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12

Der Geheimrat und Ännchen waren an demselben Tage gekommen; Frau Krafft atmete auf. Ännchen hatte recht: wenn der Geheimrat da ist, scheint die Sonne heller. Wer hätte auch seiner Liebenswürdigkeit widerstehen können? der milden Freundlichkeit seines Wesens, die man so leicht für persönliche Schmeichelei nahm, und die doch nur der natürliche Ausdruck seines wohlwollenden Herzens war? seiner Rede, die unerschöpflich quoll und doch wieder unter Umständen so klug zu schweigen wußte?

So triumphierte Frau Krafft und freute sich im stillen der behaglicheren Stimmung, die mit dem alten Herrn in das Haus gezogen war, und des offenbar vortrefflichen Verhältnisses, das sich sofort zwischen ihm und dem Grafen herausgestellt hatte. Zwar behandelten sie einander mit einer ceremoniellen Höflichkeit, die in Anbetracht des nahen Verhältnisses, in welches die beiden jetzt getreten waren, ein wenig übertrieben schien; nannten sich unweigerlich »Herr Graf« und »Herr Geheimrat«; aber vielleicht gehörte das dazu. Jedenfalls that es der Achtung keinen Eintrag, mit der einer zu dem anderen, einer von dem anderen sprach.

Und auch ihr liebes Ännchen erfüllte die Hoffnungen, die sie auf sie gesetzt, als ein braves Mädchen. Ihr fröhliches Lachen, ihre munteren Augen waren eine Erquickung, für die freilich niemand so dankbar war wie der Geheimrat, der sich fortwährend mit ihr auf das lustigste neckte, wie mit einem lieben Enkelkinde. Auch wurde jetzt wieder Musik gemacht, die während der ganzen letzten Zeit geschwiegen hatte. Ännchen sang mit ihrer süßen Stimme ihre kleinen Lieder oder mußte dem Geheimrat seine Lieblingsstücke spielen: aus dem Tannhäuser, der Walküre, Beethovensche, Schubertsche Sonaten. Der Graf sagte: ihr Singen sei ihm wie das der Vögel in seinem Selchower Park; und wenn er auch einräumte, daß er von der großen Musik nichts verstehe, hörte er doch andächtig zu mit halbgeschlossenen Augen, die er nur zuweilen öffnete, um Becky anzulächeln. Sie erwiderte das wohl, aber Frau Krafft meinte, ihr Lächeln habe stets etwas Gezwungenes.

Ganz war die Spannung aus der Atmosphäre denn doch nicht gewichen.

Ob es in der größeren Gesellschaft der Fall sein würde, die sich plötzlich – im Verlauf weniger Tage – in dem Hause zusammenfand?

*

Zuerst war Professor Rehfeld gekommen. Er hatte zum Herbst eine der Hauptprofessuren seines Faches in Berlin angenommen; die Vorlesungen in Erlangen aber schon jetzt abgebrochen, weil er die Neueinrichtungen persönlich überwachen mußte, die auf seinen Wunsch in dem Berliner Institut vorgenommen werden sollten. Von Berlin hatte er zu seiner Erholung einen Abstecher nach Rügen machen wollen; in Greifswald aber erfahren, daß sein verehrter Freund und Lehrer in der unmittelbaren Nähe auf Polchow bei seiner Tochter weile; und dem Verlangen nicht widerstehen können, ihn zu begrüßen und Becky zu ihrer Verlobung zu gratulieren. Becky hatte über sein Kommen eine Freude an den Tag gelegt, die Frau Krafft, welche ungefähr wußte, wie es mit den beiden vordem gestanden, etwas stark übertrieben vorkam.

Dann war, längst herbeigewünscht und erwartet, der Architekt eingetroffen: Herr Loßberg, ein noch jüngerer, sehr eleganter Mann von gefälligen Umgangsformen, wie Becky wiederholt in seiner Abwesenheit, aber in des Grafen Gegenwart versicherte mit einer Beflissenheit, die wiederum Frau Krafft mindestens überflüssig schien, da jeder die Entdeckung auch ohne das machte. Herr Loßberg wurde ebenfalls in Polchow einquartiert. Im Selchower Schloß gab es keine Gastzimmer; und die Entfernung zwischen den beiden Gütern spielte keine Rolle. Stand doch eine von Beckys Equipagen stets zur Verfügung, und der Graf hatte noch immer seinen Greifswalder Mietwagen. Herr Loßberg fuhr meistens nach dem Frühstück hinüber und kam mit dem Grafen zum Diner zurück, das – für ländliche Verhältnisse etwas spät – um sechs Uhr stattfand, damit die Herren drüben für ihre Arbeiten die nötige Zeit hätten. Beckys Interesse an der Schloßeinrichtung äußerte sich nur noch gelegentlich; auch an die Kopie der Madonna wurde nicht mehr gedacht. Ihr ganzes Interesse schien sie auf ihre Gäste zu konzentrieren.

Es war, als ob sie deren nicht genug haben könne.

Doktor Erich Krafft hatte kaum auf Polchow einen Besuch gemacht, um ein paar Stunden mit seiner Mutter zu verbringen und sich dem Geheimrat, besonders auch Professor Rehfeld vorzustellen, der sich lebhaft für ihn interessierte, als Becky fand, daß es mit der kurzen Visite unmöglich abgethan sein könne und der Doktor unbedingt auf längere Zeit herüber kommen müsse. Erich sagte mit Freuden zu und meldete sich bereits am folgenden Tage – nun als Logierbesuch. Alle freuten sich der Erscheinung des blonden jungen Recken mit den großen blauen leuchtenden Augen seiner Mutter, der sich nicht nur mit dem Geheimrat streng wissenschaftlich unterhalten, sondern auch vortrefflich Klavier spielen konnte, über einen umfangreichen, höchst wohllautenden Bariton verfügte und zu jedem Scherz allezeit aufgelegt war. Nur seine Mutter, so lieb sie ihren großen Jungen hatte, schüttelte heimlich den Kopf. Diese, Beckys sonstigen Gewohnheiten völlig widersprechende Sucht, sich mit einer großen Gesellschaft zu umgeben, immer neue Menschen heranzuziehen, mißfiel ihr durchaus. Und sie erschrak ernstlich, als Becky bereits nach wenigen Tagen abermals einen Gast heranschleppte, obgleich es ein bildhübsches, schlankes, braunäugiges Mädchen war: Fräulein Josephine Sarosch, Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts in Greifswald. Becky kannte die Familie, da der Rechtsanwalt schon immer ihre juridischen Interessen vertreten hatte und man ihn jetzt mit der Abfassung des Ehekontraktes betrauen wollte. Als sie gestern, Einkäufe zu machen, in der Stadt gewesen war, hatte sie auch in dem Saroschschen Hause vorgesprochen und Josephine ihr wieder einmal so gefallen, daß sie durchaus die junge Dame mit nach Polchow nehmen mußte.

So versammelte denn die Mittagstafel jetzt für gewöhnlich nicht weniger als zwölf Personen, von denen, wollte man auch den Geheimrat und den Grafen nicht mitrechnen, fünf wirkliche Gäste waren. Frau Krafft, auf der die ganze Last der Wirtschaft lag, hatte vom frühen Morgen bis in den späten Abend zu schaffen. An den gesellschaftlichen Vergnügungen konnte sie kaum einen Anteil nehmen; selbst die Erholung eines abendlichen Plauderstündchens mit ihrem lieben Ännchen hatte sie sich noch nicht einmal gönnen können.

Aber ihre großen Augen hatte sie trotzdem weit offen und sah mit ihnen so ziemlich alles, was um sie herum vorging.

Worunter denn so manches war, was ihrer Lachlust ergiebigen Stoff geboten hätte, wäre da nicht anderes gewesen, das den Frohsinn ihrer Seele in trüben Ernst verkehrte.

*

Das schönste Sommerwetter begünstigte den Aufenthalt im Freien, der denn auch von der Gesellschaft gründlich ausgekostet wurde. Die prächtigen Gartenanlagen mit ihren schattenspendenden Bosketts, den in Blumenschmuck herrlich prangenden Beeten, den sorgsam gepflegten glatten Wegen luden zum Spazierengehen und Herumschlendern ein. Für weitere Ausflüge nach dem nahen Süderholz, einem ausgedehnten Walde hochstämmiger Tannen, dem etwas entfernteren Norderholz, in welchem Buchen und Erlen vorherrschten, standen die Wagen stets bereit. Da jeder der beiden Wälder seine besonderen Reize und ebenso in der Gesellschaft Liebhaber hatte und man sich doch nicht trennen wollte, wurde für den einen oder den anderen die Wahl durch das Los getroffen. Es fiel so oft auf das Süderholz, daß die Bewunderer des Norderholzes behaupteten: dies gehe nicht mit rechten Dingen zu, es müsse Mogelei im Spiel sein. Und dann lenke sich der Verdacht auf den Professor Rehfeld und Ännchen, die notorisch für den Tannenwald schwärmten, weil er ihnen die bessere Gelegenheit biete, sich zum scheinbaren Zweck des Erdbeerensammelns von der Gesellschaft zu absentieren.

Bei solchen Neckereien pflegte Ännchen sehr rot zu werden und in großen Zorn zu geraten; der Professor ertrug sie mit bestem Humor. Seine einstige glühende Leidenschaft für Becky hatte freilich wieder aufflammen wollen, als er sie jetzt wiedersah. Das hatte doch eigentlich nur ein paar Stunden gewährt. Die inzwischen verflossenen Jahre hatten ihn längst zum Manne gereift; er sah sie nun mit anderen Augen; und sie war ja auch eine andere geworden: aus dem Mädchen von sechzehn eines von sechsundzwanzig, noch immer wundersam schön, aber von einer Schönheit, die ihn nicht mehr berauschte, eher erkaltete. Oder hatten damals schon ihre Augen diesen starren, weltfremden Blick gehabt, der ihn an ein bedeutendes Wort Homers erinnerte: daß die Augen der Götter nicht blinken könnten? damals schon ihr Lächeln diesen hochmütigen Ausdruck? ihre Stimme diesen seltsamen, sein Ohr befremdenden halb müden, halb aufgeregten Klang? Nein! sie möchte einmal eine ganz leidliche Gräfin abgeben; als Professorenfrau wäre sie unleidlich, unmöglich gewesen.

Und nun hatten sich, wie durch den vollkommenen Gegensatz magnetisch angezogen, seine Augen von der unheimlichen Schönheit Beckys zu der freundlichen Erscheinung Ännchens gewandt. Schön fand er sie gerade nicht – aber er wußte, daß er selbst für seine Häßlichkeit sprichwörtlich war. Geistreich ebensowenig – er glaubte in diesem Punkte die Kosten der ehelichen Campagne selbst tragen zu können. Daß Kollege Guttmann in Greifswald Schätze, die Rost und Motten fressen konnten, nicht besaß, war ihm nicht unbekannt. Dafür stammte er aus einem mehr als wohlhabenden Hause, und auch ohne das war durch die Stellung in Berlin seine Zukunft völlig gesichert.

So denn hatte er beschlossen, daß Ännchen Guttmann, die in ihrer holden Unschuld den Lilien auf dem Felde und in ihrer naiven Sorglosigkeit den Vögeln glich, die nicht säen und ernten, noch in die Scheunen sammeln, seine Frau werden müsse.

Ännchen ihrerseits hatte freilich ihrer mütterlichen Freundin im Vertrauen mitgeteilt: der Professor Rehfeld sei der häßlichste Mann, den sie im Leben gesehen, was sie aber in keiner Weise hinderte, an seiner Gesellschaft und Unterhaltung großen Geschmack zu finden, bis sich die beiden den Spitznamen der Inséparables redlich verdient hatten. Der Geheimrat erklärte, eine solche Treulosigkeit nicht für möglich gehalten zu haben und sich genötigt zu sehen, Goethescher Weisheit die Ehre gebend, »ein für allemal zu resignieren«.

Niemand war deshalb verwundert, als auf einem Ausfluge nach ihrem geliebten Süderholz die Inséparables, die wieder einmal Erdbeeren suchen gegangen waren, von der Gesellschaft längere Zeit unisono vergeblich gerufen, endlich Hand in Hand zwischen den mächtigen Stämmen hervortraten und sich als Verlobte vorstellten.

*

Ein zweites Paar hatte seine Absichten besser zu verbergen gewußt: Frau Kraffts reckenhafter blonder Sohn und das schlanke, dunkeläugige Greifswalder Advokatenkind. Nur den Mutteraugen waren die heißen Blicke nicht entgangen, die sie miteinander austauschten, sobald sie es verstohlen thun zu können glaubten, und der seltsame Umstand, daß die beiden auf den abendlichen Spaziergängen sich unweigerlich zusammenfanden. Sie hatte sich die Sache nach allen Seiten überlegt und war zu dem Entschluß gekommen, das keimende Verhältnis zwar nicht zu begünstigen, ihm aber auch nicht hinderlich zu sein. Die Schönheit und das anmutige Wesen des jungen Mädchens hatten es auch ihr angethan; sie sagte bei sich: ich kann es dem Jungen nicht verdenken. Er war freilich noch reichlich jung, ihr Junge; aber geheiratet brauchte ja so bald nicht zu werden: in ein paar Jahren, wenn die Assistentenstelle, die Professor Rehfeld ihm an seinem neuen Institut angeboten, zu Ende ging und er Dozent wurde oder richtig in die Praxis kam. Ein unverheirateter junger Arzt hat immer einen schweren Stand. Ihr Junge war in jeder Hinsicht ein tüchtiger Mensch; weshalb sollten ihm Josephinens sehr wohlhabende Eltern die Tochter verweigern?

*

Es war am Abend der Verlobung Rehfelds und Ännchens. Die Nachmittagspartie nach dem Süderholz, unter dessen Tannen sie sich gefunden, war so früh beendigt gewesen, daß auf den Wunsch des Geheimrats und des liebenden Pärchens noch ein Wagen in die Stadt geschickt werden konnte, der die Eltern nach Polchow brachte. Das um eine Stunde hinausgeschobene Diner war sehr glänzend und sehr heiter verlaufen. Des Champagners hatte man nicht geschont. Die drei Professoren hatten geredet, einer immer besser als der andere. Jetzt waren Guttmanns auf dem Rückwege nach der Stadt, wohin ihnen die Verlobten morgen folgen sollten. Die Mondscheinnacht war zu schön, und die Gemüter zu erregt, als daß man hätte zu Bett gehen mögen. Der Graf wollte für die Nacht in Polchow bleiben, wie er es ausnahmsweise manchmal that. Man saß plaudernd auf der Terrasse, stieg auch wohl die Stufen hinab und promenierte um den Schwanenteich, auch weiter in die Gartengänge.

Frau Krafft, die ihr mühsames Tagewerk hinter sich hatte, war aus den Wirtschaftsräumen, wo sie ihre letzten Anordnungen getroffen, ebenfalls in den Garten gegangen, wo sie in den vom Hause entfernten Partien auf und nieder wandelte, den etwas heißen Kopf kühlend und ihren Gedanken nachhängend, die wieder einmal den »Kindern« galten, deren Verhalten heut abend bei Tisch ihren Verdacht zur Gewißheit gebracht hatte. Wie der Junge sie mit den Augen verschlang, daß er darüber essen und trinken vergaß! Na, und ihre Augen! schön sind sie. Das weiß Gott. Wenn ich der Junge wäre –

Frau Krafft mußte, den unmöglichen Fall ruhig zu überlegen, sich auf ein Bänkchen setzen, das in der Tiefe des nicht eben breiten Buchenganges stand, der in seiner ganzen Länge vom Mond hell beschienen war. Sie hatte das kaum gethan, als sie, in der Richtung vom Schwanenteich her, ein Paar in den Gang treten sah, das sie im ersten Moment für ihren Erich und die schöne Josephine hielt, aber im zweiten als Professor Rehfeld und Ännchen erkannte. Na, da wollte sie nicht stören. Und ein bißchen ärgerlich war sie auf ihr liebes Ännchen doch, daß sie das kleine Herzchen an den Professor weggegeben hatte, ohne die alte Freundin auch nur einmal zu fragen. Ihr Geschmack war der gelehrte Herr eigentlich nicht. Bemerkt von den beiden konnte sie noch nicht sein: sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Und die Bank stand in dem schmalen, aber tiefen Schlagschatten der Laubwand. Einer Regung folgend, die ihr selbst etwas wunderlich vorkam, war sie in das dichte Gebüsch geschlüpft, durch welches man nach wenigen Schritten auf eine kleine Wiese gelangte, über die, parallel mit dem Laubgange, ein Pfad zu den Wirtschaftsgebäuden führte.

Eine Minute später saßen Professor Rehfeld und Ännchen auf der Bank. Er hatte den linken Arm um den zarten Leib seiner Braut geschlungen; sie lehnte den Kopf an seine Schulter.

»O, wie schön ist es hier!«

»Ein Stück Sommernachtstraum. Geliebtes Mädchen!«

»Liebst du mich wirklich?«

»Professoren dürfen nur die Wahrheit sagen. Das bringt ihr Metier mit sich.«

»Dann sage mir: warum du mich liebst!«

»Kind, das ist eine Doktorfrage.«

»Was ist das?«

»Eine Professortochter und weiß das nicht! Eine Doktorfrage ist, worauf der Examinator den Examinanden reinfallen läßt und der Ärmste reinfallen muß, weil er selbst sie nicht beantworten könnte, wenn man sie ihm vorlegte. Weißt du denn, warum du mich liebst?«

»O ja! Weil du ein so guter und kluger Mann bist.«

»Wollen mal annehmen, ich wäre es. Aber wenn ein Mädchen alle guten und klugen Männer, die ihr über den Weg laufen, lieben wollte, hätte sie ein bißchen viel zu thun. ergo: das ist keine Erklärung, jedenfalls kein zureichender Grund. Sieh, Kind, mit der Liebe ist es wie mit gewissen Sätzen der Mathematik, die man Grundsätze nennt, weil sie einem jeden ohne Beweis einleuchten. Zum Beispiel: jede Größe ist sich selbst gleich. So kann man in der Liebe auch nur sagen: ich liebe dich, weil ich dich liebe.«

Und der Professor zog das geliebte Mädchen noch näher an sich und küßte es herzhaft.

»Was hast du?« fragte er, als er fühlte, daß Ännchen seine Zärtlichkeit nur lau erwiderte.

»Ach, nichts!«

»Du hast etwas. Heraus mit der Sprache!«

»Willst du mir auch ehrlich antworten?«

»Das wird ja ganz feierlich. Also: was ist es?«

»Hast du Becky nicht einmal geliebt?«

Der Professor lachte ein etwas gezwungenes Lachen.

»Wenn ich das nicht gedacht habe!«

»Du lachst mich immer aus, wenn ich einmal etwas ernsthaft frage. Das ist gar nicht hübsch von dir.«

»Du hast recht: es ist nicht hübsch von mir und soll nicht wieder geschehen. Aber wie kommst du nur darauf?«

»Ach, Papa hat einmal – als wir uns noch nicht kannten – so was angedeutet. Er hat es wohl von dem alten Geheimrat– sie sind ja so gute Freunde! Und als du kamst – in den ersten Tagen –, da hattest du nur Augen für sie – denkst du, das hätte ich nicht gesehen? Und überhaupt, ich meine: sie ist so wunderschön, daß jeder Mann sich in sie verlieben muß. Noch dazu vor zehn oder zwölf Jahren, als du in Bonn Assistenzarzt auf der Klinik bei dem Geheimrat warst und gewiß täglich in das Haus kamst, und sie womöglich noch schöner gewesen ist als heute.«

»Da hätten wir ja den famosesten Indicienbeweis,« sagte der Professor. »Sieh! sieh! Dieser kleine Staatsanwalt! Na, ich sehe schon: Winkelzüge machen nützt hier nichts. Also sanft und keck, wie der junge Edelknecht in Schillers Taucher: Ja, ich habe Becky Lombard geliebt – ganz furchtbar. Und einen dicken Stoß Gedichte auf sie gemacht – die waren noch viel furchtbarer. Und wenn sie mich damals hätte haben wollen, hätte ich sie mit Wonne geheiratet. Das versteht sich. Und wäre jetzt der unglücklichste Mann unter der Sonne. Notabene: wenn wir noch beisammen wären, was aber äußerst unwahrscheinlich ist. Tausend gegen eins: wir hätten uns längst adieu gesagt – auf Nimmerwiedersehen.«

Der Professor hatte seine Absicht, die Sache scherzhaft zu nehmen, doch nicht ganz durchführen können. Der erregte Ton, in welchem er die letzten Worte gesprochen, verriet es zu deutlich. Für Ännchen bedurfte es nicht mehr, um sich sofort ihrer eifersüchtigen Regung zu schämen und in Mitleid für ihre angebetete Freundin aufzugehen.

»Ach, Emil, wie unglücklich muß sie sein, wenn du meinst, daß sie nicht einmal mit dir hätte glücklich werden können!«

»Danke für das Kompliment,« sagte der Professor, ihr die Hand küssend. »Mit mir nicht glücklich zu werden, wäre allerdings das non plus ultra von Verstocktheit. Hier liegt der Fall freilich so, daß Becky Lombard mit keinem Mann glücklich werden kann, er sei auch, wer er sei.«

»Das wäre ja schrecklich!«

»Freilich ist es das, aber es ist leider so. Das dunkle Gefühl habe ich immer gehabt; der Aufenthalt hier hat mich vollends überzeugt: die unglückselige Anlage – die Anlage zur Unglückseligkeit, die sie wohl mit auf die Welt gebracht, und der verzwickte Gang, den ihre Bildung genommen, so schauerlich begünstigt hat, ist inzwischen zur Perfektion gediehen.«

»Aber wieso denn? warum denn?« rief Ännchen. »Sie ist doch so klug! Und sie ist immer so gut zu mir gewesen!«

»Weil du, ihr nirgend im Wege standest, liebes Kind. Stell dich ihr in den Weg und sieh zu, was dann geschieht! In welchen Weg, wirst du fragen. Ja, das ist schwer zu sagen. Vermutlich kann sie sich selbst keine Rechenschaft davon geben. So viel ist sicher: nun und nimmer wird sie jemand über sich dulden. Der bloße Gedanke, es könnte einer den Anspruch darauf erheben – und selbst das ist nicht einmal nötig: nur die Vorstellung der Möglichkeit, es könnte ihr jemand über den Kopf wachsen, ihr dominieren, ihren Eigenwillen brechen, sie in ihrer Selbstherrlichkeit demütigen, bringt sie außer sich. Das ausgeprägteste Bild und Beispiel der Krankheit unserer Zeit, in der die alten Götter gestorben sind und der Mensch, weil er einmal ohne einen Gott nicht leben kann, sich selbst dafür nimmt. Bis der Fall, der hinter dem Hochmut kommt, eintritt und natürlich um so tiefer ist, je höher die Verstiegenheit war. Unsere Irrenhäuser –«

Er brach plötzlich ab. Wie steckte ihm der Professor doch im Leibe! Wie durfte er dem guten, harmlosen Kinde von so tristen Dingen sprechen!

Aber er war bereits zu weit gegangen.

»Ach, sage doch nur so was nicht!« rief Ännchen. »Davon hat auch schon der Papa einmal mit der Mama gesprochen. Er wußte nicht, daß ich im Nebenzimmer war und alles hörte. Nein, nein! daran glaube ich nicht.«

»Und hast vielleicht recht,« sagte der Professor einlenkend. »Specialisten, wie dein Vater, sehen immer schwarz. Übrigens pflegt das Unglück nur solche zu treffen, die bei der Rechnung ihr im Grunde gutes und weiches Herz vergessen hatten. Die keines haben, dafür aber eiserne Willenskraft, die gelangen endlich etwa nach St. Helena, aber nicht nach Bedlam. So möchte ich denn, Becky hätte keins. Das heißt: eigentlich spreche ich es ihr ab; aber es kommt vor, daß einer es sich selbst abspricht und es in einem sehr ungelegenen Augenblicke entdeckt, was sehr böse, verhängnisvolle Folgen für ihn haben kann. – Komm, Kind, wir müssen zurück; wir dürfen mit unserem Verlobtenprivileg keinen Mißbrauch treiben. Es fängt auch an, kühl zu werden; und du bist leicht gekleidet.«

Er hatte sie von der Bank mit sich emporgezogen.

»Wenn du sagst, sie kann mit keinem Mann glücklich werden,« begann Ännchen von neuem, »kann sie's doch auch mit dem Grafen nicht. Und er nicht mit ihr.«

»Liebes Kind, von allen Geschäften, die nicht rentieren, ist das unrentabelste, sich die Köpfe anderer Leute zu zerbrechen. Helfen kann da keiner. Und dann – Glück! Das ist so relativ. Wobei der eine verhungern würde, lebt der andere ganz –«

Schon die letzten Worte der sich langsam Entfernenden hatte Frau Krafft undeutlich gehört; jetzt vernahm sie nur noch ein Gemurmel, das dann vollends verstummte.

Sie war, nachdem sie kaum zwei Schritte in das Boskett hineingethan, an einem Dornbusch mit ihrem Kleide hängen geblieben. Während sie sich mühte, es loszulösen, ohne es zu zerreißen, war das Brautpaar bis zur Bank gelangt und hatte sein Gespräch fortgesetzt. Nun war es zu spät gewesen: sobald sie sich rührte, hätte sie sich verraten. Da hatte sie denn, halb ärgerlich, halb amüsiert über die ihr aufgezwungene Rolle des Lauschers an der Wand, still gehalten, erleichtert aufatmend, als die mißliche Situation endlich ein Ende nahm und sie sich frei machen durfte.

Von allem, was die Liebesleute gesprochen, hatte sie nur der Schluß schmerzlich interessiert.

Ja, ja! Helfen konnte da keiner. Und auch darin Hatte der Professor recht: es kann furchtbar werden, wenn einer sein Herz im ungelegenen Augenblicke entdeckt. Aber auch ohne das war das Unglück groß genug. Für beide; und der Graf war noch mehr zu bedauern als sie. Da konnte nur eines Rettung bringen: sie, die nie hätten zusammenkommen sollen, trennten sich, je eher, je lieber. Und das wollte sie ihr sagen bei nächster Gelegenheit, mochte sie es nehmen, wie sie wollte.

So sinnend, grübelnd, schweren Herzens schritt Frau Krafft den mondbeschienenen Weg, den sie gekommen war, durch den schweigenden Park zurück.

*

Als die Liebenden wieder zur Terrasse kamen fanden sie die Gesellschaft im Aufbruch. Der Geheimrat empfahl sich allerseits; die beiden jungen Mädchen huschten hinter ihm her, Arm in Arm; Professor Rehfeld, Erich und der Architekt machten ihre Verbeugungen; der Graf war im Begriff, ihnen zu folgen.

»Du willst auch schon fort?« sagte Becky.

»Ich dachte, wir gingen alle,« erwiderte der Graf. »Offen gestanden: ich habe eine starke Migräne.«

»Hast du die nicht immer, wenn wir anderen ausnahmsweise einmal miteinander vergnügt sind?«

»Verzeihe, wenn ich diese Bemerkung nicht ganz so korrekt finde, wie ich es sonst an dir gewohnt bin!«

Der Graf hatte ihr die Hand geküßt und verschwand in der offenen Thür zum Salon, aus dem das Licht der Lampen über Becky fiel, die unbeweglich stand, düster vor sich hinstarrend.

Auf der Terrasse hinter ihr regte es sich – die Diener jedenfalls, die aufzuräumen kamen. Plötzlich fühlte sie sich von hinten an der herabhängenden Hand ergriffen und sah, sich wendend, Wladimir, auf den Knien liegend, die Hand, die er festhielt, mit Küssen bedeckend.

»Sind Sie toll geworden?«

»Ich bin es längst!« murmelte er. »Ich liebe Sie! tausendmal mehr als der andere. Jetzt können Sie mich fortjagen.«

Er war aufgesprungen und stürzte durch den Salon davon.

Becky blickte ihm nach. Ein höhnisches Lächeln krauste ihre Lippen.

Wenn sie den gegen den anderen ausspielte! Die Schmach, sich den windigen Gesellen vorgezogen zu sehen, den er offenbar so tief verachtete, würde ihn treffen mitten ins stolze Herz.

Sie hatte sich in einen der herumstehenden Lehnsessel geworfen und brütete vor sich hin.

»Den würde ich beherrschen; er würde mein Sklave sein. Nur daß es sich solcher Herrschaft nicht verlohnt; nur daß solche Sklaven zu billig sind. Und welcher Mann ist denn wert, daß man ihn unterjocht! Wie oft habe ich das Thema mit Marie durchsprochen! Wie geschwisterlich fanden sich unsere Seelen in derselben Überzeugung! Elende Sklaven sie alle; Sklaven ihrer Sinnlichkeit, Sklaven ihrer Eitelkeit, Sklaven der Vorurteile, mit denen sie groß gezogen, des Standes, in den sie hineingeboren, des Amtes, in das sie zufällig geraten sind! Keiner von ihnen wagt, er selbst zu sein; keiner glaubt ehrlich an sich selbst. Jeder spielt Komödie, wo er geht und steht; wägt seine Worte, kontrolliert seine Mienen, seine Haltung, schielt nach dem anderen, ob der gewünschte Eindruck auch nicht ausbleibt, wie der andere wieder nach ihm schielt! Schamlose Betrüger, einer wie der andere! Rehfeld! ›Ein Israelit, in dem kein Falsch; der, wie treu in allem, so auch in der Liebe.‹ Ist es nicht zum Lachen? Dieser Mensch hat mich angebetet, hat geschworen: ich sei das einzige Weib auf Erden, für das man leben und sterben dürfe; und er müsse sterben, wenn ich ihn nicht erhörte – jetzt wagt er vor meinen Augen, sich in ein Ännchen zu verlieben, diese Puppe, diese Alltagsphrase, diese personificierte Banalität! Das brächte der Graf nicht fertig; der nicht. Er würde nach mir nie eine andere lieben. Manche würde sich damit begnügen. Ich kann es nicht. Nein! und tausendmal nein! Er oder ich! Hier ist der Kampf, den Mann und Weib gekämpft, seitdem es Menschen giebt. Hier ist die Entscheidung: ist er der Mann der Männer – wohl, so will ich – nein! so bin ich das Weib der Weiber. Ich will es ihm, ich will es der Welt beweisen. Eine Königin hätte es leichter als die Enkelin des armen Rabbiners. Gleichviel! um so glänzender ist der Beweis. Und ich werde ihn führen, mein Herr Graf. Ich werde ihn führen. Ich werde –

Plötzlich vor ihrem inneren Auge – deutlich wie eben noch vor ihrem leiblichen – stand er, den sie im Geist unter ihre Füße trat: hoch aufgerichtet mit dem kummervollen Blick der klaren Augen, sehr blaß, während sonst das Gesicht die gewohnte vornehme Ruhe bewahrte, trübe lächelnd, als sie sich jetzt an seine Brust warf, ihn mit beiden Armen umschlingend: Verzeihe mir! Ich muß dir ja wehe thun, weil ich mich nur so vor meiner Liebe retten –

Die Vision war verschwunden. Sie wollte lachen über das tolle Bild. Es kam nur zu einem krampfhaften Zucken ihrer Mundwinkel. Ein kalter Schauer rieselte ihr den Rücken hinab.

Es ist die Nachtkühle, murmelte sie. Ich werde mich erkälten –

Aber sie stand nicht auf. Sie saß so weiter, vor sich hinbrütend.

Wenn das jemand wüßte – wenn es wirklich so weit käme – aber das kann es ja nicht – ich müßte vorher wahnsinnig – oder würde es hinterher –

»Sollen wir mit dem Lampenauslöschen noch warten, gnädiges Fräulein?«

Es war einer von den beiden Dienern, die im Speisesaal abgeräumt hatten, und jetzt durch den Salon auf die Terrasse gekommen waren, verwundert, die Gnädige, die sie längst mit der übrigen Gesellschaft zu Bett glaubten, dort noch sitzend zu finden. Es waren schon ein paar Minuten verstrichen, seitdem sie da gestanden, wartend, daß die Gnädige aufbrechen würde. Endlich hatte sich Karl das Herz gefaßt und war an sie herangetreten.

Sie richtete den Kopf empor und starrte den Mann so seltsam an, daß er unwillkürlich einen Schritt zurückwich; strich sich ein paarmal über die Stirn, blickte um sich, als müßte sie sich besinnen, wo sie sei; erhob sich und schritt zwischen den beiden Leuten davon, hoch aufgerichtet, sehr blaß, mit zuckenden Lippen, und Augen, die trotz der halbgesenkten Lider unheimlich funkelten.

»Das war aber kurios,« sagte Karl.

Philipp zuckte gleichmütig die Achseln.

»Du, ich glaube: sie schnappt noch mal über.«

»Habe ich schon lange gedacht.«

*

Auf sein Zimmer gelangt, begann der Graf mit großen Schritten auf und ab zu gehen, von Zeit zu Zeit: »Ruhig! ruhig!« zu sich sagend, in demselben Tone, in welchem er sonst zu seinem Chargepferd Robin gesprochen, der ein ganz vernünftiges Tier gewesen war, dann aber auch einmal recht bedenkliche Mucken hatte.

Durfte er sich das bieten lassen? Und der Ton, in dem sie es gesagt! und der Blick dazu! und die Hand, die sich so zögernd, so kühl, so gleichgültig in die seine legte, als er nach ihr griff! Immer Migräne? Zum Donnerwetter, wann hatte er denn vorher welche gehabt? Nicht ein einziges Mal! Wie konnte sie so etwas behaupten? Und heute abend hatte er wirklich Migräne; oder, wenn es keine war, so wußte er doch keinen anderen Namen für dieses niederträchtige, katzenjämmerliche Gefühl, als ob man schlechten Sekt getrunken; als ob – ah!

Er blieb stehen; machte dann ein paar kürzere Schritte und blieb wieder stehen.

Vielleicht hatte sie auch etwas ganz anderes gemeint mit ihrem »immer Migräne«. Gemeint, daß er sich nicht genug zusammennehme; sich zu deutlich merken lasse, wie unbehaglich er sich in dieser Gesellschaft fühle; wie grausam er sich bei diesen Gesprächen langweile! Aber, zum Henker, wie sollte er sich denn nicht langweilen, wenn sie fortwährend über Dinge sprachen, von denen er kein Sterbenswort verstand! Erbliche Belastung! Na, da wußte man doch noch ungefähr, wo und wie, wenn die vielen gelehrten Namen auch sehr überflüssig waren. Aber zum Beispiel heute abend eine geschlagene Stunde lang – Ibsen! Er hatte von dem Kerl nie ein Stück gesehen, nie eine Zeile gelesen. Immer nur gehört, er sei ein völlig verdrehter Knopf und bodenlos unmoralisch dazu. Was ging es ihn an? Und ob »Wildente« – oder wie das Zeugs hieß – ein Fortschritt oder Rückschritt sei? Was ging diese Herren es an? Sie waren doch Mediziner, Doktoren, Professoren. Weshalb bekümmerten sie sich um die Litteratur, um das Theater, als ob sie auf der Gotteswelt weiter nichts zu thun hätten? Um tausend andere Dinge, die nicht in ihr Fach schlugen: Politik, Nationalökonomie – weiß der Teufel, was alles. Und konnten darüber sprechen wie ein Buch! Und sich streiten, daß sie faktisch rote Köpfe bekamen! Nicht die blasse Bohne verstand er von dem ganzen Kram. Aber hatte er denn das jemals prätendiert? Nicht immer gesagt, er sei ein einfacher Soldat – rien de plus? Wie konnte sie denn plötzlich verlangen, daß ihm diese Sachen Spaß machten! er keine Langeweile dabei empfand? und man ihm die Langeweile von dem Gesichte absah? Er war in einer Gesellschaft, in die er nicht gehörte – voilà tout!

Aber sie gehörte hinein! Das war die andere Seite von der Medaille. Sie lebte und webte in diesen Dingen; fühlte sich wohlig in dieser Umgebung, bei diesen Gesprächen, gerade so, wie eine Offizierdame unter Offizieren, wenn die ihre Angelegenheiten verhandeln. Dann mußte er sich doch bei Gott fragen: welche wirkliche Gemeinschaft, gegenseitiges Verständnis, Interesse, oder wie man es nennen wollte, existierte zwischen ihr und ihm? Wie war auf die Dauer ein behagliches Zusammenleben möglich zwischen zwei Personen, von denen die Gedanken der einen nach rechts marschierten, die der anderen nach links, so daß die Distance mit jedem Tage größer werden mußte? War da das einzig richtige Commando nicht: embarquement! wie damals in Ouchy?

Er ließ sich in die Ecke des Sofas fallen und stierte in die Flammen der beiden Wachskerzen, die auf dem Tische brannten und sich in dem leisen Nachtzug, der durch das offene Fenster vom Garten hereinkam, hin und her bewegten.

O ja! wenn er sie nicht so geliebt hätte! nicht noch so grenzenlos liebte! Daß er nicht mehr der Kurt Bassedow von früher; daß er ihr Sklave war, mit dem sie machen konnte, was sie wollte! Und sie mußte ihn doch auch einmal geliebt haben! Welchen Grund in der Welt hätte die Millionärin gehabt, sich den armen Teufel auszusuchen? Und ein Mädchen wie sie, das ist doch keine Wetterfahne! Ja, ja! es konnte nicht anders sein: sie zürnte ihm, weil er sich nicht wohl fühlte unter ihren Leuten!

Mit einem Ruck fuhr er in die Höhe, vom Sofa auf. Aber es war doch so, und das Hin- und Herlaufen änderte nichts daran: unter ihren Leuten! den Leuten des Stammes, dessen Kind sie war, dessen Sprache sie sprach, dessen Gedanken und Empfindungen ihre Gedanken und Empfindungen waren; gerade, wie ihre Schönheit! Sie war viel, viel schöner als Josephine Sarosch – gewiß! Aber war es nicht derselbe Typ? dieselbe Farbe des Haares und der Augen? dieselbe, leis ins Gelbliche spielende Elfenbeinfarbe des Teints? dieselben satten Körperformen? dieselben vollen roten Lippen? Er hatte in Paris einmal, wahrscheinlich durch den Titel angelockt, Michelets l'amour gelesen. Das Buch hatte ihn gründlich gelangweilt. Nur eines war ihm im Gedächtnis geblieben, weil er darüber hatte lachen müssen, und gerade an dies eine mußte er sich jetzt erinnern. Der Autor riet den jungen Leuten, die sich in eine Ausländerin verliebt hatten und sie für ein Phänomen und Unikum hielten, schleunig in die Heimat der Schönen zu reisen. Da würden sie finden, daß Hunderte von Mädchen dieselben göttlichen schwarzen oder blauen Augen hätten; dieselbe anmutige Sprechweise, dieselben Gesten und Bewegungen; und alles, was er für individuell gehalten und als solches bewundert und angebetet, Eigentum der Rasse sei. Hier der jüdischen. Er hatte sie nie gekannt, die Rasse; jetzt hatte er sie kennen gelernt: ihre Weiber und Männer. Der alte Geheimrat! Na ja! er war in seiner Weise wirklich ein vortrefflicher Herr, wenn er auch den Typ nicht ganz verleugnen konnte. Aber dieser Professor Rehfeld! Auch ein grundgelehrter Herr, aber konnte es etwas Häßlicheres geben! Und das hübsche, nette Ding, das Ännchen, sollte sich in den Menschen verliebt haben? Pah! Der Mann war eine glänzende Partie für das arme Professorenkind. So? Und arme Grafen? Was thun die? Es war schon zum Verrücktwerden. Einen Freund! einen Freund, gegen den man sich hätte aussprechen können! Die Last heruntersprechen können, die nun schon tagelang, wochenlang auf das Herz drückte! Aber er hatte ja nie einen gehabt, außer etwa den Herzog. Und der hatte ihn verlassen, vergessen. Loßberg? Er war ein Gentlemann zweifellos; hatte sich in viel guter Gesellschaft bewegt; Reserveoffizier obendrein. Aber nicht von Adel, nicht seinesgleichen; würde ihn mit dem besten Willen nicht verstehen; und er sich ganz zwecklos eine fürchterliche Blöße gegeben haben.

Nein! Dies mußte er mit sich allein auskämpfen. Wie noch alles in seinem Leben.

Der Nachtwind hatte sich stärker erhoben; die Flammen der Kerzen flackerten her und hin. Er trat an das Fenster, es zu schließen. Dunkel breitete sich unter ihm der Garten. Jenseits des Gartens über der schwarzen Linie des Tannenholzes war ein einziger lichter Punkt. Es konnte nur das Kreuz auf seiner Kapelle sein, das ein Streifen des Mondes traf, der unsichtbar links über dem Walde stand.

Den Grafen durchschauerte es. War es ein Gruß seiner geliebten toten Mutter? Wollte ihm die Heilige sagen, daß sie bei ihm stehen wolle in seiner Not? Und er niemals etwas thun werde oder über sich ergehen lassen, was ihres Sohnes unwürdig wäre?

Der lichte Punkt war erloschen. Leise schloß er das Fenster.

* * *


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