der Blinde erhob sich, kam langsam zur Brüstung und trat neben den Kleriker. »Es waren sieben Weinstöcke, und ich hatte alle sieben selber gepflanzt, sah sie lustig wachsen und freute mich ihrer. Da ging ich eines Morgens in meinen Weinberg, und siehe, 135 fünf Weinstöcke waren abgeschnitten, der sechste lag zertreten auf dem Erdboden und um den siebten hatte sich ein giftiger Wurm geringelt, der zischte mich an. Was sagst du zu dem Traum, Andächtiger?«
Der Kleriker schwieg zunächst. Dann bemerkte er vorsichtig: »Nicht alle Träume sind von Gott geschickt, Eure Gnaden.«
»Nicht alle,« murmelte der Greis. »Ganz recht, nicht alle.« Schweigend standen sie nebeneinander im Sonnenbrande. Dann sagte der Blinde wieder: »Siehst du noch nichts?«
»Nichts, Eure Gnaden,« kam die Antwort zurück.
»Wo ist denn die Gräfin?« fragte der Greis ungeduldig. »Die Gräfin –?«
»Sie steht unter uns in der Kammer, im Fenster.«
»Die Gräfin soll kommen!« rief der Greis. »Imma, so komm doch, Imma, hörst du?« Er hatte sich über die Brüstung gebeugt und seine Stimme zitterte in Ungeduld. »Die Gräfin hat scharfe Augen,« erklärte er dem Pfaffen, »du aber bist ein Maulwurf.«
Da kam die kleine Gräfin die Leiter empor und trat keuchend neben ihren Herrn. Sie hielt die Hand über die Augen und spähte hinaus in die Ferne, wo der Main stückweise glitzerte zwischen den Hügeln.
»Ich sehe nichts,« brachte sie nach einer Weile heraus.
»Wenn sie aneinander sind, mußt du den Staub hinter Kitzingen sehen!« sagte der Blinde.
136 »Ich sehe nichts,« antwortete die Gräfin angstvoll.
»Sie müssen aneinander sein,« sagte der Greis. Und aufgeregt befahl er: »Richiza soll kommen!«
»Sie ist unter uns in der Kammer,« flüsterte die Gräfin. Da ging der Burgkaplan und holte das Kind.
Richiza hatte rotgeweinte Augen, als sie auf die Plattform kam. Hastig ging sie an die Brüstung vor und trat neben den Greis. Der tastete mit der Hand nach ihrer Schulter, fuhr liebkosend über ihre Wange und sagte: »Liebling, leih mir deine Falkenaugen, sag mir, siehst du Staub aufsteigen am Strome?«
Richiza spähte in die Ferne.
»Sprich!« rief der Alte.
Schluchzend antwortete das Kind: »Ich kann nichts sehen, Herr Pate.«
Zornig rief der Blinde: »Sie heult!« und verächtlich wandte er sich ab. »Weiber sollen warten, ausgucken und beten, wenn die Männer im Felde stehen!« sagte er nach einer Weile. »Was aber hilft uns ihr Heulen?«
Krampfhaft schluchzte das Kind.
»Geh, Richiza, geh!« raunte die Gräfin und schob sie zur Leiter.
»Seht ihr noch nichts?« fragte der Graf.
»Nichts!« riefen die beiden, der Kaplan und die Gräfin.
137 Stöhnend murmelte der Greis: »O, wenn einer mit Blindheit geschlagen ist!«
»Um Vergebung,« bemerkte der Kaplan, »ich wüßte einen, der sieht Berg und Tal auf dem Mond –«
»So bring ihn – sie müssen aneinander sein!« schrie der Graf.
Da kletterte der alte Mann eilig die Leiter hinab und lief an der Linde vorbei, hinter die Burg, zwischen die Planken, wo die Dorfschaften lagerten.
Männer, Weiber und Kinder drängten sich um den Kleriker, angstvolle Gesichter waren auf ihn gerichtet.
Ein großes, starkknochiges Weib trat hart vor ihn, stemmte die Arme in die Hüften und sagte: »Sind wir Schafe, daß man uns einpfercht zwischen die Planken? Habt Ihr Nachricht, dann laßt uns auch was wissen!«
Ängstlich rieb der Andächtige die weißen Hände, schielte an seiner Gegnerin vorüber und stotterte: »Wir – wissen doch – selbst nichts!«
Murrend standen die Leute, während er mit dem Schäfer aus den Planken entwich.
Ungeduldig lauschte der Graf, und als die Schritte der beiden über den Sand knirschten, beugte er sich über die Brüstung und trieb sie mit heftigen Worten zur Eile.
Keuchend kletterten die beiden nach oben.
»Hierher!« befahl der Blinde.
138 Gehorsam trat der Hirte neben ihn.
»Schau hinaus gen Kitzingen – was siehst du?«
Der Hirte beschattete die Augen und spähte nach Westen. »Ich sehe ein Wölklein,« sagte er nach einiger Zeit mit unsicherer Stimme.
»Wo?« fragte der Blinde aufgeregt.
»An der Erde – am Fluß,« antwortete der Mann. »Hinter der Stadt,« sagte er nach einiger Zeit. »Staub ist's.«
»Staub?« keuchte der Graf.
»Staub,« wiederholte der Hirt.
»Staub!« keuchte der Graf und steckte den Zeigefinger in den Mund, prüfte mit dem nassen Finger die Richtung des Windes und murmelte zum drittenmal: »Staub!«
»Es ist windstill,« bemerkte der Burgpfaff.
»Kein Blatt rührt sich an der Linde,« flüsterte die Gräfin.
»So rede doch!« rief der Greis und schüttelte den Arm des Schäfers. Der spähte mit beschatteten Augen unverwandt in die Ferne.
»Größer wird's,« sagte er nach einer Weile bedächtig.
»Größer?« wiederholte der Blinde und kratzte am Sandstein.
Nach langer Zeit sagte der Schäfer: »Es ist eine große Wolke geworden.«
»Eine große Wolke,« bestätigte der Kaplan.
Mit angestrengten Augen spähte auch die Gräfin, 139 murmelte Unverständliches und rührte sich nicht. So standen sie und atmeten hörbar.
Und wieder nach langer Zeit rief der Schäfer: »Sie läuft!«
»Sie läuft – wohin läuft sie?« Der Graf packte den Arm des Mannes.
Auf der andern Seite aber raunte der Burgpfaffe: »Sag's nicht!«
»Was murmelst du, Kleriker?« schrie der Blinde. »Ich will keine Heimlichkeiten – hörst du? Also sie läuft – wohin läuft sie?« Er schüttelte den Schäfer.
»Her zu uns – dick herauf nach Castell!« sagte der Hirte. »Ich muß doch sagen, was ich sehe!« murrte er und machte sich frei vom Griffe des Kaplans.
Der Blinde hatte die Arme auf die Brüstung gestemmt und wiederholte mit bebenden Lippen: »Her zu uns –?«
Die Gräfin schob den Knecht zur Stiege und hieß ihn gehen.
»Her zu uns?« schrie der Graf. »Dann sind sie geschlagen und fliehen! – Fliehen?« fragte er und tastete nach dem Burgkaplan. »Wer hat gesagt, daß sie fliehen? Von allen meinen Söhnen flieht keiner. Was hast du gesagt, Imma?«
»Ich – habe nichts – gesagt,« schluchzte die Gräfin.
»Her zu uns – dick herauf?« fragte der Blinde. »Siehst du's auch, Imma?«
140 »Ja,« schluchzte die Unglückliche.
Da riß der Graf den Hut vom Haupte, warf ihn zu Boden, fuhr mit beiden Händen in seine weißen Haare und klagte: »Heut ein Graf zu Castell und länger kaum!«
Zaghaft legte die Gräfin ihre Hand auf seine Schulter. Unwillig trat der Blinde zurück. An der Brüstung stand der Kaplan, murmelte Gebete und fuhr von Zeit zu Zeit mit dem Handrücken über seine nasse Stirn.
Kein Blättlein rührte sich drunten an der Linde. Immer größer aber kroch die graue Wolke in weiter Ferne heran.
Hochaufgerichtet stand der Greis an der Brüstung. Die Gräfin raffte seinen Hut vom Boden und legte ihn auf die Brüstung. »Bedecke dein Haupt, es ist glühheiß,« flehte sie. Da nahm er den Hut, stülpte ihn über den Schädel und stand wie vorher hochaufgerichtet neben dem Pfaffen. Und es war, als schämte er sich seiner vorigen Schwäche. Seine Stimme klang hart, wenn er den Pfaffen fragte. Und er fragte ihn oft. –
Mit Geschrei quollen die Leute zwischen den Palisaden hervor; Kinder klagten, Weiber heulten. Und der Burgvogt rannte mit seinen Knechten aus dem Tor, bedrohte die Menge, brüllte und konnte sie doch nicht zwischen die Planken zurücktreiben.
Hochaufgerichtet stand der Blinde. Sein Antlitz war starr. Ihn kümmerte nicht der Sonnenbrand, 141 ihn kümmerte nicht der Aufruhr der geängstigten Menschen. Und der Kleriker wagte nicht einmal das Haupt zu wenden nach ihnen.
Da ging die Gräfin zur Leiter und kletterte hinab. Sie trat mitten unter die schreienden Leute, sie strafte die Trotzigen, sie sprach den Weinenden Mut ein. Zuletzt hob sie ein Kind vom Boden, liebkoste es und schob ihm ein Honigplätzchen in den Mund.
Das Geschrei war verstummt, nur leise wagten die Weiber zu schluchzen. Mit lauter Stimme sagte die Gräfin: »Gott lebt noch, ihr Leute – die heilige Jungfrau ist bei uns und bei denen draußen im Felde – nicht verzagen! Hört ihr? Wir wollen beten!«
Sie stellte das Kindlein auf die Erde, kniete nieder, hob die Hände und begann das Vaterunser zu sprechen. Da sanken sie allgemach gleich ihr zu Boden.
Wie fernes Rauschen schlug ihr Gebet dem Grafen ans Ohr. Da zuckte es um seine Augen, da bewegten sich seine Lippen. Er entblößte sein Haupt und murmelte gleich denen unter der Linde.
Die Sonne neigte sich zum Niedergange. Strichweise glitzerte der Main, wie Silber glitzerte er. Die große Staubwolke war längst schon zerflossen. Leichter Dunst schwebte über dem abendlichen Lande.
142 Im dämmerigen Gemache der Gräfin kniete Richiza, barg den Kopf in ihrem Schoß und fragte schluchzend: »Sind sie nun alle tot, Frau Patin?«
*
Eine kupferige Abendröte stand über den Hügeln hinter dem Strome. Kühle Abendluft kam aus den Wäldern.
Wieder stiegen Wölklein aus den Feldern am Strome. Es waren Rauchwölklein von den Lagerfeuern der Sieger.
Nacht war's. Auf stolperndem, staubbedecktem Pferde kam ein Reiter von den Wiesenbronner Höhen herab, ritt ins Dorf, den Kniebrecher hinauf und hielt endlich am Burgtor.
Sie öffneten das Tor, sie kamen mit brennenden Fackeln heraus und umringten ihn.
Sein Antlitz und sein Kettenhemd starrten in Staub, dicker Staub lag auf seinem keuchenden Pferd. Sein Mund war ausgetrocknet, und mit Anstrengung brachte er die Worte hervor: »Es ist – alles – verloren.« Willenlos ließ er sich vom Pferde ziehen und hinauf in den Palas führen. Das Pferd aber wollte sich nimmer von der Stelle bewegen; es senkte den Kopf und schnob über den Kies, seine Beine zitterten, es beugte die Knie, es ließ sich schwer zur Seite fallen und blieb regungslos liegen die ganze Nacht. –
143 Der Staubbedeckte stand im schwachbeleuchteten Gemache vor seinem Herrn, brachte zerrissene Sätze hervor und stotterte immer wieder dazwischen: »O Herr, das Bild ist's gewesen!«
Der Blinde drohte, er bat, er versprach, aber der Knecht stammelte nur immer wieder von dem entsetzlichen Bild, von dem Heiligenbild mit den runden, furchtbaren Augen, und sagte immer und immer wieder zuletzt: »Es ist alles verloren.«
Da befahl der Alte schreiend: »Und nun zeige deine Wunden, du Kerl!«
Mit zitternden Händen betastete der Knecht seinen Schädel und seine Brust. Der Alte aber griff nach seinem Arm, schüttelte ihn und schrie: »Wo sind deine Wunden, du Kerl?«
Zaghaft zupfte die Gräfin ihren Herrn am Gewande. Der aber schüttelte das Opfer seines Zornes nur um so stärker. Wimmernd sank der Knecht in die Knie, hob die Hände und stieß hervor: »Gnade, Herr, das Bild – wir sind alle geflohen!«
»Du lügst!« donnerte der Graf. Er stieß den Knecht, daß er auf den Teppich fiel. »Und wenn sie allesamt geflohen sind, so ist doch von meinen Söhnen keiner geflohen.«
Der Knecht raffte sich auf und rang nach einem Wort. Da trat die Gräfin zwischen den tobenden Herrn und den Verzagten und schob diesen aus der Tür. Der Graf aber schrie, daß sich seine Stimme überschlug: »In den Turm – in den Turm!«
144 Die Gräfin ging aus der Stube. Knechte führten auf ihr Geheiß den Todmüden in das Turmstüblein, der Koch brachte ihm Speise und Trank. Er aber stützte die Arme auf den Tisch, sein Kopf sank schwer nach vorne. Dann glitt der Leib seitwärts herab und fiel auf die Dielen. Da lag der Reiter und schlief gleich dem Pferde draußen vor dem Tor.
Die Nacht war hervorgekommen aus der Tiefe des Waldes. Fledermäuse flatterten um die Mauern, Käuzlein lachten und klagten in den Schluchten. Zuweilen brüllte ein Rind zwischen den Planken. Und die Wächter schritten wie alle Zeit rundum auf den dumpf klingenden Brettern des Umgangs, riefen sich zu, hielten sich wach.
Der Himmel war mit leichtem Dunst überzogen; nur hier und da blinkte ein Sternlein. In tiefem Frieden dehnte sich der Gau; kein Feind nahte dem Bergschlosse.
Lange Stunden saß die kleine Gräfin neben ihrem Herrn und Gemahl, sie streichelte seine kalten Hände, sie sprach ihm zu – törichte Worte aufs Geratewohl, Weltliches und Geistliches durcheinander. Und sie war doch mit allen ihren Gedanken ferne von ihm und von sich. Sie atmete in der furchtbaren Staubwolke, sie hörte das Schreien der Kämpfenden, das Schnauben der Rosse, das Hämmern der Schwerter, das Krachen der Lanzen, 145 das Stöhnen der Verwundeten, das Röcheln der Sterbenden. Und auch der Blinde horchte nicht auf ihre Worte. Tief herab auf die Brust hing sein weißes Haupt, die Flechten seines Bartes hatten sich aufgelöst, das wirre Haar zitterte unter seinen schweren Atemzügen. –
Gegen Mitternacht ging die Gräfin mit dem Burgvogt zu dem gefangenen Reiter. Sie fand ihn auf den Brettern liegend. Da befahl sie dem Vogt und seinem Knecht, den Schlafenden auf den Strohsack zu betten.
Stöhnend wälzte sich der Mann auf der knisternden Liegerstatt. Mit der brennenden Kerze in der Hand beobachtete ihn die Gräfin. Dann sagte sie zum Burgvogt: »Weck ihn, ich muß es wissen!«
Der Burgvogt schüttelte ihn, er schrie ihn an.
Schlaftrunken öffnete der Mann die Augen und murmelte etwas.
Angestrengt lauschte die Gräfin. »Was hat er gesagt?« flüsterte sie.
»Er hat's noch immer mit dem Bild,« antwortete der Vogt.
Die schweren Augendeckel des Knechtes waren schon wieder zugefallen; tief atmete der Schlafende.
»Laß ihn!« sagte die Gräfin, hielt ihre Hand schützend vor das Flämmchen und ging aus der Tür.
*
146 Angekleidet, regungslos, mit weitgeöffneten Augen lag sie auf ihrem Bette. Schwer atmend lag ihr zur Seite der blinde Herr. Stundenlang lagen sie also. Nur zuweilen kam ein raunendes Wort aus dem Munde der Gräfin, und zuweilen kam auch eine Antwort aus dem Munde des Grafen zurück.
Ein schwaches Öllicht brannte in der Ecke und warf seinen unsicheren Schein auf das handgroße Marienbild. Immer wieder mußte die Gräfin ihre Blicke auf das Bildchen richten. Nach stundenlanger Not und Qual fielen ihre Augenlider zu. –
Gegen Morgen erwachte sie. Es war ihr friedlich zumute, denn sie wußte nichts mehr von dem, was gestern gewesen. Sie dehnte sich. Dann aber kroch etwas heran. Sie besann sich. Sie riß die Augen auf. Es kroch näher. Wie ein Biß fuhr es auf sie herein. Und die Angst von gestern schlug die Giftzähne in ihre Brust.
Das Lichtlein war erloschen, und vor den grünen, runden Scheiben dämmerte der Morgen.
Sie wandte sich und sah ihren Herrn regungslos auf dem Bette sitzen. Dunkel hob sich seine Gestalt vom Fenster ab.
Und sie hörte ihn murmeln und verstand auch dann und wann ein abgerissenes Wort.
Sie wagte nicht, sich zu regen, sie preßte die Lippen aufeinander, sie wandte die Augen nicht von dem Geliebten. Sie wußte, daß er mit Gott sprach, 147 und ihre Gedanken vermählten sich seinem Gebete.
Die Hähne krähten.
Auf der Plattform des Bergfrieds knirschten die Schuhe des Wächters. Weiche Horntöne kamen hernieder. Dann sang die klare Stimme das Morgenlied hinaus über Burg und Gau:
Laßt euch sagen, was ich sehe,
höre, wer es hören mag:
wieder ist die Nacht entschwunden,
wieder kommt ein junger Tag.
Kleidet nun des Leibes Blöße,
waschet eure Augen klar,
danket dem, der nächtlings wieder
euer Schutz und Helfer war.
Hebet euere Sorgenbündel
mutig von der Erde auf
und beginnt in Gottes Namen
freudig euern Tageslauf.
Viele, viele Christenleute
wandern mit euch ihre Bahn,
viele aber suchten vor euch
schon die Steige himmelan.
Doch es gibt auch andre Pfade –
darum tut euch Vorsicht not,
wollt ihr nicht das Ziel verlieren
heute bis zum Abendrot.
Ach, daß keiner es verlöre,
keiner bräche seitwärts aus.
Ach, daß jeder endlich fände
seine Weg ins Vaterhaus.
148 Die Gräfin tastete mit der Rechten nach der Hand ihres Gemahls. Der nahm die schmale Hand, streichelte sie und führte sie an seine Lippen. Dann erhob er sich wortlos vom Lager.