August Sperl
Richiza
August Sperl

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Das war ein sonnenfroher Abend im Lande der Franken!

Zwischen dem dürren Laube des vergangenen 358 Herbstes leuchteten die letzten Maiglocken, Duft stieg empor vom jungen Grün der Eichen, Wohlgeruch flutete zu Tale vom frischen Laube der Linde; in ein Meer von zarten Farben sank am wolkenlosen Himmel der glühende Ball; einen riesigen Schatten warf der graue Wachtturm vom Herrenberge zum Schloßberg hinüber, und in den Tiefen des Grübert tönte der Pfiff des Pirol, klang das Klopfen des Spechtes, lockte der neckische Kuckuck, sang zwischendarein ihre süßesten Lieder die Amsel.

Droben in der Burg waren alle Fensterläden geöffnet; bis in den finstersten Winkel strich die laue Luft. Lenz war's im Frankenlande, wonniger Lenz.

Unter der heiligen Linde saß auf dem steinernen Stuhle die Gräfin-Mutter. Sie saß auf weichem Kissen, und ihre Knie waren umhüllt mit einer leichten, blauseidenen Decke. Sie war allein und las in einem kleinen Buche. Ein altes Hündlein ruhte neben ihr, hatte ein Stück von der Decke genommen und schmiegte sich an ihre Füße.

Sie ward des Lesens müde, ließ das Büchlein in den Schoß sinken, lehnte sich behaglich zurück, sah hinunter ins unergründliche Waldtal und lauschte dem melodischen Gewirre der zahllosen Stimmen des Frühlings.

Ein Trüpplein singender Kinder trat tief unten aus dem Schatten des Waldes auf die grünleuchtende Wiese heraus, und hell klang es empor zu 359 der einsamen Frau. Sie kannte die alte Weise, die immer wieder im Lenz ertönte am Saume der fränkischen Wälder. Sie kannte die alte Weise, die jung blieb, weil sie fortgetragen wurde von Kindermund im Wechsel der Zeit. Sie fühlte das Herze pochen, sie gedachte des ersten Lenzes, dessen Blütendüfte dieses Lied, gerade dieses Lied emporgetragen hatten zu dieser Linde, zu eben dieser jung grünenden, duftenden Linde. Und sachte tropften ihre Tränen auf die welken Hände, während das Lied zum zweitenmal erklang:

Ihr weißes Röcklein hat, gottlob,
die Tanne ausgezogen,
und wie der Sturm ist über Nacht
der Frühling hergeflogen –
      heisa juche, heisa juchei,
      o du seliger Mai!

Auf grünen Wald, auf roten Klee
lacht nun die Sonn' hernieder,
dieweil der Fink im Apfelbaum
pfeift seine schönsten Lieder –
      heisa juche, heisa juchei,
      o du seliger Mai!

Wir Jungen tanzen durch die Au
im Frühlingsonnenscheine,
und mancher Alten fährt die Lust
noch in die dürren Beine –
      heisa juche, heisa juchei,
      o du seliger Mai! 360

Bringt alles, was euch Sorgen macht,
nur in die Maiensonne
und sagt, wer kann noch traurig sein
in solcher Lenzeswonne? –
      heisa juche, heisa juchei,
      o du seliger Mai!

Es ist das Herze wunderleicht
mir, dir und – uns zwei beiden;
drum lebe, was da leben mag,
wir wollen's keinem neiden –
      heisa juche, heisa juchei,
      o du seliger Mai!

Die Lebenszeit, o weh, ist kurz
und wird gar bald sich enden;
drum pack das Leben, wo du kannst,
und halt es fest in Händen –
      heisa juche, heisa juchei,
      o du seliger Mai!

Aus der Tiefe des Hohlwegs klang der Hufschlag schnaubender Rosse. Die alte Frau wandte das Haupt und lächelte unter ihren Tränen. Die Rosse hielten, und der Reitknecht hob die junge Gräfin aus dem Sattel.

»Richiza!« flüsterte Frau Imma.

Das Fräulein raffte sein Reitkleid und kam unter die Linde. Mit Wedeln und Winseln richtete sich das Hündchen an ihren Knien empor. »O –!« sagte sie, trat neben den Steinsitz und strich liebkosend über die runzeligen Wangen der Greisin, beugte sich hernieder und küßte die Tränen von ihren alten Augen.

361 »Laß, laß, Kind!« wehrte Frau Imma. Doch es war ihr nicht Ernst mit dem Sträuben. Richiza kniete nieder, und die Greisin schlang den Arm um ihren Nacken.

»Ich darf nur fortgehen, dann kommen die schwarzen Gedanken, Frau Patin.«

»Wie die Fledermäuse, wenn die Sonne gesunken ist,« vollendete die Gräfin. »Aber Kind, du bist heiß, die Abendluft wird dir schaden.«

Richiza erhob sich, schüttelte das Haupt, streifte langsam ihre Handschuhe ab und sah mit großen glänzenden Augen hinaus über das enge Tal, auf das goldgrün schimmernde Blättermeer des Bergwaldes.

»Kind, tu mir den Gefallen und nimm das Tuch –!«

»Meint Ihr, Frau Patin?« antwortete Richiza traumverloren, legte gehorsam das Tuch um ihre Schultern und sah wieder unverwandt hinüber zum Walde.

Lächelnd betrachtete die Gräfin das schöne Antlitz. Endlich sagte sie: »Eia, liebe Chizza, du siehst aus, als wäre dir Wunderbares begegnet?«

Ein tiefer Atemzug rang sich empor aus der Brust des Fräuleins: »Wunderbares, Frau Patin. O ja, Wunderbares – der Frühling, Frau Patin – –!«

»Er selbst?« fragte die alte Frau und wandte den Blick nicht von dem lieblichen Antlitz.

362 Da schaute Richiza der Patin voll in die Augen und sagte mit fester Stimme: »Er selbst, Frau Patin.«

Freundlich lächelte Frau Imma und um ihre Augen zuckte es. Ihre Rechte tastete nach der Hand des Fräuleins und drückte sie leise. »Richiza, sei nun einmal recht gut,« schmeichelte sie.

»Aber bin ich denn jemals recht böse mit Euch, Frau Patin?« kam die verwunderte Frage zurück.

»I Gott bewahre,« sagte die Herrin, »böse – du? Aber sei mal recht gut und setze dich her zu mir!«

Gehorsam bückte sich Richiza, nahm einen Schemel und setzte sich neben das Hündchen, faltete die Hände über den Knien und sah ernsthaft empor zu der alten Frau.

»Nein, so nicht, so darfst du nicht schauen,« sagte die Gräfin unzufrieden.

»Aber wie soll ich denn schauen?« fragte Richiza lächelnd.

»So auch nicht,« murrte die Herrin. »So wie vorhin, so wie man den Frühling anschaut.«

»Also wie man den Frühling anschaut,« sagte Richiza und schnitt ein klägliches Gesicht.

Nun mußte die alte Frau lachen: »I was – dir werden die Späße vergehen, wenn's einmal ganz Winter geworden ist – ganz Winter, hörst du?«

»Und wann wird das kommen, Frau Patin?« fragte Richiza.

363 »Wenn du eine alte Jungfer geworden bist,« platzte die Patin heraus.

Freundlich lächelte das Fräulein. Dann sagte es mit Bestimmtheit: »Das wird nie kommen, Frau Patin.«

»Vielleicht bälder als du glaubst,« flüsterte die Herrin nicht ohne Grobheit.

»Niemals, Frau Patin.«

»Und warum nicht?«

»Weil – weil –« Fräulein Richiza wurde dunkelrot und hielt inne. »Weil – ich eher eine junge Nonne werde als eine alte Jungfer. Nun wißt Ihr's.«

»Ernsthaft, bitt' ich mir aus, Richiza! Der von Hollach –«

Richiza warf den Kopf zurück.

»Na, was gibt's denn?« zürnte die Herrin. »Der von Hollach hat heute zum zweitenmal um dich anhalten lassen.«

»Und da soll ich nun schauen, wie man den Frühling anschaut?« fragte Richiza und sah lächelnd, mit halbgeschlossenen Augen zur Patin empor.

Ärgerlich murrte Frau Imma unverständliche Worte vor sich hin. Richiza aber sprang auf, trat seitwärts, reckte ihre hohe Gestalt, schlang die gefalteten Hände rückwärts um ihren Hals, bog das Haupt zurück und sagte aus tiefster Brust: »Niemals, Frau Patin!«

Frau Imma zupfte ärgerlich an der seidenen Decke.

364 Die Dämmerung hatte den Goldschimmer des Abends weggewischt von der Berghalde des Grübert. Regungslos stand Richiza und blickte zum Himmel empor. »Glaubt Ihr, Frau Patin,« begann sie, »glaubt Ihr das alte Märlein, daß jähe Freude einem Menschen plötzlich den Tod zu bringen vermag?«

»Ich weiß es nicht,« sagte die Gräfin. »Aber das weiß ich, daß mich der Ärger über dich noch mit der Zeit langsam ins Grab bringen wird.«

Richiza lächelte nicht mehr. Sie stand regungslos, blickte zum Himmel empor und fragte zum zweiten Male: »Glaubt Ihr das Märlein, Frau Patin?«

Die Greisin hob das Haupt: »Du bist so sonderbar, mein Kind –?«

Da ließ sich das Fräulein auf die Knie nieder. Ihr Atem ging schwer, und sie fragte raunend zum dritten Male am Ohre der Herrin: »Glaubt Ihr das Märlein?«

»Man hat's zuzeiten gehört,« antwortete die Greisin.

Tief drunten im Tale begann eine Nachtigall zu schlagen. Richiza aber sagte: »Ich muß es wissen, was Ihr denkt von dem Märlein. Irgendwo in der Nähe – irgendwo lebt ein alter Vater oder eine alte Mutter – es mag eine Mutter sein – die hatte vor langer Zeit ihr Kind verloren, ihr Kind, hört Ihr –?«

365 »Ich höre,« nickte die Greisin freundlich.

»– hatte ihr Kind verloren, Frau Patin. Es war fortgezogen. Es hatte sich in fremde Dienste verdungen. Es blieb verschollen. Nie kehrt's zurück, sagten die Leute. Das Kind von damals war tot.«

»Tot,« wiederholte die Gräfin.

»Und der alte Vater – nein, 's ist eine alte Mutter – die alte Mutter hat es wohl endlich selber glauben müssen.«

»Selber glauben müssen,« wiederholte die Gräfin und senkte das Haupt.

Richiza flüsterte: »Und hört nur, Frau Patin – heute sagen die Leute anders – sie sagen, es sei nicht tot, das – – Kind, es sei gesehen worden im Lande. Aber sie fürchten –«

»Was fürchten sie?« fragte die Herrin mit trockenen Lippen.

»Sie wird sterben vor Glück, so fürchten die Leute,« vollendete Richiza.

»Sterben vor Glück?« wiederholte die Greisin nachdenklich.

»Und sie haben mich um Rat gefragt,« fuhr Richiza fort, »mich – Frau Patin – um Rat gefragt. Da hab' ich ihnen geantwortet: Wie kann ich's wissen? Aber ich will die Gräfin-Mutter fragen.«

Aus der Tiefe des Grübert klang das süße Lied der Nachtigall.

Näher schmiegte sich das Fräulein an die Knie 366 der Greisin und raunte an ihrem Antlitz: »Wenn nun – erlaubt mir's zu sagen – wenn nun Euer eigner Sohn –«

»Richiza!« Klagend hob die Gräfin ihre Hand und wandte sich ab.

»Vergebt mir!« bat Richiza, griff nach der Hand und bedeckte sie mit Küssen. »Ich muß es hören, es handelt sich um ihr Leben – und Ihr nur könnt raten, Frau Mutter.«

»Alte Menschen haben mürbe Herzen,« flüsterte die Gräfin schluchzend. »Man muß es dem alten Vater langsam erzählen – hörst du? – langsam, sehr langsam!«

»Es ist eine Mutter,« raunte Richiza.

»Man muß es der Mutter langsam, sehr langsam erzählen,« wiederholte die Gräfin.

»Ihr müßt – ich kann mir nicht helfen – Ihr müßt nun alles überlegen,« raunte Richiza. »Denkt Euch, Ihr wäret die alte Mutter –!«

»O Kind, quäle mich nicht!« schluchzte die Greisin.

»Kann mir nicht helfen, es muß sein. Denkt Euch, Ihr wäret die alte Mutter und er – er käme!«

Der volle Mond war hinter der Burg emporgestiegen, und in seinem goldenen Lichte erglänzte der Wald bis in die Tiefe des Tales.

»Denkt Euch, er käme nun im Mondlicht geritten! Hört Ihr?«

367 Die Greisin schluchzte.

Richiza sprang auf, wandte lauschend den Kopf zurück und sprach langsam: »Jawohl, er kommt von Rüdenhausen – hört Ihr? Schon klingen die Hufe seines Pferdes zwischen den Hütten von Castell, hört Ihr, Frau Mutter? Nun schnaubt es den Kniebrecher empor – hört Ihr? Nun kommt es den Hohlweg herein zwischen die Planken, Frau Mutter –!«

Die Greisin schluchzte stoßweise.

»Und nun hält Euer Sohn und wartet zwischen den Wällen, wartet, bis ich ihm sage: Hierher, Friedel, die Freude wird sie nicht töten.«

Die Greisin schluchzte nicht mehr. Mit schwimmenden Augen sah sie auf das erregte Gesicht des Fräuleins. Und mühsam brachte sie heraus: »Richiza – die Mutter bin ich –?«

Richiza schlang die Arme um ihren Nacken und bedeckte das runzelige Gesicht mit Küssen. Aber sie sagte kein Wort.

»Ich –?« wiederholte die Greisin und schob sie heftig zurück.

»Ihr!« antwortete die klare, tiefe Stimme.

»Richiza –!« Die Mutter griff an ihr Herz.

»Darf ich ihn bringen?« fragte Richiza nach einer Weile und erhob sich.

»Im Namen Gottes, des Vaters!« sagte die Gräfin, faltete ihre zitternden Hände, lehnte sich zurück und schloß die Augen.

Im tiefen Tale sang die Nachtigall ihr Liebeslied.

368 Richiza ging zurück, den Hohlweg zwischen die Planken hinab, kam wieder, brachte an ihrer Hand den Heimgekehrten und führte ihn zu seiner Mutter.

Der große Mann beugte das Knie und bedeckte die Hand der Greisin mit Küssen.

Und seine Mutter keuchte: »Friedel!« Dann sagte sie stoßweise: »Ich habe – gestern – erst – frisches Leilachen – breiten lassen – über dein Bette – auf dem – Tischlein am – Fenster – stehen Maiblumen.« Und nun begann sie sachte zu weinen. –

Im tiefen Tale sang die Nachtigall ihr Liebeslied. Mit leisem Winseln war das alte Hündchen herangekrochen und leckte den staubigen Stiefel des Mannes. Neben dem Geliebten aber kniete Richiza und streichelte die Hände der Mutter.

Tief drunten im Tale trat einer aus dem Walde und sang, wie vorher die Kinder gesungen hatten:

Es ist das Herze wunderleicht
mir, dir und – uns zwei beiden;
drum lebe, was da leben mag,
wir wollen's keinem neiden –
      heisa juche, heisa juchei,
      o du seliger Mai!

Und leise verklang es:

Die Lebenszeit, o weh, ist kurz
Und wird gar bald sich enden;
drum pack das Leben, wo du kannst,
und halt es fest in Händen –
      heisa juche, heisa juchei,
      o du seliger Mai!

369 An seinen Krücken kam der Schloßherr vom Tore herab, und vor ihm sprang leichtfüßig der blonde Knabe zur Linde hinan.

Knechte und Mägde rannten in den Schloßhof, drängten sich unter das Tor und spähten hinüber zur mondbeglänzten Linde.

»Herrgott – Herrgott!« murmelte immer wieder Knecht Eckart und preßte dabei den Arm des uralten Kämmerlings. »Herrgott – Herrgott – wir haben's halt doch noch erlebt!«

Eine Gürtelmagd lief zur Magd Kunne und erzählte ihr die wundersame Märe. Die Greisin aber murrte störrisch: »Ei was, Herr Friedel kommt nie mehr!«

 


 


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