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1

»Ännchen!«

Gesang und Spiel in dem Salon verstummten; Ännchen erschien in der offenen Thür. »Riefst du mich?«

»Der Abend ist zu schön, als daß man ihn –«

»Durch schlechte Musik entweihen dürfte.«

»Weil du einmal in der Begleitung g statt gis gegriffen hast?«

»Das hast du gemerkt? Ich werde, in deiner Gegenwart nie wieder singen und spielen. Du hast ein unheimlich feines Gehör.«

»Sage: unheimlich feine Sinne! So fühle ich ganz genau, daß es für dich hier um einen halben Grad zu kühl ist. Ich werde dir etwas holen lassen. Bitte, klingle! Du stehst gerade bei dem Knopf.«

»Es ist wirklich nicht –«

»Bitte!«

Ännchen that, wie ihr geheißen. Beckys Kammermädchen erschien und erhielt den Auftrag, für Fräulein Guttmann ein Tuch zu bringen.

»Und du selbst?« sagte Ännchen.

»Ich brauche nichts. Ein altes Landmädchen!«

»Von drei Jahren!«

»Wieso: drei Jahren?«

»Du lebst doch erst seit drei Jahren auf dem Lande.«

Die Bemerkung schien Becky zu verdrießen. Zwischen den scharfgezogenen Brauen stand plötzlich eine feine senkrechte Falte, und aus den großen dunklen Augen schoß ein strenger kalter Blick; selbst der Ton ihrer Stimme war weniger freundlich, als sie, mit leichtem Achselzucken, schnell erwiderte: »Geboren bin ich freilich auf dem Lande nicht.«

›Sie ist fürchterlich empfindlich,‹ dachte Ännchen bei sich. ›Und ich habe doch gar nichts Schlimmes gesagt.‹

Marie kam mit einem Tuch. Beckys Verstimmung war nur momentan gewesen. Sie selbst hüllte die kleine Freundin sorgsam in das Tuch, legte ihr den linken Arm um die Schulter und führte sie an die Brüstung der Terrasse, von der, wenige Schritte rechts von ihnen, eine breite Treppe sanft zu dem Kiesweg hinabführte, welcher um den großen eingemauerten Teich lief. Zwei schwarze Schwäne kamen, als sie die Damen erblickten, schnell auf das Brückchen zugeschwommen, an welchem ein zierliches Boot angekettet lag.

»Sollen wir ein wenig rudern?« fragte Ännchen.

»Ich meine, wir bleiben hier.«

»Wie du willst. Es ist ja auch hier wunderschön.«

»Alles nach meinen Wünschen und Angaben: der Teich, der erst ausgegraben werden mußte; der Rasenplatz mit den Bosketts – ursprünglich ein wüster pommerscher Pächtergarten mit eingestreuten Kartoffel-, Bohnen- und sonstigen Gemüsefeldern; der Durchblick zwischen den Bosketts – alles!«

»Wunder-, wunderschön!« wiederholte Ännchen. »Und dazu die köstliche Beleuchtung! Das liebliche Rosenrot da rechts über den Tannen – oder sind es Fichten? – wie das in ein lichtes Grün übergeht und dann durch eben angedeutetes Gelb in immer tieferes Blau – ein Paradies!«

»Es ist nicht übel: nur alles noch so schauderhaft jung.«

»Wie das?«

»Du hast es ja selbst gesagt: drei Jahre oder ein bißchen mehr. Wenn's drei Jahrhunderte wären! Wie der Herrengarten drüben in Selchow!«

Und sie deutete mit der freien rechten Hand in die Richtung der breiten Schneise durch das junge Nadelholz ihnen gerade gegenüber, hinter dem das Terrain zu mäßigen Hügeln aufstieg, die mit Hochwald bestanden schienen. Doch vermochte Ännchen bei der bedeutenden Entfernung und dem matten Abendlicht trotz ihrer scharfen Augen Einzelheiten nicht mehr zu erkennen. Nur die oberste Spitze eines schlanken Turmes, dessen Kupferdach ein letzter Sonnenstrahl traf. Sie war mit Becky, die in der Parkkapelle ein Marienbild kopierte, gestern drüben gewesen, und die Damen hatten einen Rundgang durch den Park gemacht, trotzdem die alte Beschließerin wiederholt versicherte: es sei schon ganz gegen ihre Ordre, daß sie das gnädige Fräulein in der Kapelle malen lasse; und wenn der Herr Graf erführe, daß fremde Herrschaften so frei im Park spazierten, könne sie in große Ungelegenheit kommen.

»Ich habe an den langweiligen Taxushecken und den verschnörkelten Sandsteinfiguren nichts Besonderes finden können,« sagte Ännchen. »Die Kapelle! na ja! die ist ganz ehrwürdig mit ihren Grabsteinplatten und den schönen Holzschnitzereien und dem dicken Epheu an den Mauern draußen. Aber hier ist es doch hundertmal schöner.«

»Das verstehst du nicht, liebes Kind.«

»Brauche ich auch nicht als arme Professorstochter.«

»Ich bin auch eine Professorstochter.«

»Der Accent liegt nicht auf Professor, sondern auf arm.«

Becky antwortete nicht; sie hatte ihren Arm von Ännchens Schulter genommen und lehnte sich jetzt an eine der Vasen, mit denen die Balustrade der Terrasse geschmückt war. Ännchen betrachtete sie in stiller Bewunderung. Noch nie war ihr die neue Freundin so schön erschienen: der hohe schlanke Wuchs in dem vollkommenen Ebenmaß der kraftvollen und doch nicht zu üppigen Formen; der herrliche Ansatz des Halses; der prächtige Kopf mit dem weichen, glänzend schwarzen Haar; das Gesicht mit seinen edlen regelmäßigen Zügen, wie sie sich jetzt in scharf geschnittenem Profil von dem lichten Abendhimmel abhoben; das große, dunkle, von den langen Wimpern halb verschleierte Auge, das nachdenklich in die Landschaft blickte –

»Weißt du, Becky, du solltest eigentlich eine Königin sein,« sagte Ännchen.

Becky wandte langsam das Gesicht zu ihr. »Ich hätte nichts dagegen,« erwiderte sie ruhig.

»Und eigentlich bist du doch hier eine Königin. Du kannst auch, wie der Herr in der Schillerschen Ballade – der auf seines Daches Zinnen stand, weißt du – wie der, kannst du sagen: dies alles ist mir unterthänig.«

»Bis auf Schloß und Park da drüben,« sagte Becky, nach der Turmspitze deutend.

»Ja, wie kommt es nur, daß die dir nicht auch gehören, da doch das ganze große Gut dein ist?«

»Meines Vaters, meinst du.«

»Das bleibt sich gleich. Du bist sein einziges Kind und seine alleinige Erbin. Aber weshalb möchtest du zu dem vielen, das du schon dein eigen nennst oder meinetwegen einmal nennen wirst, auch das alte langweilige Schloß und den noch langweiligeren Park haben? Du sagtest das schon, als wir drüben waren.«

»Weil es dazu – zum Ganzen, meine ich – gehört und ich nichts Halbes leiden kann. Alles oder nichts!«

Ännchen lachte. »Mit dem letzteren könnte ich aufwarten,« rief sie, die Flächen der Hände übereinander streichend; »hier niente, da niente. Aber warum hat dein Papa den alten Kasten nicht mitgekauft, wenn dir so viel daran gelegen ist?«

»Weil der Herr Graf sich nicht von ihm trennen wollte.«

»Was kann ihm daran liegen, nachdem er alles andere dran geben mußte und er überdies beständig auf Reisen ist?«

»Da mußt du ihn schon selber fragen, liebes Kind. Ich hätte dazu keine Gelegenheit gehabt. Die Ehre, ihn persönlich kennen zu lernen, ist mir noch nicht geworden.«

»Aber dein Papa kennt ihn!«

»Ebensowenig. Sie haben nur durch Unterhändler und schriftlich miteinander verkehrt. Aber wir wollen hineingehen. Es fängt an, kühl zu werden.«

*

Die breite Schiebethür hinter sich schließend, betraten die Damen den Salon, in welchem Johann eben als letzte die beiden Lampen auf dem Kaminsims entzündet hatte. In dem Kamin brannte an langen Fichtenscheiten ein helles Feuer, ein wenig unmotiviert, wie Ännchen meinte, an dem warmen Aprilabend. Auch hatte Johann einsichtsvoll den Theetisch unter seiner hochständerigen Lampe in gemessener Entfernung von dem Kamin arrangiert. Er hatte noch etwas an dem Tisch zu ordnen und fragte, ein paar Schritte zurücktretend, ob das gnädige Fräulein sonst Befehle für ihn habe?

»Kommt Frau Direktor nicht?«

»Frau Direktor bittet, sie zu entschuldigen; sie habe noch in der Wirtschaft zu thun.«

»Hat der Herr Geheimrat hinterlassen, wann er zurückkommt?«

»Der Herr Geheimrat meinten: schwerlich vor dem Souper.«

»Es ist gut.«

Johann hatte sich auf leisen Sohlen zurückgezogen; Ännchen bereitete den Thee, was Becky für selbstverständlich zu halten schien, trotzdem die Tage vorher Frau Direktor Krafft es gethan und ihr die Behandlung des Samovar, den sie aus ihrer bescheidenen Familienpraxis nicht kannte, unheimliche Rätsel zu lösen gab. Glücklicherweise achtete Becky offenbar nicht auf ihre unsicheren Manipulationen. Sie saß zurückgelehnt in ihrem Fauteuil, gerade vor sich hinblickend; stellte auch die Tasse, die ihr Ännchen dann bot, ohne daran zu nippen, auf den Tisch; saß noch ein Weilchen so, stand auf und begann – die Hände auf dem Rücken, wie es ihre Gewohnheit war – in dem weiten Gemach hin und wieder zu gehen. Da sie augenscheinlich eine Unterhaltung nicht wünschte, schwieg auch Ännchen. Die Pause zog sich in die Länge. Ännchen war es nicht unlieb. Man hatte fast den ganzen Tag im Freien zugebracht. Daran war sie nicht gewöhnt, und sie fühlte sich ein wenig abgespannt und müde. Nicht zum Schlafen; aber in ein Träumen verfiel sie doch, das Ort und Stunde freundlich begünstigten. Tiefe Stille. Vom Garten und auch von dem großen Wirtschaftshofe, auf den die Vorderfenster sahen, kein Laut. Beckys Schritte dämpfte der dicke Smyrnateppich. Dann und wann nur ein leises Rascheln ihrer Kleider, ein Knistern in dem Kaminfeuer, das monotone Summen des Samovar.

War ja auch alles, was sie in diesen letzten Tagen erlebt, wie ein wunderlicher Traum. Der, trotzdem man lange darauf vorbereitet war, doch plötzliche, überhastete Abschied von Göttingen, dem trauten, engen Heim, den Spielplätzen ihrer Kindheit, allen den Orten, an die sich so viele Erinnerungen ihrer Mädchenjahre knüpften, den lieben Jugendfreundinnen; die lange Eisenbahnfahrt hierher – schier unendlich lang für sie, die kaum ein paar Meilen über das Weichbild ihrer Geburtsstadt hinausgekommen war – die Ankunft in Greifswald, wo sie ein womöglich noch kleineres Haus, als sie in Göttingen verlassen hatte, empfing; das Auspacken der vorausgeschickten Sachen; das probeweise Hin- und Herrücken der Möbel, wobei – und wobei nicht sonst? – die jüngeren Geschwister unweigerlich im Wege standen; der Vater, der seine Antrittsbesuche zu machen und so viele geschäftliche Dinge zu ordnen hatte, kaum auf flüchtige Stunden anwesend zur Freude der Mutter, die freilich nichts aus ihrer heiteren Ruhe bringen konnte. Und dann – vor fünf Tagen – war der Geheimrat gekommen, den Freund und Kollegen zu begrüßen, der, das wußte Ännchen, dem einflußreichen Manne in erster Linie die vorteilhafte Berufung verdankte. Und er war am nächsten Tage wiedergekommen, diesmal in einer prächtigen viersitzigen Equipage, mit der wunderschönen Tochter. Und als die beiden nach zwei Stunden wieder auf ihr Gut zurückfuhren, hatte sie mit in der prächtigen Equipage gesessen, weil Becky es so gewollt hatte. Und wenn Becky etwas wollte, schien es, daß es geschehen mußte.

Unter anderem, daß sie, anstatt am nächsten Tage zurückgebracht zu werden, jetzt bereits zum viertenmal die Sonne von der Terrasse aus hatte untergehen sehen: ein Gast des Hauses, von den Dienstboten, über deren Zahl sie immer noch nicht im reinen war, ehrfurchtvoll behandelt; von Frau Direktor, Beckys ›Stütze‹, freundlich bemuttert; von dem herrlichen Geheimrat, der immer einen Scherz auf den Lippen hatte, auf das liebenswürdigste geneckt und von der Tochter, die zweifellos die Herrin des Hauses und seine eigentliche Seele – ja, lieber Himmel, was konnte nur an ihr, der Kleinen, Unschönen, Ungelehrten, die Prachtvolle, Bildschöne, Geistvolle finden, daß sie so lieb zu ihr war? sie gleich am ersten Abend mit dem schwesterlichen Du beglückt hatte? sie mit Geschenken überhäufte, daß sie nur immer Mühe hatte, abzuwehren?

Und wann hätte sie sich je einen Reichtum, wie er sie in diesem Hause umgab, auch nur träumen lassen? Diesen Salon mit den seidenen Tapeten? Teppichen, in denen der Fuß versank? Sitzgelegenheiten der mannigfaltigsten Form von geradezu unheimlicher Bequemlichkeit? Möbeln, von denen sie meinte, sie könnten nur in fürstlichen Gemächern oder Museen vorkommen? Gemälden, französischen meistens, die so kostbar waren, daß sie ihren Ohren nicht traute, wenn Becky ihr gelegentlich den Preis des einen und des anderen genannt hatte? Dann die große Flucht der übrigen Zimmer, jedes in seiner Weise elegant und üppig ausgestattet; nicht zum wenigsten die Schlafgemächer mit den seidenen Betten! Wie auch eines in dem ihren stand, vor dem sie sich am ersten Abend ernstlich gefragt hatte, ob man sich da wirklich hineinlegen dürfe!

Freilich, der Vater hatte gesagt: der Geheimrat ist klotzig reich; und die Mutter erwidert: dafür ist er ein Jude. Darauf der Vater: sagen wir: ein Genie. Und die Mutter: ein Finanzgenie, meinst du? Wieder der Vater: ich denke nur an den genialen Arzt. Schließlich die Mutter: lieber Freund, hättest du doppelt sein ärztliches Genie, du wärst doch kein Millionär geworden.

»Woran denkst du, Kind?«

Ännchen wäre fast erschrocken. In ihre Träumerei versunken, hatte sie für den Moment alles um sich her vergessen; die Stimmen der Eltern waren so deutlich gewesen, als hätten sie eben neben ihr gesprochen.

»An nichts,« sagte sie, sich halb aus dem Fauteuil aufrichtend und zu Becky emporblickend, die dicht vor ihr stand.

»Man denkt immer an etwas,« erwiderte Becky. nihil agere animus non potest. Soll ich dir sagen, woran du eben gedacht hast?«

»Da wäre ich wirklich neugierig.«

»Du hast gedacht: ob Becky Lombard wohl noch Jüdin ist.«

Ännchen erschrak jetzt ernstlich. Das hatte sie nicht gedacht; aber in Erinnerung des abendlichen Gesprächs ihrer Eltern hatten sich doch ihre Gedanken in dieser Richtung bewegt; und unmöglich war es gar nicht, daß sie sich im nächsten Augenblicke die nämliche Frage vorgelegt hätte. Da sie nicht lügen mochte und die Wahrheit nicht wohl bekennen durfte, sagte sie ausweichend: »Jedenfalls würde es mich sehr interessieren, zu hören, wie du darüber denkst.«

»Das will ich dir sagen,« erwiderte Becky.

*

Sie machte ein paar Schritte von Ännchen fort in das Gemach hinein; kehrte auf den Hacken um; warf sich in den Fauteuil an der anderen Seite des Theetisches; schob die mittlerweile kalt gewordene Tasse zurück; griff nach dem silbernen Etui; zündete sich an dem Flämmchen der Spirituslampe eine Cigarette an und that ein paar kräftige Züge, bevor sie zu sprechen begann: »Ich komme nicht von ungefähr zu der Frage. Ich sehe sie in den Augen aller, mit denen ich, wie mit dir, neu bekannt werde. Wenn die Leute indiskret sind, fragen sie auch. Direkt oder indirekt, je nachdem. Mir aber ist es Bedürfnis, zwischen uns die Sache ein für allemal erledigt zu sehen. Warum? Ich kämpfe gern mit offenem Visier. Ich will, daß die Menschen wissen, wer ich bin. Habe ich die Frage beantwortet, so wissen sie es. Also: ich bin Jüdin; will sagen: ich bin als Jüdin geboren und werde niemals übertreten. Weiter nichts. Übrigens bin ich Philosophin, speciell Spinozistin, obgleich seine Substanz auch nur eine petitio principii ist, und er als erwiesen hinstellt, was erst erwiesen werden sollte. Aber: il n'ya a que le premier pas qui coûte. Im übrigen ist sein System so konsequent, daß man immer wieder von Staunen ergriffen wird, wie sich in einem Menschenkopfe die Welt so klar widerspiegeln konnte. Du kennst doch Spinoza?«

»Keinen Schimmer,« sagte Ännchen.

»Dann will ich auch nicht weiter von ihm reden. Ich wollte auch nichts, als dir hinsichtlich meines Judentums den richtigen point de vue geben, wie ich ihn der Welt zu geben versucht habe in einer Broschüre, die ich vor ein paar Jahren in Zürich drucken ließ. Unsere Orthodoxen – mein Vater zum Beispiel – sagen: ich wäre damit aus dem Judentum ausgeschieden. Mag sein. Wenn du nun fragst: warum ich trotzdem wenigstens äußerlich am Judentum halte, was denn doch manche Inkonvenienzen hat – zumal in meiner exponierten Stellung als Großgrundbesitzerin unter all den christlichen Nachbarn und den vielen christlichen Dienstboten –, so könnte ich sagen: weil, träte ich über, ich meinem Vater, der ein gläubiger Jude ist, den tiefsten Kummer bereiten würde. Das ist richtig; aber nicht der wahre Grund. Ich würde bleiben, was ich bin – das heißt: Jüdin, wenn auch nach meiner Façon – stürbe mein Vater morgen, und ich hätte völlig freie Hand. Und nun kommen wir zu dem punctum saliens

»Was ist das?« fragte Ännchen.

»Der springende Punkt; das, worauf es eigentlich ankommt. Du weißt, Kind, man sagt den Juden nach, daß sie schrecklich von sich eingenommen, über die Maßen eitel, ruhmsüchtig und was dergleichen löbliche Eigenschaften mehr sind. Ich meine löblich aber ganz ernsthaft. Ich halte es für ein hohes Lob, wenn man das alles von einem Menschen und, wohlgemerkt, er es selber von sich sagen kann. Denn es beweist, daß dieser Mensch mindestens den Stoff zur Größe in sich hat; daß er es zu etwas bringen wird in der Welt, wenn die Verhältnisse ihn nur einigermaßen begünstigen. Und auch, wenn sie es nicht thun: ein solcher Mensch schafft sich die Verhältnisse, die er braucht und wie er sie braucht. Und unterscheidet sich eben dadurch von den kleinen Menschen, die immer die Sklaven der Verhältnisse sind, in die sie hineingeboren wurden, oder sich hineintreiben lassen, wie die Schafe in den Stall. Das ist ein harter Ausdruck; aber auf das tertium comparationis kommt es an.«

»Auf was?«

»Auf das dritte des Vergleichs, das den beiden verglichenen Dingen Gemeinsame. Hast du denn nicht Latein gelernt?«

»Nein. Warum sollte ich?«

»Du hast recht: warum solltest du? Bei uns Judenmädchen ist das anders. Wenn wir beachtet sein wollen, müssen wir etwas sein und haben, was die anderen nicht sind und nicht haben. Ist das Mädchen schön, so ist das etwas; ist es noch dazu reich, so ist das viel; und die meisten begnügen sich damit. Nun aber, wenn man eine schöne Mutter gehabt hat, ist man meistens nicht häßlich, und wenn der Vater reich und man das einzige Kind, erbt man seinen Reichtum. Dabei ist nicht die Spur von eigenem Verdienst. Lernen – das ist etwas anderes. Das kann keiner für uns, das müssen wir selbst. Vielwissen, Gelehrsamkeit – das kann man nicht erben. Wir wohnen in Bonn in einem Landhaus am Rhein, auf der Koblenzer Straße. Da sah ich oft vom Garten aus die Studenten auf dem Deck der Dampfer, wenn sie nach dem Siebengebirge hinauffuhren oder von da zurückkamen. Wie sie dann so in ihren bunten Mützen paradierten und den Bändern auf der Brust – ich habe manchmal vor Wut geweint. Und klagte dem Vater – ich habe meine Mutter nicht gekannt; sie starb, als ich ein Jahr alt war – ich klagte dem Vater meinen Jammer, daß ich kein Junge sei. Er streichelte mir die Backe und sagte: ›Rebekka‹ – er nennt mich noch immer manchmal Rebekka, wie du gemerkt haben wirst; ich habe mich für Becky entschieden, nach der in Vanity Fair von Thackeray, die ich bewundere, obgleich sie nicht gerade ist, was man ein gutes Mädchen nennt – ›Rebekka,‹ sagte er, ›ein Junge sein, ist manchmal auch ein fragliches Vergnügen. Zum Beispiel im Examen, da thun mir die armen Kerle manchmal in der Seele leid.‹ ›Warum haben sie nichts gelernt?‹ sagte ich. ›Eine wohl aufzuwerfende Frage,‹ sagte der Vater. Und ich: ›Ich würde was lernen, wenn ich studieren dürfte.‹ ›Wer hindert dich daran?‹ sagte der Vater. Siehst du, das war für mich das ›Sesam! öffne dich!‹ Der Berg, den ich mir verschlossen glaubte, that sich auf. Ich habe studiert: Sprachen, Geschichte, Philosophie, Naturwissenschaft – alles, was in den Schulen und auf den Universitäten gelehrt wird. Ich war drei Jahre in Paris, ein Jahr in Brüssel, eins in Zürich. Da habe ich meinen doctor philosophiae summa cum laude gemacht.«

»Aber das ist ja entsetzlich!« rief Ännchen.

»Was?«

»Daß du so grausam gelehrt bist!«

»Ich sehe darin nichts Entsetzliches,« erwiderte Becky, sich eine neue Cigarette anzündend, »das kommt doch jetzt alle Tage vor. In Zürich liefen Frauenzimmer zu Dutzenden herum, die alle Doktoren waren oder es demnächst werden sollten. Und das hat mir die ganze Sache verleidet.«

»Wieso: verleidet?«

»Eigentlich wollte ich zu dem philosophischen auch noch den medizinischen machen, was mir nicht schwer geworden wäre: ich hatte im Laufe der fünf Jahre alle nötigen Kollegia, zum Teil zweimal gehört, aber die Konkurrenz war mir zu groß. Ich sah, was ich leistete, leisteten andere auch. Das ärgerte mich. Ich wollte etwas Besonderes, etwas, worin ich allein dastehen würde, was mir doch wenigstens nicht jede Grete und Liese so leicht würde nachmachen können. Die Künste? Ich habe Talent zu allen; mich auch in allen versucht und würde es in jeder zu etwas bringen. Aber in jeder wäre ich auf Tritt und Schritt einer Kollegin begegnet, die es am Ende doch noch besser machte als ich; und mein Ehrgeiz hätte das Nachsehen gehabt. Ich war in Verzweiflung und stand auf dem Punkte, die größte der Dummheiten zu begehen und zu heiraten: einen russischen Nihilisten – sie haben ihn ein Jahr später in Moskau aufgehängt.«

»Um Gottes willen!« rief Ännchen. Becky zuckte leicht mit den Schultern. »Er hat mir auch leid gethan, um so mehr, als ich Ursache habe, anzunehmen – seine Briefe deuteten etwas der Art an – die Verzweiflung, daß ich ihm einen Korb gegeben, habe ihn hauptsächlich zu seinen letzten Tollheiten getrieben. Er hatte wunderschöne braune Augen und den weichsten Bariton, den ich je gehört. Aber ich bin ganz aus dem Text gekommen. Wovon sprach ich zuletzt?«

»Von – von –« stotterte Ännchen.

»Weiß schon: von meiner Verzweiflung, daß ich es mit meinem Studieren auch nicht weiter gebracht als andere. Da kam mir ein Zufall zu Hilfe. Mein Vater war plötzlich schwer erkrankt. Ich mußte schleunigst zu ihm, nach Bonn. Er genas – langsam. Unbedingte Ruhe war geboten, Luftveränderung, ein stiller, ländlicher Aufenthalt. Nun mußt du wissen: der Vater hatte bereits seit zehn Jahren angefangen, sein Geld hier in Gütern anzulegen. Auch Polchow hatte er gekauft, das von einem Pächter bewirtschaftet wurde, der ein Junggesell war und nur einen Teil des weitläufigen Herrenhauses bewohnte. Der Vater entschied sich für Polchow; im Notfall war Greifswald in unmittelbarer Nähe. Das leuchtete mir ein, obgleich ich den Gedanken, sich auf Monate in eine solche Einsamkeit zu begraben, absurd fand. Der Vater schwärmt für das Landleben, obgleich er von der Wirtschaft nicht die blasse Ahnung hat. Ich war nie auf dem Lande gewesen, wann hätte ich dazu Zeit gehabt? Und anfangs fand ich die Sache greulich; allmählich kam ich in Geschmack. Wir blieben den ganzen Sommer hier. Als es Herbst wurde und der Vater nach Bonn zurück wollte und seine Kollegien wieder aufnehmen – er hatte sich völlig erholt und fühlte sich kräftiger als je –, erklärte ich: ich würde auf dem Lande bleiben. Der Vater hielt das anfänglich für Scherz; mir war es bitterer Ernst. Hier war die Specialität, nach der ich so lange vergeblich gesucht hatte. Mein Gott, ja! es giebt auch Frauen, die Landgüter selbständig bewirtschaften – warum auch nicht? Aber so sehr häufig finden sie sich nicht. Und auf das Wie kommt es an. Ich hatte mir einmal vorgenommen, Italienisch zu lernen. Nach zwei Monaten las ich den Dante fließend. Ich brauchte nicht so lange, um zu wissen, daß Herr Pasedag, unser Pächter, ein grauenhafter Ignorant war, der nach der Schablone arbeitete und sich nicht wundern durfte, wenn er immer mit der Pacht im Rückstand war. Seine Pacht ging im Herbst zu Ende. Ich trat an seine Stelle, will sagen: übernahm das Gut. Er war heilfroh, daß er bei mir als Inspektor einen Unterschlupf fand. Wenn man ihm genau sagt, was er zu thun hat, macht er seine Sache ganz gut. Wie alle subalternen, aufs Gehorchen von Haus aus angewiesene Naturen.«

»Der arme Mann!« sagte Ännchen. »Darum sieht er auch immer so melancholisch aus.«

»Alle dummen Kreaturen sehen so aus: Pferde, Kühe, Schafe – alle. In der Dummheit liegt die Schwermut. Übrigens hat er es in seiner jetzigen Situation ein gut Teil besser als früher. Er braucht sich nicht den Kopf zu zerbrechen, wenn Martini die beiden Enden nicht ganz zusammenpassen.«

Ännchen meinte: mit dem Kopfzerbrechen werde es bei Becky auch wohl nicht so arg sein und der gute Geheimrat mit sich reden lassen. Aber sie hatte mittlerweile Beckys Empfindlichkeit kennen gelernt. So hielt sie mit der Bemerkung zurück und ebenso mit der anderen, die ihr auf der Zunge schwebte, daß Becky sich für eine simple Gutsbesitzerin immerhin recht stattlich eingerichtet habe. Da sie jedoch meinte, irgend etwas sagen zu müssen, fragte sie auf gut Glück: »Warum hast du dann auch Selchow übernommen; wenn dir Polchow schon solche Sorgen macht?«

»Die beiden Güter grenzen aneinander und bewirtschaften sich besser zusammen. Übrigens habe ich drüben auch meinen besonderen Inspektor. Du hast ihn ja gestern gesehen.«

»Wann fahren wir wieder hinüber?«

»Morgen, denke ich. Die Farben auf meinem Bilde trocknen mir sonst ein.«

»Wie kamst du darauf, das Bild zu kopieren?«

»Mein Vater hatte es gesehen, vor zwei Jahren, als er das Gut kaufte. Er schwärmt dafür; hält es für einen echten Murillo. Das ist es nun wohl nicht, aber vielleicht von einem talentvollen Schüler. Ich will ihm zu seinem Geburtstag eine Freude mit der Kopie machen. Wie fandest du es aber, daß ich dem Weibe die besten Worte geben mußte, bis sie uns die Kapelle aufschloß?«

»Sie wird wohl die Instruktion haben. Sie sagte wenigstens so.«

»Sehr wahrscheinlich. Aber daß da jemand Instruktionen zu geben. Befehle zu erteilen hat!«

Es war so heftig herausgekommen. Ännchen blickte erstaunt auf. Becky konnte es nicht bemerken; sie ging wieder mit großen Schritten in dem Gemache hin und her.

»Die reine Schikane von dem Herrn Grafen! Er wollte sich von dem Stammsitz der Familie, auf dem sie seit drei Jahrhunderten residiert, nicht trennen! Lächerlich! Haben sie sich doch von allem anderen trennen müssen! Jede Quadratrute, die einmal den Bassedows gehört hat, gehört jetzt uns. Die fünf Güter, jeder Fußbreit, bis zu der Parkmauer drüben, bis zu dem Gatter des Rasens vor dem Schloß! Weshalb nicht auch das Schloß und der Park? Wenn der Herr Graf da lebte, hätte es doch eine Spur von Sinn. So ist es der purste Eigensinn, daß er den alten Kasten behalten will. Findest du das nicht auch?«

Ännchen fand das ganz und gar nicht. Sie konnte es dem armen Grafen nachfühlen, daß er sich von einem Hause, in dem seine Vorfahren so lange gewohnt; einem Park, in welchem er vielleicht seine Kinderspiele gespielt, nicht trennen wollte, nachdem er alles andere hatte fahren lassen müssen. Glücklicherweise wurde sie der schwierigen Antwort überhoben. Bei Beckys letzten Worten ertönte von der niedrigen Rampe vor dem Hause das Geräusch der Räder des Wagens, der den Geheimrat aus Greifswald zurückbrachte.

Ein paar Augenblicke später öffnete ihm ein Diener die Thür, und der Geheimrat trat herein mit den raschen Schritten und der Beweglichkeit, die Ännchens Verwunderung waren. Hatte ihr der Vater doch gesagt, daß der alte Herr nahe an Siebzig sei!

* * *


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