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2

Wie geht's? wie steht's?«

Der Geheimrat hatte seine Tochter auf die Stirn, Ännchen galant die Hand geküßt, sich am Theetisch in einen Fauteuil gesetzt, um eine Tasse Thee gebeten, wenn man auch hoffentlich bald zum Abendbrot gehen werde; und wandte sich jetzt direkt zu Ännchen, die ängstlich an dem Samovar hantierte, der plötzlich auf eine ihr unheimliche Weise zu summen und zu brummen begann.

»Was werden Sie sagen, Fräulein Ännchen, daß ich Ihnen Verlängerung Ihres Urlaubs auf vorläufig mindestens zwei Wochen bringe? Es ist freilich himmelschreiend von Ihren Eltern, daß sie das Töchterchen so lange von sich lassen können, trotzdem faktisch für Sie in diesem Augenblicke kein Raum in der Wohnung ist. Der, den Sie später bewohnen sollen, hat der Vorgänger jahrelang als Vogelhaus benutzt. Er – den Raum meine ich – muß erst gründlich desinfiziert, frisch gestrichen und tapeziert werden. Ich habe mich selbst davon überzeugt. Also machen Sie gute Miene zum bösen Spiel und schicken sich, als ein kluges Mädchen, das Sie sind, heroisch in die grausame Verbannung!«

»Sie wissen, wie gern ich hier bin,« sagte Ännchen freudig errötend, indem sie dem Geheimrat die Tasse bot und dabei einen scheuen Streifblick auf Becky warf.

»Und Sie,« rief der Geheimrat, die Tasse mit höflicher Verbeugung entgegennehmend, »wie gern wir Sie hier haben. Nicht wahr, Rebekka?«

»Mein Vater pflegt sonst nach Dingen, die sich von selbst verstehen, nicht zu fragen,« erwiderte Becky herantretend.

»Da habe ich mein Teil!« rief der Geheimrat, so herzlich lachend, daß Ännchen die endgültige Überzeugung von der Echtheit seiner vollständigen, noch immer leidlich weißen Zähne gewann. »Na, da wären wir ja in der Reih', wie sie hier zu Lande sagen. Und einen großen Koffer, Fräulein Ännchen, habe ich auch für Sie mitgebracht. Eigenhändig von Ihrer Frau Mutter gepackt. Sagen Sie, Fräulein Ännchen, danken Sie wohl dem lieben Gott alle Abend und alle Morgen, daß er Ihnen eine solche Mutter gegeben hat? Ihren Vater nicht zu vergessen! Der wird den Herren Kollegen ein Licht aufstecken. Nötig haben sie's. Das weiß außer ihnen selbst alle Welt. Darf ich noch um eine Tasse bitten, Fräulein Ännchen! Aber, wenn es Ihnen recht ist: etwas mehr Thee!«

So plauderte der Geheimrat, und Ännchen hatte die Empfindung, als ob sich die Luft im Salon leichter atme und die Lampen freundlicher brennten. Becky war ja gewiß gut gegen sie, viel mehr, als sie es irgend zu verdienen glaubte. Aber die Güte des alten Herrn, die war doch anders. Da durfte man frei heraus lachen und brauchte nicht jedes Wort auf die Goldwage zu legen. Da brauchte man sich nicht zu schämen, daß man kein Latein gelernt habe. Und doch hatte der Vater gesagt: der Geheimrat, der ist für sich allein eine ganze Universität. Er ließ es sich nicht merken, wahrhaftig nicht! Dafür aber, mit welcher Anerkennung sprach er von den Verdiensten des Vaters, der doch sein Schüler gewesen war! Und von dem er immer gesagt hatte: an dem werden wir noch unsere Freude erleben! Habe er etwa nicht recht gehabt? Gebe es in Deutschland einen Nervenarzt und Psychiater, der ihm an Schärfe und Weite des Blickes gleichkomme?

»Und, Fräulein Ännchen, ich habe noch heute zu Ihrer Frau Mutter gesagt: ›Seien Sie versichert, Greifswald ist für Ihren Herrn Gemahl nur ein Durchgangspunkt. In vier oder fünf Jahren ist er in Berlin.‹ Ich hatte nämlich leicht prophezeien, Fräulein Ännchen, ich habe es von Althoff selbst. Er hätte den Papa schon jetzt nach Berlin genommen; aber der Lärm! Und am Ende ist es auch besser auf diese Weise. Goethe sagt einmal: die Wahrheit sei so einfach. O ja! wenn man dahinter gekommen ist! Dazu braucht es Zeit. Die muß man den Leuten lassen. Das wissen die Künstler, die auch nicht mit der Thür ins Haus fallen und ihre Effekte langsam vorbereiten. Ich finde darin Wagner musterhaft; in der Tannhäuser-Ouverture zum Beispiel. Apropos! Fräulein Ännchen! möchten Sie mir nicht aus der etwas zum besten geben? Sie wissen – will sagen – Sie müssen wissen: es ist mein Lieblingsstück.«

»Sobald wir einmal allein sind,« erwiderte Ännchen mit einem Mut, über den sie sich selber wunderte. »In Beckys Gegenwart wage ich es nicht. Sie hat mir erst gestern auseinandergesetzt: niemand dürfe die Tannhäuser-Ouverture zu spielen wagen, der sie nicht von Bülow habe dirigieren hören. Das Glück ist mir leider nicht zu teil geworden.«

»O, Rebekka!« sagte der Geheimrat mit komischem Ernst; »welch ein Glück, daß du bei der Erschaffung der Welt nicht zugegen warst! Die Angelegenheit wäre über den zweiten Tag nicht hinausgekommen.«

»Du irrst, lieber Vater,« erwiderte Becky. »Ich bin überzeugt, die Welt ist in jedem Punkte genau so, wie sie werden mußte.«

»So gut? oder so schlecht?«

»Eine Frage, die man an eine Spinozistin nicht wohl richten darf.«

»Du hast recht. Dann verstatte mir die andere: ich habe ganz respektablen Hunger. Könnte das Abendbrot heute nicht etwas früher angerichtet werden?«

»In fünf Minuten,« sagte Frau Direktor Krafft, die eben in den Salon getreten war und die letzten Worte des Geheimrats gehört hatte.

»Ah, sieh da!« sagte er, sich erhebend und der Herantretenden die Hand reichend; »habe ja den ganzen Tag noch nicht das Vergnügen gehabt.«

»Wenn der Herr Geheimrat vor Tau und Tag vom Hof fahren!«

Becky und Frau Krafft schienen, in einiger Entfernung vom Theetisch, eine wirtschaftliche Angelegenheit zu besprechen; der Geheimrat sagte zu Ännchen mit leiser Stimme, seinen Fauteuil näher an ihren Sessel rückend: »Ich habe noch einen speciellen Auftrag von Ihrer Frau Mutter; sie bittet Sie, Ihre Musik ja nicht zu vernachlässigen. Sie haben ein so schönes Talent, und man kann nicht wissen, wie Ihnen das in Zukunft noch einmal nützen kann. Lassen Sie sich durch Rebekka nicht einschüchtern! Sie legt an alles den höchsten Maßstab, vergißt nur dabei zu oft, daß in Kunst und Wissenschaft – überall im Leben die alte Hausmannsregel gilt: wer den Pfennig nicht ehrt, ist den Thaler nicht wert. Hat Ihnen meine Tochter gesagt, daß ich übermorgen abreisen muß?«

»Ja, Herr Geheimrat. Leider!«

»Ich sehe es an Ihren treuherzigen Äugen, daß es Ihnen wirklich leid thut. Mir auch. Ich will sagen: ich werde Sie recht vermissen. Sie brauchen nicht rot zu werden, so eine siebzigjährige Liebeserklärung ist nicht weiter gefährlich. Und nun erlauben Sie Ihrem alten Galan, daß er Sie zu Tisch führt!«

*

Der Diener hatte die Flügelthür aufgeschoben. Man mußte noch zwei Salons durchschreiten, bevor man in das Speisezimmer gelangte, wo die Eintretenden drei Herren erwarteten, von denen Ännchen zwei bereits kannte: den Oberinspektor Pasedag, einen Hünen, dem der graumelierte Vollbart an den Backen herauf bis beinahe in die großen blauen, etwas stupiden Augen wuchs; den zweiten Inspektor Arndt, der mit seiner kurzen, gedrungenen Gestalt und seinen zwei weißen Raffzähnen Ännchen immer an eine, allerdings sehr gutmütige, Bulldogge erinnerte. Von dem dritten, den sie zum erstenmal sah, wußte sie, ehe noch Rebekka ihn ihr vorgestellt hatte, daß es der Volontär von Plat sei: ein junger eleganter Mann mit kurzem, blonden, sorgfältig auf der Mitte der Stirn gescheitelten Haar und einem sehr lichten, nach oben gestrichenen Schnurrbärtchen. Er war erst heute nachmittag von einer achttägigen Urlaubsreise aus Ostpreußen zurückgekommen, wo er seine Eltern besucht und eine Schwester verheiratet hatte. Ännchen schien es, als ob der junge Herr von sich selbst keine geringe Meinung hege, und daß er bei Rebekka in besonderer Gunst stehe. Wenigstens war, als der Volontär raschen Schrittes auf sie zutrat und, ihr die Hand küssend, die Empfehlungen seiner Eltern mit geläufiger Zunge ausrichtete, ihre stolze Miene von einem ungewöhnlich freundlichen Lächeln erhellt; und es fiel ihr auf, daß er an dem runden Tisch seinen Platz neben Becky hatte, während ihr doch der bärtige Oberinspektor auf diese Ehre größeren Anspruch machen zu dürfen schien.

Auch von Beckys Unterhaltung fielen heute abend nur wenige spärliche Brocken für sie ab. Herr von Plat hatte gar zu viel zu erzählen; die Fülle der von ihm während der kurzen Reise erlebten Abenteuer war erstaunlich. Bei dem Zusammenstoß seines Eilzuges mit einem entgegenkommenden Güterzuge dicht vor Tilsit war es zwar noch glimpflich für ihn abgegangen, dank seiner Geistesgegenwart, die ihn im entscheidenden Moment aus dem Coupé springen ließ; aber in dem nächtlichen Gefecht zwischen preußischen Grenzjägern und russischen Schmugglern, dem er als Amateur beigewohnt und bei dem unsere Leute infolge der miserablen Führung schmählich den kürzeren gezogen, hätte er ums Haar das Leben lassen müssen. Nur die Dunkelheit, in der man nicht die Hand vor den Augen sehen konnte, und die Schnelligkeit seines ausgezeichneten Pferdes, eines Vollbluttrakehners, hätten ihn gerettet. Die Kugeln der wütenden Verfolger wären ihm freilich unbehaglich nah um die Ohren gepfiffen.

Da Becky diesen Geschichten eine Aufmerksamkeit schenkte, welche Ännchen nicht völlig verdient schien; der Geheimrat, wenn auch hin und wieder mit einem Lächeln des Zweifels um die bartlosen Lippen, aufmerksam zuhörte; die beiden Inspektoren nicht den Mund aufthaten und Frau Direktor nur gelegentlich dem aufwartenden Diener im Flüsterton eine Weisung gab, hatte der junge Mann geraume Zeit das Wort allein in der kleinen Tafelrunde, bis Becky finden mochte, daß sie der Unterhaltung eine andere Wendung geben müsse.

So fragte sie, den Redseligen etwas schroff unterbrechend, Herrn Pasedag über den Tisch hinüber, ob er heute nachmittag drüben in Selchow gewesen sei und die besprochenen Anordnungen getroffen habe?

Der melancholische Mann erstattete seinen Bericht; Becky fragte: »Sonst nichts vorgefallen?«

»Nein, gnädiges Fräulein. Nur Frau Peters sagte –«

»Wer ist Frau Peters?«

»Die Beschließerin im Schloß, gnädiges Fräulein.«

»Ja so! Nun, und was sagte Frau Peters?«

»Sie sagte, sie werde wohl die Damen das nächste Mal nicht wieder in den Park lassen dürfen.«

»Die Person machte mir schon gestern Schwierigkeiten. Ich werde das Trinkgeld verdoppeln müssen.«

»Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein. Es wird wohl sein, weil der Herr Graf heute mittag plötzlich zurückgekommen ist.«

»Wer?«

»Der Herr Graf Bassedow, gnädiges Fräulein.«

»Und das sagen Sie jetzt erst?«

Becky hatte es in einer Erregtheit gerufen, die den bärtigen Riesen die schwermütigen Augen verwundert zu ihr aufschlagen ließ. Auch die übrigen blickten betroffen; aber die Röte auf ihren sonst immer mattblassen Wangen war so plötzlich verschwunden, wie sie aufgestiegen war, und in völlig ruhigem Tone fuhr sie fort: »Ich meine, wie konnten Sie uns eine so interessante Neuigkeit so lange vorenthalten? Sind wir doch für alles dankbar, was in die Monotonie unseres Lebens ein bißchen Abwechselung bringt. Nicht wahr, Ännchen? Du möchtest nun zum Beispiel auf der Stelle wissen, wie der Graf aussieht.«

»Natürlich!« erwiederte Ännchen lachend; »du etwa nicht?«

»Natürlich ich auch,« sagte Becky, die jetzt offenbar der Sache eine scherzhafte Wendung geben wollte. »Ich brenne vor Neugier. Also, Herr Pasedag, nun thun Sie einmal ein übriges für uns Damen und entwerfen uns ein Bild von dem Herrn Grafen mit der Genauigkeit eines Steckbriefes! Ist er groß? klein? dick? dünn? blond? schwarz? Schielt er auf dem rechten oder dem linken Auge? Und welche besonderen Kennzeichen hat er sonst?«

Herr Pasedag wußte nicht, wie er diese bei seiner Herrin höchst ungewöhnliche Lustigkeit nehmen sollte; möglicherweise wollte sie ihn aufziehen. So sagte er, halb verlegen, halb verdrießlich: »Ich habe ihn ja gar nicht gesehen.«

Alle lachten.

»Es wird uns nichts übrig bleiben,« sagte der Geheimrat, »als morgen eine Deputation an den Herrn Grafen zu schicken und ihn um seine Photographie zu bitten.«

»Oder ich reite hinüber,« rief Herr von Plat, »und fordere ihn wegen der Unhöflichkeit seiner Dienstleute gegen unser gnädiges Fräulein.«

»Die Sache wird sich einfach erledigen durch die Visite, die er uns jedenfalls in den nächsten Tagen macht,« bemerkte Becky, jetzt wieder in ihrem gewöhnlichen ruhigen Ton.

»Und dann bin ich über alle Berge und habe das Nachsehen,« rief der Geheimrat.

Herr Arndt räusperte sich laut. Da es der erste Ton war, den er während der ganzen Mahlzeit hatte vernehmen lassen, erregte es allgemeine Aufmerksamkeit.

»Hört! hört!« rief der Geheimrat. »Nun, Herr Arndt, heraus mit der Sprache! Sie wissen etwas, das wir nicht wissen, wie es ja wohl im Kinderspiel heißt.«

Des Inspektors rotbraune Gesichtsfarbe war noch um eine Schattirung dunkler geworden. »Ich wollte nur bemerken,« sagte er, »daß ich den Herrn Grafen ganz gut kenne. Ich habe meine Dienstzeit bei den ersten Kürassieren unter ihm durchgemacht. Er war Rittmeister von unserer Eskadron.«

»Und ein so wichtiges Geheimnis konnten Sie uns bis heute vorenthalten!« rief der alte Herr, schelmisch mit dem Finger drohend.

»Ich hatte keine Veranlassung, davon zu sprechen,« entschuldigte sich höchst ernsthaft der Inspektor.

»Na, dann sagen Sie uns wenigstens jetzt alles, was Sie wissen.«

Herr Arndt wußte nicht eben viel: der Herr Graf Kurt Bassedow war ein sehr großer, sehr magerer Herr, der sich immer außerordentlich gerade hielt. Er hatte ein hageres Gesicht mit einer Habichtsnase und pflegte einen Schnurrbart zu tragen, der ungewöhnlich lang war und gerade nach den Seiten weggestrichen wurde. Augen blau; sehr hell und scharf, gerade wie seine Stimme. Bei den Soldaten beliebt, weil er, wenn auch streng, immer gerecht war und trotz seiner Schneidigkeit im Dienst Menschen und Tieren nichts Unbilliges zumutete. Ein ausgezeichneter Reiter, damals wohl der beste im Regiment. Galt für fürchterlich stolz; aber das mochte er wohl nur den Herren Offizieren gegenüber sein: gegen den gemeinen Mann ließ er sich nichts davon merken, hatte im Gegenteil bei Felddienstübungen und auf den Manövern oft für ihn ein freundliches Wort. Aber Scherze machen, wie manche der anderen Herren Offiziere, die dann freilich im Handumdrehen sehr ausfallend werden konnten, gab es bei ihm nicht. Ein Schimpfwort, wie Esel, Ochse, Rindvieh und dergleichen, hatte Herr Arndt während der ganzen zwei und einem halben Jahre nicht aus seinem Munde gehört. Dagegen, daß er selbst gegen den Erbprinzen Hoheit, der zu seiner Zeit Regimentscommandeur war, – er selbst war zufällig Zeuge gewesen – auf dem letzten Manöver bei einer Meinungsverschiedenheit eine Sprache geführt – Herr Arndt hatte seinen Ohren nicht getraut und nicht mehr recht gewußt, wer nun eigentlich der Chef sei: der Prinz oder der Herr Graf.

»Warum ist er denn eigentlich abgegangen?« fragte der Volontär. »Schulden?«

»Das weiß ich nicht,« erwiderte Herr Arndt. »Das war nach meiner Zeit.«

Der Geheimrat hatte bereits wiederholt Zeichen von Ungeduld blicken lassen. Die Wendung, welche das Gespräch nehmen zu wollen drohte, schien ihm nicht recht zu sein. Jetzt gab er Rebekka ein Zeichen, welche dann die Tafel aufhob. Die beiden Inspektoren verschwanden sofort, nachdem sie ihre steife Verbeugung gemacht. Herr von Plat zögerte ein wenig; er schien zu erwarten, daß man ihn zum Bleiben auffordern werde. Da es nicht geschah, ging auch er. Die Damen, denen sich jetzt Frau Direktor zugesellte, und der Geheimrat begaben sich in den großen Salon zurück. Das gemeinschaftliche Gespräch kam auffallend oft ins Stocken. Ännchen hatte die Empfindung, daß Vater und Tochter allein zu sein wünschten. Sie bat, sich zurückziehen zu dürfen: sie müsse den Koffer, der morgen leer in die Stadt zurück solle, noch auspacken. Rebekka entließ sie mit einem, wie Ännchen schien, etwas flüchtigen Kuß auf die Stirn; der Geheimrat begleitete sie höflich bis zur Thür, wo er sich mit einem freundlichen: »Auf Wiedersehen morgen!« von ihr verabschiedete. Frau Direktor war schon vor ihr gegangen.

*

Ännchen hatte das Mädchen, das ihr hinaufgeleuchtet und die Lichter in ihrem Zimmer angezündet, fortgeschickt. Sie machte sich an den Koffer, während ihr allerlei fröhliche Gedanken durch den Kopf gingen. Eigentlich war es ja nicht hübsch von den Eltern, sie auf so lange Zeit von sich zu geben, als ob sie zu Hause ganz überflüssig sei. Aber dann, wie gut waren sie wieder, gar nicht an sich zu denken, sondern nur an die Freude, die sie ihr so bereiteten! Noch auf Wochen hier weilen zu dürfen, in diesem Paradiese, das jeder der kommenden Frühlingstage womöglich noch schöner machen würde! Freilich, der liebe, prächtige Geheimrat! Daß der so bald abreisen wollte! Den konnte der Herr von Plat nicht ersetzen. Eigentlich ein rechter Fant, dieser Herr von Plat, mit seiner gescheitelten blonden Perücke und dem Bärtchen, an dem jedes Haar künstlich wild gemacht war! Und Becky! Warum sie nur den Zierbengel so gut behandelte? Seltsam!

Ein Klopfen an der Thür unterbrach Ännchen in ihren Meditationen. Sie ging zu öffnen, das Mädchen vermutend, das irgend etwas vergessen haben mochte; es war die Frau Direktor.

»Ich wollte fragen, ob ich Ihnen helfen könne?«

»Sie sehen, ich bin schon beinahe fertig. Es war keine schwere Arbeit – das bißchen Siebensachen! Aber es ist so lieb von Ihnen. Bitte kommen Sie herein und nehmen Sie Platz!«

Der Besuch war Ännchen sehr genehm. Sie fühlte sich zum Plaudern aufgelegt; und die brave, stattliche, trotz ihrer fünfzig Jahre noch hübsche Frau mit den großen hellen blauen Augen, dem nicht kleinen und doch anziehenden Munde, dem überreichen aschblonden Haar war ihr vom ersten Augenblick an sehr sympathisch gewesen.

»So!« sagte sie, »jetzt bin ich fix und fertig. Nun lassen Sie uns einmal ordentlich miteinander schwätzen! Dazu haben wir ja eigentlich noch gar keine rechte Gelegenheit gehabt.«

Sie hatte den Besuch in einen bequemen Stuhl genötigt, für sich selbst einen Sessel nahe heranrückend.

»Soll ich das Fenster schließen, Frau Direktor?«

»Meinetwegen nicht; ich bin an frische Luft gewöhnt. Aber, bitte, nennen Sie mich nicht weiter ›Frau Direktor‹, wenn wir unter uns sind! Das klingt so förmlich. Sagen Sie einfach: Frau Krafft!«

»Aber alle Welt nennt Sie doch hier Frau Direktor.«

»Fräulein Lombard – oder wünschen Sie, daß ich ›gnädiges Fräulein‹ sage –?«

Um ihren Mund spielte ein humoristisches Lächeln, das Ännchen unwillkürlich zum Lachen brachte.

»Sagen wir Becky!«

»Würde sich für mich nicht schicken. Also: Fräulein Lombard wünscht es so. Es paßt mehr in den Rahmen, wissen Sie. Mir liegt nichts daran – im Gegenteil! Mein seliger Mann war nur in dem letzten Jahre seines Lebens Direktor einer höheren städtischen Mädchenschule in Anklam. Er war es noch nicht acht Tage, da bekam er einen Blutsturz und war seitdem eigentlich immer krank. Es war die traurigste Zeit meines Lebens.«

»Wenn ich das gewußt hätte!« sagte Ännchen.

»Wie können Sie das wissen,« erwiderte Frau Krafft, Ännchens Händedruck warm zurückgebend. »Wir wollen uns ja überhaupt erst kennen lernen. Ich bin zu dem Zweck heute abend eigens gekommen – das mit dem Helfen beim Koffer war nur so ein Vorwand.«

»Dann erzählen Sie mir gleich noch ein bißchen mehr von Ihnen!« rief Ännchen.

»Na, in einem Roman geht's anders zu. Mein Mann ließ mich zurück mit einer siebzehnjährigen Tochter und einem Jungen, der acht Jahre alt war – zwei Kinder dazwischen waren gestorben. Mariechen hat sich bald verheiratet an einen Gymnasiallehrer – auch in Anklam – einen braven Mann. Erich – so heißt mein Junge – sollte studieren; es war immer der Herzenswunsch meines Mannes gewesen, und er war ein sehr begabter, fleißiger Knabe. Vermögen hatten wir keinen Pfennig; meine kleine Pension konnte uns auch nicht satt machen. Ich bin ein Landkind, eine Pächtertochter; und wenn ich auch als Lehrerfrau andere Dinge in den Kopf zu nehmen hatte – was man so in der Jugend lernt – kurz ich ging in Kondition als Wirtschafterin. Und da man da immer freie Station hat, konnte ich mein Salär für meinen Jungen verwenden. So habe ich ihn durch die Schule und durch die Universität gebracht. Er steht jetzt vor dem Staatsexamen – dem medizinischen. Ihr Herr Vater, schreibt er mir heute, wird ihn in der letzten Station in die Finger bekommen. Sie sehen also, Fräulein Ännchen, weshalb ich auf jeden Fall mit Ihnen gut Freund sein muß.«

Diesmal blitzte das schalkische Lächeln auch in ihren blauen Augen auf; Ännchen hatte die größte Lust, der Frau um den Hals zu fallen. Alles, was sie sagte, klang so gut, so treuherzig; und sie hatte ein so liebes Gesicht!

Eine kleine Pause entstand, während der Ännchen beschloß, den beabsichtigten Kuß auf die nächste schickliche Gelegenheit zu verschieben. Durch das halboffene Fenster, das auf den Park ging, hörte man das leise unregelmäßige Plätschern des Springbrunnens in der Mitte des Teiches und den dumpfen klagenden Ruf eines Schwans. Der zugezogene Vorhang bauschte sich auf; Frau Krafft erhob sich, schloß das Fenster, kam wieder zu ihrem Stuhl zurück und sagte: »Nun müssen wir aber auch von ihnen ein wenig reden. Das heißt, was Ihre Familienverhältnisse sind – die kenne ich ja. Da ist alles so klar und schier, wie, ich bin überzeugt, in Ihrer jungen siebzehnjährigen Seele. So sollte ich Sie wohl mit meinem Rat verschonen. Und Rat erteilen will ich Ihnen auch eigentlich nicht. Nur vielleicht auf dies und jenes aufmerksam machen, was Ihnen möglicherweise von Nutzen sein kann, da Sie nun doch auf längere Zeit unser Gast sind. Auf ein paar Wochen muß man sich anders einrichten, als auf ein paar Tage.«

»Sie meinen hier?« sagte Ännchen, sich in dem hübschen Zimmer umblickend.

»Nein, das meine ich nicht,« erwiderte Frau Krafft, ihr, wie einem Kinde, die Wange streichelnd. »Ich wollte von was anderem sprechen. Um mit dem Unwichtigsten zu beginnen: nehmen Sie sich vor dem Musjö Plat in acht! Daß Sie sich nicht in ihn verlieben werden – dazu sind Sie viel zu gut und rein. Aber daß er Ihnen keine Verlegenheit bereitet. Gestatten Sie ihm nicht die kleinste Freiheit; im nächsten Augenblick nimmt er sich die größte. Von seiner Windbeutelei will ich gar nicht sprechen – das ist ja nur zum Lachen, notabene: wenn man daran Geschmack findet, was ich für mein Teil nicht thue. Ich bin überzeugt: von dem, was er uns heute abend vorrenommiert hat, war kein Wort wahr. Seine Eltern sind so arm wie die Mäuse auf der Sandscholle dahinten, die er ›unsere Güter‹ nennt. Er hat zwei Schwestern, von denen die ältere an einen russischen Gutsbesitzer verheiratet ist, der recht wohlhabend zu sein scheint und jetzt die jüngere ausgestattet hat, wie denn die ganze Gesellschaft aus seiner Tasche lebt. Unser liebenswürdiger Wladimir – vergessen Sie nicht, wenn Sie den Namen aussprechen, daß der Accent auf der zweiten Silbe liegt – sollte Offizier werden. Er machte aber schon als Fähnrich so arge Schulden – der Schwager wollte oder konnte nicht mehr zahlen, und er wurde geschwenkt. Doch das alles mag man für Dummejungenstreiche halten. Viel schlimmer ist: er ist falsch – wie Galgenholz, sagen wir hier. Ich habe meine Beweise. So thut er auch, als ob er für unser Fräulein in jedem Augenblick sterben würde, und hinter ihrem Rücken macht er sich über sie lustig.«

»Das sollte sie doch aber wissen!« rief Ännchen empört.

»Vorläufig würde sie es keinem glauben, und wenn's ein Engel vom Himmel ihr sagte. Glücklicherweise ahnt der dumme Junge nicht, daß seine Schmeichelei der Strick ist, den er sich selber dreht.«

»Das verstehe ich nicht,« sagte Ännchen.

»Und gerade deshalb spreche ich davon. Sehen Sie, liebes Kind – ich darf Sie doch so nennen? – solche Charaktere, wie Fräulein Lombard, können ohne Schmeichelei nicht leben. Dabei ergeht es ihnen, wie den Menschen, die sich durch beständigen Aufenthalt im Zimmer verwöhnt haben – von dem ersten kalten Windzug bekommen sie den Schnupfen. Ein ungeschicktes Wort von dem Schmeichler, die geringste Widersetzlichkeit, Unbotmäßigkeit und – er kann sein Ränzel schnüren. Um dem nächsten Platz zu machen, dem es nicht besser ergeht. Die Schmeichelei in Bausch und Bogen satt zu kriegen, dazu muß man, glaube ich, so alt werden, wie Friedrich der Große. Und ich habe mich mit meinem seligen Mann darüber gestritten, ob das Wort von den Sklaven, über die zu herrschen er müde sei, nicht auch eine von den vielen Fabeln ist, welche die Menschen den großen Leuten andichten und an denen sie ihre Freude haben.«

»Aber wenn man jemand nun so grenzenlos bewundert, wie ich Becky bewundere!« rief Ännchen mit flammenden Wangen.

Frau Krafft blickte gerade vor sich hin und erwiderte nach einer kleinen Pause: »Sie sollten Fräulein Lombard nicht grenzenlos bewundern; keinen Menschen sollte man das! Niemand ist gut außer Gott allein. Und gut? Fräulein Lombard – gut, was wir Christenmenschen so nennen –«

»Ach so,« sagte Ännchen gedehnt.

Frau Krafft schüttelte den Kopf.

»Sie mißverstehen mich,« sagte sie; »und das ist nicht Ihre Schuld, sondern meine. Ich hätte das Wort nicht brauchen sollen. Es klingt so, als ob nur ein Christ gut sein könne – so weit uns Menschen das überhaupt möglich ist. Das meine ich nicht. Ich meine – ach, liebes Fräulein, ich wollte, ich könnte Ihnen das mit den Worten meines seligen Mannes sagen; der verstand davon mehr als ein Dutzend Pastoren – ich meine: einem, dem von vorherein Christus als Muster hingestellt wird, und dem gesagt wird: das ist der beste aller Menschen gewesen; dem mußt du nacheifern und deinen nächsten lieben, wie er; und näher ist dir keiner als die Armen und Elenden, für die er zuerst ein Herz voll Mitleid gehabt hat, während alle Welt sie sonst unter die Füße trat – wem das, sage ich, von Kindesbeinen an gelehrt wird, der hat es wohl leichter, ein guter Mensch zu werden, als wer sich erst, so zu sagen, zu Christus durcharbeiten muß, wie der Jude, dem die Menschen oft so übel mitgespielt haben, daß man sich nicht wundern kann, wenn er von der Menschenliebe nichts wissen will, sondern zuerst an sich denkt und hernach noch mal an sich. Mit der Religion, was die Leute so darunter verstehen, hat das nicht viel zu thun, oder gar nichts; denn Christus ist ja selber ein Jude gewesen. Wie er, kann auch jeder Jude ein guter Mensch sein und sich trotzdem Jude nennen – hat sich doch Christus selbst bis an seinen Tod immer einen Juden genannt! Darum wollte ich, pflegte mein Mann zu sagen, wir hätten für einen guten Menschen, ob er nun Christ, oder Jude, oder sonst was sei, ein besonderes Wort, um damit auszudrücken, daß es auf das Gutsein ankommt, außerdem aber auf gar nichts. Und wissen Sie, Fräulein Ännchen, wen ich für meine Person dann zuerst so nennen würde: den Herrn Geheimrat. Das ist ein wirklich guter Mensch, wenn er auch seine Tochter grenzenlos verzieht und die Mucke hat – du lieber Gott, unsere Mucken haben wir alle! – daß er partout ein Jude sein will. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich gemacht habe. Es ist so sehr schwer.«

»Doch, doch!« rief Ännchen eifrig; »ich habe Sie ganz gut verstanden. Was Sie da gesagt haben, ist mir nichts Neues. Mein Vater denkt ebenso. Und was den lieben alten Herrn Geheimrat betrifft, da haben Sie gewiß recht. Nur – nur – ach, bitte, sagen Sie mir nicht, daß Becky schlecht ist! Das könnte ich nicht mit anhören!«

»Ich will es auch gar nicht sagen,« erwiderte Frau Krafft, abermals Ännchens Backe streichelnd; »es wäre die Unwahrheit. Man kann sie überhaupt nicht beurteilen und taxieren wie andere gewöhnliche Menschen: sie ist, so zu sagen, einen guten Kopf größer als alle wenigstens, die ich kenne. Und doch thut sie mir von ganzem Herzen leid. Das klingt wunderlich genug: ich und sie bemitleiden! Aber was hat sie denn von ihrem Reichtum, ihrer Schönheit, ihrer Gelehrsamkeit und alle dem? Gar nichts hat sie; unglücklich ist sie bis ins innerste Herz hinein. Warum? ›Je mehr sie hat, je mehr sie will; nie schweigen ihre Wünsche still‹ heißt es im Sprichwort. Bei ihr trifft das zu – buchstäblich. An nichts hat sie wahre Freude. Sie meinen vielleicht: an der Landwirtschaft? Ich kann Ihnen sagen: in ihrem Inneren macht sie sich gar nichts daraus. Sie fährt und reitet herum und befiehlt dies und ordnet das an; ob's ausgeführt wird, und wie es ausgeführt wird, darum kümmert sie sich nicht. Wenn sie Pasedag nicht hätte – alles ginge drunter und drüber. Der sagt: ja, gnädiges Fräulein! oder sagt auch gar nichts, thut aber dann, was nach seiner Meinung das Richtige ist. Nicht, daß er lange darüber grübelte und sich den Kopf zerbräche – das ist nicht seine Sache. Er hat das so im Gefühl, im Blut. Das Feld – das ist er selbst; das Tier – das ist er selbst. Wo es dem Felde not thut, oder dem Tier – er spürt es am eigenen Leibe, gerade wie den eigenen Hunger und Durst. Das ist so, wenn man die Liebe zu etwas hat. Dann weiß man alles. Und wenn man die Liebe nicht hat, dann weiß man nichts. Dann mag man alle Bücher gelesen haben und noch so herrlich über alles zu reden verstehen – man ist doch nichts als ein tönend Erz und eine klingende Schelle.«

Frau Krafft, die sich immer mehr in Eifer gesprochen hatte, war aufgestanden und fuhr fort, mit der erhobenen Hand zu Ännchen hin gestikulierend, die ganz verschüchtert dasaß und die seltsame Frau mit weit offenen Augen anstarrte: »Aber Hochmut kommt vor dem Fall. Hochmut hat die Engel gestürzt. Und Christus sagt: selig sind die Einfältigen. Er hat damit gewiß nicht die Dummen gemeint, – vor denen hat er ganz sicher selbst ein Kreuz geschlagen – sondern die Bescheidenen, die nicht gleich immer oben hinauswollen; die den Sperling in der Hand nicht fliegen lassen, weil die Taube auf dem Dache so viel größer ist; die ihre Arbeit redlich thun und Freude daran haben; und –«

Ihr Blick war auf das entgeisterte Gesicht des jungen Mädchens gefallen. Sie brach jäh in ihrer Rede ab, trat an sie heran und sagte lächelnd und ihr mit beiden Händen über Haar und Wangen streichelnd: »Nun, nun! ich meine das alles nicht schlimm. Das kommt nur manchmal so über mich. Mein lieber Mann hat oft zu nur gesagt: Luise, sagte er, du hättest Pastor werden müssen, wenn du mir auch keine Gardinenpredigten hältst. Nein, das habe ich nie gethan. Hatt's auch nicht nötig. Er war ein so vortrefflicher Mann und einer, der sein Leben nicht für sich führte, wie es so viele thun, sondern es mit mir teilte und alles mit mir durchsprach, Großes und Kleines, wie's eben kam. Aber wenn man nun so jahre- und jahrelang allein durchs Leben geht und sieht, wie die Menschen es treiben, und manchmal laut auflachen und ein andermal schreien möchte: thu doch das nicht! du machst dich ja unglücklich! Und zu allem schweigen muß! Da kommen Augenblicke, wo einem das Herz überläuft; und man erschreckt dann so ein junges liebes Geschöpf, das in der Welt noch einen Rosengarten sieht, in dem es keine Tiger und keine Schlangen giebt. Na, nun gehen Sie zu Bett und träumen süß! Und glauben Sie ja nicht, ich will Ihrem Fräulein Becky übel, oder hasse sie gar! Mir geht es mit ihr nur, wie meinem Manne, wenn er einmal ausnahmsweise ein so recht begabtes, schönes Mädchen zur Schülerin hatte. Er sagte dann: armes Kind! es müßte ihr ja eigentlich wundersam gut werden auf Erden; aber wo so viel glänzendes Licht ist, da ist auch ebenso viel schwarzer Schatten.«

Es war das so herzlich gesagt, und ihre großen blauen Augen schimmerten feucht. Für Ännchen war der Moment gekommen, wo sie der Frau einen Kuß geben mußte. Sie sprang auf, fiel ihr um den Hals, und die Spannung, in der das ernste Gespräch ihre junge Seele gehalten, löste sich in heftigem Weinen. Frau Krafft hatte alle Mühe, sie zu beruhigen; verließ sie auch nicht eher, als bis sie sie zu Bett gebracht und sich überzeugt, daß die Wolke, die sie an diesem heiteren Himmel heraufbeschworen, völlig wieder verschwunden war.

Mit sich selbst fühlte sie sich desto unzufriedener. Nun, ja! sie war überzeugt, daß der Hochmutsteufel, der Fräulein Lombard in den Krallen hielt, noch fürchterliche Dinge mit ihr anstellen würde. Aber weshalb das nicht für sich behalten? weshalb nur ein Zipfelchen davon sehen lassen? Weshalb überhaupt nicht blind sein, wie die anderen, von denen gewiß keiner den unheimlichen Ausdruck bemerkt hatte, den das Gesicht von Fräulein Hochmut annahm, während über Tisch von dem Grafen drüben gesprochen wurde? Wenn der den erwarteten Besuch nicht machte, worauf zehn gegen eins zu wetten war, das würde einen Tanz geben! Und machte er ihn, konnte es leicht noch schlimmer werden.

Frau Krafft, die den letzten Teil ihres Selbstgesprächs bereits in ihrem Zimmer halblaut gehalten hatte, unterbrach sich plötzlich und betrachtete nachdenklich die Haube, die sie eben abgenommen.

Ja, das könnte sie retten! Ein Mann, zu dem sie hinaufsehen müßte, den sie liebte! Aber sie zu jemand hinaufsehen! Sie einen Menschen wahrhaft lieben! Das ist's ja, daß sie nicht lieben, nichts lieben kann, als sich selbst! Ach was! ich habe die Welt nicht gemacht!

Und Frau Krafft stülpte die Haube energisch auf den Ständer.

*

Vater und Tochter waren in dem großen Salon geblieben, nachdem die anderen ihn verlassen. Der Geheimrat stand mit dem Rücken an dem Kamin und blickte still vor sich nieder. Becky schritt auf und ab. Plötzlich blieb sie in der Nähe des Vaters stehen und sagte: »Was hast du beschlossen?«

Der Geheimrat hob die Augen: »Worin, mein Kind?«

»Wie es werden soll, wenn der Graf sein Rückkaufsrecht geltend macht?«

»Was ist da zu beschließen, mein Kind? Will er Selchow wieder haben, nun, er hat es im Kontrakt, daß wir zurücktreten.«

»Selbstverständlich, wenn er das Geld zurückzahlen kann.«

Der Geheimrat schwieg einen Moment und sagte dann: »Selbstverständlich.«

»Nur daß er es nicht können wird.«

»Hoffen wir, daß er es kann!«

Becky, die ihr unruhiges Wandern durch das Zimmer wieder begonnen hatte, wandte sich um und warf einen zornigen Blick auf den Vater. »Hoffen wir! sagst du? und sagst das so ruhig? Ich hoffe das Gegenteil. Sehr! Ich wäre unglücklich, ich wäre außer mir, wenn wir Selchow so ohne weiteres wieder abgeben müßten.«

»Warum unglücklich? warum außer dir? Komm, mein Kind, laß uns ruhig über die Sache sprechen!«

Er hatte sich in einen der Fauteuils am Kamin gesetzt; Becky kam und nahm ihm gegenüber ebenfalls Platz. Ihre Miene war finster. Sie vermied es, den Vater anzusehen, der das Schüreisen, das er zur Hand genommen, dem verglimmenden Kohlenhaufen einen leisen Stoß zu geben, wieder an den Vorsetzer lehnte und sagte: »Wir wollen einmal den Grafen ganz außer Frage lassen. Ich kenne ihn nicht; weiß nicht, was für eine Art Mensch er ist, und ob er das Interesse verdient, das ich an seinem Vater genommen habe, trotzdem er zweifellos ein vaurien war. Wie gesagt: das soll uns jetzt nichts angehen; wir wollen einmal nur an uns denken. Haben wir einen stichhaltigen Grund, Selchow behalten zu wollen? Ich glaube: nein. Eine vorteilhafte Kapitalanlage ist es gewiß nicht. Im Gegenteil! Sähe ich nur darauf, wir müßten nicht bloß Selchow, sondern auch hier Polchow und die anderen Güter heute lieber verkaufen als morgen. Aber ein Geschäft, was man so nennt, habe ich mit den Güterkäufen nicht machen wollen. Ich wollte unser Vermögen, wenn auch zehnfach weniger rentabel, als in Aktien- und anderen Unternehmungen, so doch sicher anlegen; und als ich sah, daß du an der Landwirtschaft Geschmack fandest, dich dafür enthusiasmiertest – liebes Kind, ich habe ja nur dich! Und nur den einen Wunsch, dich glücklich zu sehen, glücklich zu machen, soweit ich dazu beitragen kann! Du glaubtest früher, dein Glück im Studium zu finden – ich ließ dich ziehen, jahrelang in der Fremde weilen – mit wie schwerem Herzen, das weiß Gott! Hier wieder habe ich dir in jeder Weise den Weg geebnet, obgleich ich in die Beständigkeit deiner neuen Leidenschaft ein starkes Mißtrauen setzte. Nicht sowohl aus persönlichen Gründen, sondern aus allgemeinen: historischen und psycho-physiologischen. Unser Volk ist nie ein eigentlich ackerbautreibendes gewesen, auch nicht, als es Palästina noch bewohnte. Die Natur dort ist dem Landbau wenig günstig; unsere Leute waren Hirten, Gärtner, Handwerker, später Kaufleute, Gelehrte. Du hast das Blut von Kaufleuten und Gelehrten in den Adern; seit zwei Jahrtausenden ist sicher keiner deiner Vorfahren Ackerbauer gewesen. So denn würde ich mich nicht wundern, wenn du eines Tages erklärtest, die Sache satt zu haben. Ich habe dich diese Wochen hindurch still beobachtet. Das Resultat ist: der Sättigungspunkt ist bei dir bereits eingetreten, oder wird es doch bald.«

Becky hatte bis dahin in dem niedrigen Sessel dagesessen, zusammengekauert, den Kopf in die Hand gestützt, regungslos, außer daß ihr Fuß ein paarmal blitzschnell auf- und niederwippte. Plötzlich blickte sie empor und sagte, die Augen fest auf den Vater richtend, in hartem Ton: »Weshalb die vielen Worte, Vater? Ich bin doch sonst nicht so schwer von Begriffen. Weshalb nicht gerade heraussagen: du möchtest, daß ich Emil Rehfeld heirate? Er hat ja jetzt die Professur. Darauf hast du doch nur gewartet.«

»Wenigstens,« erwiderte der Geheimrat, »hielt ich den Augenblick für geeignet, die Sache nochmals mit dir durchzusprechen, in aller Friedfertigkeit, liebes Kind, wie es sich für zwei vernünftige Leute, wie wir beide, schickt. Ja, ich möchte es. Vielmehr: es ist mein innigster Wunsch. Mit Kummer und Sorge sehe ich die Jahre kommen und gehen und dich unvermählt bleiben – contra naturam, Kind! contra naturam! Gott nahm deine Mutter zu früh zu sich, als daß sie mir außer dir noch andere Kinder hätte schenken können – einen Sohn vielleicht, der unser Geschlecht fortgepflanzt hätte. So konzentriert sich auf dich all mein Wünschen und Hoffen. Für ein so exceptionelles Wesen, wie du, findet sich schwer der passende Gefährte. Das weiß ich wohl. Auch kannst du mir gewiß nicht vorwerfen, ich hätte dich je gedrängt. Aber alles hat seine Zeit, sagt der Prediger; auch das Wägen und Wählen und – dem Vater wirst du die Indiskretion nicht übel nehmen – du wirst in diesem Juli sechsundzwanzig Jahr. Da sage ich: wäge und wähle nicht länger! nimm Emil Rehfeld! Er hat dich schon als Student geliebt; und, wie er ein Israelit, in dem kein Falsch und der treu in allem, so ist er es auch in seiner Liebe. Von wie vielen kann man das sagen heutzutage? Und wäre es das einzige, das für ihn spricht! Mir wirst du glauben, wenn ich dich versichere: wie er der beste Schüler war, den ich je gehabt, – ich nehme da selbst Guttmann nicht aus – er hat die glänzende Zukunft, die ich ihm prognosticierte, schon jetzt wahr gemacht. Und er steht erst im Anfang seiner Bahn! Es ist nicht abzusehen, was ihm unsere Wissenschaft – speciell die Physiologie – noch zu verdanken haben wird.«

Der Geheimrat, der zuletzt in einem erregteren Tone gesprochen hatte, griff abermals nach dem Schüreisen, stellte es indes alsbald wieder in den Ständer zurück und fuhr mit der gewohnten ruhigen Stimme fort: »Wäre er bloß ein Gelehrter! Aber er ist, was so viele Gelehrte nicht sind, ein geistreicher Kopf, ein Mensch von Phantasie und feinster Empfindung, der Sinn für alles Schöne hat; dessen Unterhaltung ebenso ergötzt, wie belehrt; in dessen Gegenwart man sich gar nicht langweilen kann. Das ist für dich conditio sine qua non: ein langweiliger Mann, und wäre er sonst mit allen möglichen Ehrenqualitäten ausgestattet, nach acht Tagen würde er dir zum Überdruß sein. Ich gebe zu, muß es zugeben: wessen Blick schlechterdings an der Oberfläche haftet, wird ihn häßlich finden. Nun, ich war niemals, auch nicht in meiner besten Zeit, etwas anderes als ein kleines, unansehnliches, gründlich unschönes Kerlchen, und war, als ich heiratete, über die Vierzig, also längst nicht mehr jung; und deine Mutter war achtzehn und schön und groß, wie du; und die letzten Worte, die ihre holden, erkaltenden Lippen hauchten, waren: ich habe dich sehr geliebt.«

Der alte Mann bedeckte sich die Augen mit der Hand und saß so, vornübergebeugt, ein Weilchen, während die verglimmten Kohlen leise in sich zusammensanken und kein anderer Laut durch die Stille zu vernehmen war als das Ticken der großen Rokokouhr auf dem Sims über den beiden Schweigenden.

»Du antwortest mir nicht,« sagte der Geheimrat, ohne seine Stellung zu verändern.

Becky, die, während der Vater sprach, sich nicht gerührt hatte, richtete sich in ihrem Fauteuil auf: »Was soll ich antworten? Oder, wie kann ich antworten, ohne dich zu kränken? Du hast mich daran erinnert, daß ich sechsundzwanzig Jahre bin, hast aber unterlassen, die Konsequenzen aus dem Faktum zu ziehen. Deine Rede war an ein sechzehnjähriges Mädchen gerichtet, das nicht weiß, was es will, und dem man also mit leichter Mühe seine Gedanken und Empfindungen suggerieren kann.«

Der Geheimrat hob den Kopf. »Laß uns abbrechen, Kind!« sagte er freundlich; »du bist erregt, und es ist spät geworden. Wir können ja morgen in aller Ruhe weiter sprechen.«

Er wollte aufstehen; Becky streckte den Arm aus: »Bitte, bleib! Wenn ich doch schon antworten soll, weiß ich heute abend so gut, was ich zu sagen habe, wie ich es morgen wissen werde.«

Der Geheimrat ließ sich wieder in den Sessel zurücksinken; Becky fuhr fort: »Du wünschest, daß ich heirate. Prinzipiell habe ich nichts dagegen, aber natürlich müßte es eine Heirat nach meinem Geschmack sein. Der ist schwer zu befriedigen. Von der Liebe sehe ich ganz ab. Nach meiner Auffassung – um von der physischen Seite zu schweigen, die man ja nicht gern berührt – ist sie seelisch schlechterdings nichts als eine Illusion, die bei mir nicht vierundzwanzig Stunden anhalten würde. Um so größeres Gewicht muß ich auf das legen, was den schwärmerischen Seelen nebensächlich erscheint: auf die äußeren Bedingungen der Ehe. Sie müßten durchaus glänzend sein. Du siehst: ich bin ganz offenherzig. Ich habe allen Respekt vor der Gelehrsamkeit; aber die Frau eines Gelehrten zu sein, und wäre er noch so bedeutend und in seiner Bedeutenheit anerkannt – das würde mir nicht genügen. Mein Leben mit Professorenfrauen hinzubringen, wie die brave Frau Guttmann in Greifswald – es ist mir ein gräßlicher Gedanke. Apropos: darf ich dir gestehen, daß ich wünschte, du hättest die Einladung der kleinen Guttmann auf etwas kürzere Zeit bemessen? Es ist ja soweit ein liebes Ding, aber doch schrecklich unbedeutend, und ich fürchte, sie wird mir nach acht Tagen recht zur Last sein. Das nebenbei. Was ich unter glänzenden Bedingungen verstehe? Einen vornehmen Namen des Mannes, der ihm allein schon seine Stellung in der Gesellschaft sichert. Das ist die Hauptsache. Obligater Reichtum erscheint mir wünschenswert, aber nicht unbedingt notwendig. Ich bin dein einziges Kind, und enterben wirst du mich nicht, auch wenn meine Wahl nicht nach deinem Wunsche ausfällt. Siehst du, Vater, dies Ziel habe ich im Auge gehabt von dem Moment, als ich hierher aufs Land kam. Eine Großgrundbesitzerin! Das war es. Das ist ein Relief, von dem man sich vorteilhafter abhebt, als von jedem anderen. Eine Landwirtin mußte ich natürlich auch werden, ohne das ging es nicht. Schon der Leute wegen. Und dann, so ganz müßig dazusitzen hielte man nicht aus. Aber darin hast du recht gesehen: so viel Spaß, wie anfänglich, macht mir die Sache nicht mehr. Die ewige Wiederholung derselben Dinge fällt einem schließlich auf die Nerven. Und dann: man ermüdet, wenn das Ziel, zu dem man will, immer weiter hinausrückt. Um es kurz zu machen: würdest du sehr unglücklich sein, wenn ich einen vornehmen Herrn, sagen wir: den Grafen Bassedow heiratete?«

»Wenn du was thätest!« rief der Geheimrat.

»Das kann dich doch nicht wunder nehmen nach dem, was ich eben gesagt habe. Ich nahm mit Bestimmtheit an, du habest es vorausgesehen. Mein Zukunftsbild war ja streng nach dem Modell gemalt, das uns vor den Augen steht – mir vor Augen steht, will ich sagen, seitdem vorhin der Arndt ein Bild von ihm gab, das ich nur etwas zu retouchieren brauche, um es meinem Geschmack anzupassen. Und nun weißt du, weshalb mir der Gedanke, der Graf wolle und könne Selchow ohne weiteres zurückkaufen, so abscheulich ist. Denn wenn er es kann, ist es ihm jedenfalls nur durch eine reiche Heirat möglich, die er entweder bereits eingegangen ist, oder demnächst eingehen wird. Das erstere ist nicht wahrscheinlich: wir hätten sicher davon gehört. Auch ist er ja, nach der Aussage von Pasedag, allein gekommen. Also das letztere. Ich brenne darauf, zu erfahren, wie es damit steht. Und da habe ich eine große Bitte an dich. Die Respektsfrist, die er sich kontraktlich ausgemacht hat, ist freilich erst in zwei Wochen abgelaufen. Aber dann bist du nicht hier, und dergleichen macht man immer besser persönlich ab, als durch einen Agenten. Du willst übermorgen fort. So hast du den schicklichsten Vorwand von der Welt, morgen dem Grafen mit einem Besuch zuvorzukommen, vorausgesetzt, daß es überhaupt in seiner Absicht liegt, mir eine Visite abzustatten, was mir noch gar nicht so sicher scheint, wenn ich es recht überlege. Wenigstens wäre er der erste Adelige hier, der es thäte. Ich glaube nicht, daß er Selchow zurücknehmen kann, achthunderttausend Mark sind immerhin nicht so leicht beisammen. Aber vielleicht bietet er eine Anzahlung, und die, meine ich, solltest du annehmen. Wie ungern ich Selchow verlöre – wir können uns nach einer anderen Seite arrondieren; und das Gut scheinbar abtreten, ist möglicherweise das sicherste Mittel, es zurückzugewinnen. Fürchte nicht, daß ich zu den Mädchen gehöre, die sich für einen vornehmen Namen als Sklavinnen verkaufen! Ich werde immer die Herrin bleiben, das schwöre ich dir. Und nun, Vater, bitte ich dich: thue deinem einzigen Kinde seinen Willen, wie du es noch immer gethan hast!«

Die letzten Worte hatten eher wie ein Befehl als wie eine Bitte geklungen, und bittend war der Blick der großen schwarzen Augen nicht, als sie dem Vater jetzt beide Hände entgegenstreckte, die er ergriff und fest hielt, für den Augenblick keines Wortes mächtig. Was sie da von der Liebe und Ehe gesagt – es ging ja alles schnurstracks gegen sein Gefühl, seine Überzeugung. Aber, wie sehr er sich dagegen sträubte, die Kraft ihres Willens, die Schnelligkeit ihres Entschlusses, die Konsequenz ihres Gedankenganges – sie hatten ihm wieder einmal seltsam imponiert. Es kostete ihn den Verzicht auf seinen jahrelang gehegten Lieblingswunsch! Und hätte sie das alte Herz im Leibe von ihm gefordert, würde er es nicht gegeben haben?

Er hatte sich erhoben und legte seine rechte Hand auf das schöne Haupt: »Dein Wille geschehe! Und der Gott unserer Väter segne und behüte dich!«

Ein zärtlicher Kuß in das reiche, blauschwarze Haar. Dann wandte er sich und schritt mit einem leisen: »Gute Nacht!« nach der Thür zum Korridor, durch die er entschwand.

Becky, die sitzen geblieben war, blickte ihm nach. Ein Lächeln des Triumphes glitt über ihr Gesicht: »Der erste Schritt! Das andere wird sich finden!«

* * *


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