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5

Den bitteren Nachgeschmack, welchen die Unterredung mit dem Geheimrat bei dem Grafen zurückgelassen, hatten die folgenden Tage nicht abgemildert. Geflissentlich einem Menschen wehe zu thun, war ihm stets als eine Gemeinheit erschienen. Hier hatte er es gethan, auf einen Verdacht hin, dessen Haltlosigkeit, je länger er darüber grübelte, ihm immer klarer geworden war. Jude hin, Jude her – der alte Herr mit seinem ehrwürdigen Aussehen, seinem feinen, taktvollen Benehmen, das war kein Wucherer. Und solchen Herren, wie sein Vater, brauchte nicht erst der Ast, auf dem sie saßen, von anderen abgesägt zu werden; sie besorgten es schon selber.

Dann kam ihm eine neue peinliche Erwägung: wäre nicht doch vielleicht alles besser geworden, hätte er sich bemüht, das trübe Verhältnis zwischen sich und dem Vater zu einem freundlicheren zu gestalten? einen Einfluß auf ihn zu gewinnen, der am Ende doch mehr leichtlebig und leichtsinnig als schlecht gewesen war? dessen Devise gewesen war: leben und leben lassen? der auch gegen ihn mit dem Gelde niemals geknausert, ihm bei seinem Bankier in Berlin jeder Zeit carte blanche gegeben hatte?

Aber schon der kleine Knabe hatte einen Groll gegen den Vater gehegt seit dem Tage, als er die von ihm angebetete Mutter in Thränen schwimmend gefunden, während der Vater, ihn unsanft bei Seite stoßend, an ihm vorüber zur Thür hinausgestürmt war. Dann, nach dem Tode der Schönen, Bleichen, Liebevollen, hatte man ihn aufgepackt wie einen Ballen Ware und in die Kadettenanstalt geschickt, und er zusehen mögen, wie er fortan seinen Weg allein durch das Leben fand. In seinen kleinen und großen Kümmernissen, Zweifeln, Verlegenheiten, Leiden – nie hatte er nach der väterlichen Hand fassen, sich an ihr aufrichten dürfen. Als wäre er, wie ohne Mutter, so ohne Vater gewesen. Der befand sich auf Reisen. In langen, langen Zwischenräumen – von hier, von da, oft von fernen Orten datiert, die der arme Knabe kaum dem Namen nach kannte – ein paar flüchtige Zeilen, die stets mit einem Scherz anfingen und mit einem witzigen Wort endeten. So war es geblieben. Die Male, daß sie sich persönlich begegnet, konnte Kurt bequem an den Fingern einer Hand herzählen. Das letzte Mal vor etwas über zwei Jahren in Paris. Eine widerwärtige Erinnerung. Er war mit einem Legationsrat unserer Botschaft den boulevard des italiens hinabgeschlendert und hatte vor einem der Cafés einen alten, verwitterten, sehr stutzerhaft gekleideten Beau sitzen sehen, in welchem er mit einiger Mühe seinen Vater erkannte. Einer unwillkürlichen freudigen Regung folgend, war er herangetreten. Charakteristisch genug, hatte der Vater sich erst darauf besinnen müssen, daß es sein Sohn war, der ihn begrüßte. Dann war er sehr liebenswürdig gewesen; hatte höchlichst bedauert, keine Ahnung davon gehabt zu haben, daß Kurt bereits seit einem Jahr zur Botschaft kommandiert sei, während er sich nun schon vier Wochen in dem langweiligen Nest herumtreibe und noch denselben Abend unbedingt nach Nizza müsse, wo er sich mit einem alten Freunde ein Rendezvous gegeben habe. In der Gesellschaft des Vaters war eine jüngere, sehr chike Dame gewesen. Er hatte sie ihm nicht vorgestellt. Aus Zerstreutheit sicherlich nicht. Zwei Wochen später – Kurts Kommando war zu Ende und er wieder bei seinem Regiment – wurde ihm von der Polizei in Monte Carlo telegraphiert, daß der Herr, der sich vergangene Nacht in den Anlagen erschossen, als Graf Egon von Bassedow rekognosziert sei. Die Adresse des Herrn Grafen Kurt von Bassedow habe man aus einer Visitenkarte ersehen, die »der Verunglückte« in seinem – übrigens leeren – Portefeuille bei sich geführt. Es mußte die Karte gewesen sein, die Kurt in Paris dem Vater, der seine genaue Berliner Adresse zu haben wünschte, gegeben hatte.

So düstere Reminiscenzen stimmten völlig zu dem greulichen Unwetter, das seit Tagen wütete und Kurt die trostlose Öde des großen Hauses, in welches er sich wie in ein Gefängnis gebannt sah, doppelt empfindlich machte. In dem prunkhaften Geschmack der Zeit seiner Erbauung hatte man nur für Säle und saalartige Staatsräume gesorgt; ein paar wenige Gemächer waren dann wieder so klein, daß man auch in ihnen sich nicht behaglich fühlen konnte. Die »Bibliothek« durfte man nur vergleichsweise wohnlich nennen. Ihre Dimensionen waren ebenfalls unheimlich groß; dafür zog es durch die vier hohen einfachen Fenster mehr als billig; von den beiden Kaminen durfte der eine nicht geheizt werden, weil die Esse mit dem Einfall drohte; in dem zweiten brannte aus unbekannten Ursachen das Feuer schlechterdings nicht. Am zweiten Morgen kam Peters mit der Meldung, in einem der Säle nach vorn habe es so durchgeregnet, daß die halbe Decke heruntergefallen sei. Ob der Herr Graf es sich nicht einmal ansehen wolle? Kurt hatte es sich angesehen: es war ein häßliches Bild gewesen, das sich ihm da bot. Auf dem Fußboden die Trümmer des Plafond in wüsten, schmutzigen Haufen; das bis dahin leidlich gut gehaltene Deckengemälde – Diana, die mit ihren Nymphen auf die Jagd zog – zur Hälfte zerstört; die Tapeten in Fetzen von den Wänden hängend. In den anderen Sälen und Zimmern sah es nicht viel besser aus. So konnte es nicht bleiben. Peters riet, den Maurer Lüders zu rufen; er sei gerade auf dem Gutshofe, wo er an dem auch schadhaft gewordenen Pferdestall arbeite. Lüders kam, triefend von Nässe, arg mit Kalk bespritzt. Er erklärte, das schon vom vorigen Herbst her zu kennen. Ein einzelner könne da gar nichts helfen. Der Herr Graf möge sich doch einmal an den Privatarchitekt Bartels in Greifswald wenden, der Mann verstehe die Sache. Er gehe heute abend nach der Stadt zurück, da könne er die Bestellung gleich besorgen. Der Graf gab ihm eine Karte an den Architekten mit, der dann auch bereits am folgenden Tage herausgefahren kam und eine Besichtigung des Schlosses vornahm. Nur die Baulichkeiten des kleinen, dazu gehörigen Hofes: Leutehaus, Waschküche, Wagenremise, Pferdestall – beide letztere augenblicklich leer stehend – befanden sich, weil erst von dem Großvater des Grafen nach einem Brande neu aufgebaut, in leidlich gutem Zustande; desto übler sah es mit dem Schlosse selbst aus. Nur seiner ursprünglich höchst soliden Konstruktion war es zuzuschreiben, daß der Verfall nicht noch schlimmer war, und man überhaupt von der Möglichkeit einer Reparatur reden konnte. Diese mußte allerdings sehr umfangreich sein. Das ganze Dach mit Sparren und Ziegeln war total zu erneuern; im Keller machte der Mauerschwamm, der hier und da auftrat, eine große, Vorsicht erfordernde Ausbesserung des Fundaments absolut notwendig. Mit den Rissen, die einige Wände zeigten, hatte es nicht so viel auf sich; desto mehr mit den Kaminen und Schornsteinröhren, die, soweit es sich vor der Hand beurteilen ließ, sämtlich einer gründlichen Nachhilfe bedurften.

Der Graf hatte den Auseinandersetzungen des lebhaften jungen Mannes aufmerksam zugehört. Dann, als jener seinen Bericht beendet, fragte er: »Und die Kosten?«

Der junge Mann zuckte die Achseln: »Ohne eine genaue Berechnung angestellt zu haben, ist es nicht wohl möglich, die Summe anzugeben. Auch fragt es sich, ob der Herr Graf nur das Notwendige im Auge haben.«

»Nur das,« sagte der Graf.

»Selbst in dem Falle werden sich der Herr Graf immerhin auf, sagen wir, vier bis fünf Tausend gefaßt machen müssen.«

»Ich war darauf gefaßt,« erwiderte der Graf. »Darüber hinaus kann ich mich allerdings nicht engagieren. Ich bitte Sie also, Ihre Dispositionen in diesem Sinne zu treffen und sobald als möglich mit den Arbeiten zu beginnen.«

*

Der Architekt konnte noch nicht zum Schlosse hinaus sein, als der Graf ihn gern zurückgerufen hätte. Aber er hatte es einmal gesagt. So mußte es dabei bleiben.

Dennoch ging ihm die fatale Sache sehr im Kopfe herum. Eine für seine Verhältnisse so kolossale Summe! Für eine Reparatur, die am Ende doch nur Flickwerk war! Das schöne Geld zum Fenster hinauszuwerfen, während er vor ein paar Tagen nur zuzugreifen brauchte, und er hatte zweihunderttausend Mark in seiner Tasche: Und konnte wieder Offizier sein, wie –

Nein, ganz so lagen die Dinge nicht wie vorher. Während des Jahres in Paris war ihm doch eine Ahnung davon gekommen, daß es eine Welt gebe, in der Interessanteres und Merkwürdigeres vor sich ging als in dem Leben, das er bis dahin geführt und bis dahin für das einzig menschenwürdige gehalten hatte. Die Verhältnisse im Regiment, welche er bei seiner Rückkehr vorfand, waren nicht dazu angethan gewesen, die in seiner Seele aufgestiegenen Skrupel zu beseitigen. Mit seinem früheren Commandeur, dem Erbprinzen, hatte er sich vortrefflich gestanden; ja, er durfte ohne Überhebung von einer Freundschaft zwischen ihm und dem hohen Herrn sprechen. Der es auch gewesen war, welchem er das Kommando zur Pariser Botschaft verdankte. Inzwischen aber hatte der Prinz die Regierung seines Landes angetreten, das Regiment in der Person des Barons von Rüchel einen anderen Obrist bekommen. Warum sich Kurt mit dem neuen Chef vom ersten Augenblick an nicht stellen konnte, schien nicht wohl begreiflich. Beide waren von derselben Schneidigkeit im Dienst; beide aus alten Geschlechtern; hatten politisch dieselben konservativen Gesinnungen, und doch! So oft sie der Dienst zusammenführte, gab es Mißhelligkeiten; im Kasino und wo immer sie sich gesellschaftlich begegneten, gingen sie sich mit einer Geflissentlichkeit aus dem Wege, die allen auffallen mußte. Persönliche Antipathie, sagten die einen; zwei harte Steine mahlen schlecht, die anderen; beinahe alle aber stellten sich auf die Seite des Obrist. Kurt nahm das kein Wunder; er wußte, daß er bei den Kameraden nicht beliebt war, ohne daß er sich das jemals hatte anfechten lassen. Er war eben, wie er war. Ließ man das nicht gelten – auch gut. Den Liebenswürdigen herauszubeißen, schöne Worte zu machen, dazu war er nicht der Mann. Aber daß man ihm in den höheren, ja allerhöchsten, Ausschlag gebenden Kreisen ebenso wenig wohl wollte, empfand er als eine bittere Ungerechtigkeit. Wenn der Vater den stattlichen, durch Jahrhunderte in der Familie von Generation zu Generation fortgeerbten Besitz Gut um Gut verzettelte; selbst das große, ihm von der Gattin zugebrachte Barvermögen an den Spieltisch oder zu seinen Maitressen trug und sich so nicht bloß bei seinen Standesgenossen um Ehre und Reputation brachte – was konnte denn der Sohn dafür? Oder dafür, daß sein Schwager Szwykowski ein enragierter Pole war, der in seiner Provinz und im Reichstage die Regierung auf jede erdenkliche Weise chikanierte? Mochte er sich's nur ehrlich gestehen: Soldat, wie er mit Leib und Seele war, als sich vor einem Jahre seine finanziellen Verhältnisse so mißlich gestalteten und er sich schweren Herzens entschloß, sein Abschiedsgesuch einzureichen – die Kränkung, es ohne weiteres angenommen zu sehen, hatte er bis auf den heutigen Tag nicht verwunden. Und was schlimmer war: er fühlte, daß er sie nie verwinden würde.

*

Endlich hatte sich das Unwetter doch ausgetobt, und der Frühling, der in diesem Jahre so unbillig lange hatte auf sich warten lassen, war, wie herbeigezaubert, mit einem Schlage da. Vom wolkenlosen Himmel schien eine klarste Sonne so warm, daß selbst die spröden alten Eichen sich auf ihre Pflicht besannen und ihre knorrigen Äste in ein grünes Gewand hüllten. Der alte Park wollte beweisen, was er trotz des Mangels an jeglicher Pflege während der letzten zwanzig Jahre auf eigene Hand noch leisten konnte. Wege und Stege waren vor dem Unkraut, das sie überwucherte, kaum noch erkennbar; die Heckengänge gewährten an einzelnen Stellen keinen Durchgang mehr, so völlig waren die beiden Seiten ineinandergewachsen; auf den Wiesenplätzen überschwankte langes Gras die häßlichen Maulwurfhaufen; in dem sie umkletternden Buschwerk nahmen sich die verwitterten Sandsteinfiguren ordentlich malerisch aus. Das Ganze eine Wildnis, vielleicht noch mehr als vorher; aber doch nicht ohne eine, freilich schwermutsvolle, Anmut.

So wenigstens empfand der einsame Mann, der sie jetzt stundenlang Tag für Tag durchstreifte; oder, auf einem Baumstumpf oder einer der wenigen verwitterten Bänke sitzend, in sie hineinstarrte. Froh, den kahlen Mauern seines verödeten Hauses entflohen zu sein, von dem das Klopfen und Hämmern der Werkleute dumpf noch in diese seine Einsamkeit schallte.

Seine Einsamkeit!

Kam er doch zu niemand, und niemand kam zu ihm!

Wie hätte es anders sein können! Von den wenigen Standesgenossen, die in abreichbarer Nähe auf ihren Gütern saßen: Graf Grieben, Baron von Zarrentien, Freiherr von Pfahlen und ein paar andere, kannte er niemand persönlich; und schon zu seines Vaters Zeiten war der Verkehr zwischen den Familien hinüber und herüber auf das ganz Unvermeidliche beschränkt gewesen. Und sollte er etwa, der kein Pferd im Stall, keinen Wagen in der Remise hatte, als verstäubter Fußwanderer in den fremden Häusern antreten, wie ein Handwerksbursch? So mußte er wohl bleiben, wo er war; und hoffte sehr, daß die anderen bleiben würden, wo sie waren. Sie würden große Augen gemacht haben, hätten sie gesehen, wo und wie Graf Kurt Bassedow hauste! Auch seine Küche mit Frau Peters' Alltagsgerichten hätte ihnen schwerlich gemundet; in den Kellern hatten die Maurer, um an ihre Arbeit gehen zu können, keine Weinschränke beiseite zu räumen gehabt.

Überdies war Peters noch immer ohne den geeigneten dienstlichen Anzug.

Es hielt auch nicht leicht, sich für einen passenden zu entscheiden in Anbetracht der vielen und verschiedenartigen Obliegenheiten, die er auf einmal oder doch eine nach der anderen zu erfüllen hatte: Kammerdiener des Morgens und Abends, wenn er dem Herrn beim An- und Auskleiden half; dann wieder Stiefelputzer, Zimmerreiniger, Portier – ganz abgesehen von den häufigen Botengängen, die er in die Stadt machen mußte, nachdem der Verkehr zwischen dem Schlosse und dem Gutshofe, von welchem man früher die meisten Viktualien für die Küche bezogen, auf Befehl des Grafen abgebrochen war.

Es hatte ihn verdrossen, daß der Inspektor Schmidt, der schon unter seinem Vater jahrelang gedient, unterlassen, sich ihm bei seiner Ankunft sofort vorzustellen. Dafür war ihm zu Ohren gekommen, eben dieser Herr Schmidt habe sich über seine Weisung, Park und Kapelle fortan für jedermann zu verschließen, sehr gröblich geäußert unter der Hinzufügung: er könne dann ebensogut den Leuten des Herrn Grafen verbieten, das Trinkwasser aus dem Brunnen des Gutshofes zu holen. Das war denn nun auch auf Geheiß des Grafen unterblieben. Wenn aber Herr Schmidt meinte, der Herr Graf habe den Jochen Snut, den er fortgejagt, aus purer Chikane sofort in seine Dienste genommen, so irrte er sich. Kurt hatte von dem Handel nichts gewußt und den Mann, den ihm Peters zuführte, nur deshalb engagiert, weil er Peters von den gröberen Arbeiten entlasten wollte. Übrigens konnte er den Kerl, der ein freches Aussehen hatte und jedenfalls ein schlechter Soldat gewesen wäre, so wenig leiden, daß er Peters beauftragte, ihn anderweitig als im Park zu beschäftigen. Das bißchen Herumgehacke an den Wegen und Geschnipfle an den Hecken sei doch nur für die Katz.

Die Sache war: die Gegenwart des Menschen störte ihn in seiner Einsamkeit.

*

Die doch von Tag zu Tag schwerer auf ihm lastete. Der Kampf von ein paar Krähen, das Erscheinen eines Hasen, der, Gott weiß wie, wahrscheinlich durch ein Loch in der Mauer, den Weg in den Park gefunden, waren Ereignisse. Seine größte Freude war das Singen der Vögel, die sich doch zahlreicher eingestellt, als er zu hoffen gewagt. Stundenlang konnte er ihnen zuhören. Besonders die Schwarzamseln, die in Begleitung ihrer braunen Weibchen des Morgens so eifrig auf den Wiesen mit den gelben Schnäbeln nach Regenwürmern pickten und des Abends aus den Wipfeln der alten Riesenfichten ihr süßes melancholisches Lied ertönen ließen, waren seine besonderen Günstlinge. Eine Nachtigall, die sich ein paar Abende hatte hören lassen, war zu seinem Kummer weitergezogen. Dafür schienen die Finken das Revier besonders zu lieben; ihr herzhafter Sang, der den Grafen immer an das Schmettern von Trompetenfanfaren erinnerte, erschallte von allen Seiten. Auch an Meisen, Rotschwänzchen, Stieglitzen, Baumspechten und anderen kleinen Arten, deren Namen er nicht kannte, fehlte es nicht. Wenn er in einem Busche ein Nest entdeckte, schenkte er dem Fortgange des Brutgeschäfts eine gespannte Aufmerksamkeit. Gern hätte er sich einen Pistolenschießstand eingerichtet; fürchtete aber, das Knallen möchte seine gefiederten Gäste stören, und beschloß, zu warten, bis die Jungen ausgeschlüpft sein würden.

Da nun schon Zimmerleute im Schloß waren, hatte er gegen seinen ursprünglichen Vorsatz die schadhafte Treppe zu dem kleinen Pavillon ausbessern lassen und in dem Häuschen selbst mit Hilfe der Peters Ordnung geschafft. Aber seine Absicht, hier eine und die andere Stunde zu verbringen, verleidete ihm der muffige Geruch, der unausrottbar schien, und die dumpfe Schwüle, die an heißen Tagen, deren es jetzt viele gab, unter dem Bretterdache in dem engen Raum herrschte. Desto wohler that ihm die Kühle in der steinernen Kapelle. Er konnte da lange Zeit auf einem der herrschaftlichen Stühle sitzen, versunken in das Anschauen des Madonnenbildes, das der geliebten, ihm allzu früh entrissenen Mama so ähnlich sein sollte. Auch zu der Galerie des Turmes stieg er manchmal hinauf, zu sehen, ob sich die Wespen wieder eingefunden. Aber auf dem kunstvollen Nest an der Wand schien ein Fluch zu ruhen. Es war und blieb leer.

*

Nach einiger Zeit glaubte der Graf zu finden, daß diese idyllischen Freuden, trotz ihrer Lieblichkeit, doch ein wenig an Monotonie litten und der Verkehr mit der Natur den mit Menschen nicht völlig ersetzen könne. Nur wie dazu gelangen, ohne aus seiner Zurückgezogenheit herauszutreten, was, wie die Verhältnisse nun einmal lagen, nicht angänglich war! In den ersten Tagen hatte er sich mit dem munteren jungen Architekten, der, nach seinem Bau zu sehen, häufiger herauskam, gern in ein längeres Gespräch eingelassen. Dann war ihm aus gewissen Äußerungen, die jener gewagt hatte, erst der Verdacht aufgestiegen, der sich bald zur Gewißheit verdichtete, daß er es mit einem Menschen zu thun habe, der entweder schon Socialdemokrat war oder im Begriff stand, es zu werden. Seit dem Augenblicke hatte er seinen Verkehr mit ihm auf das einfach Notwendige beschränkt und eine Haltung angenommen, die den anderen, der sich in seiner Unbefangenheit keiner Schuld bewußt war, anfangs auf das Äußerste verblüffte; dann auf die Vermutung brachte, es dürfte in dem gräflichen Gehirn ein Sparren zu viel oder zu wenig sein.

So hatte er sich den einzigen gebildeten Menschen, der in seine Nähe kam, entfremdet; und Peters war ja so weit ein guter Kerl und ihm treu ergeben, aber doch, alles in allem, die richtige Kommiß-Unteroffiziersseele. Auch hatte er sich niemals anders als dienstlich mit ihm eingelassen. In diesem Verhältnis durfte keine Neuerung eintreten.

Wären nur die Abende nicht so lang gewesen!

Er erinnerte sich, daß Ritter, die in ihre Burg eingeschlossen gewesen waren, ihre Memoiren geschrieben hatten. Zum Beispiel Götz von Berlichingen. Was der alte Haudegen gekonnt, mußte auch er können.

Ein langer Tisch aus dem Leutehause, an dem ursprünglich wohl die Dienerschaft ihre Mahlzeiten eingenommen, wurde in der Bibliothek aufgestellt und mit einem grünen, etwas stark defekten Stück Stoff, das ehemals vermutlich ein Vorhang oder etwas der Art gewesen war, und das Frau Peters in einer Rumpelkammer entdeckt und zu seinem höheren Zweck adaptiert hatte, schicklich bedeckt. Der Graf ließ sich Papier, Federn und Tinte aus der Stadt holen; die nötige Lampe – Öllampe, weil Petroleum nach armen Leuten roch – war schon früher besorgt; ein noch völlig wohlerhaltener Lutherstuhl, der zu dem in der Bibliothek selbst vorgefundenen Inventar gehörte, schien ein glückverheißendes Zeichen für das wichtige Geschäft, das nun beginnen konnte.

Der Graf fand es schwieriger, als er gedacht. Er hatte seit der Schulzeit nur Briefe – und auch die nicht eben häufig – geschrieben; höchstens, als Offizier, eine militärwissenschaftliche Ausarbeitung zu machen gehabt. Für den Memoirenstil – es handelte sich in erster Linie um seine Pariser, dann um seine Reisereminiscenzen – fehlte ihm jegliche Übung. Was er ausdrücken wollte, war ihm völlig klar; aber die rechten Worte, die schicklichen Wendungen blieben in der eigensinnigen Feder stecken. Und was sie hergab, genügte ihm nicht: es war hölzern, steif, schulknabenmäßig. Er gab es vorläufig auf, bis er sich durch geeignete Lektüre die Phantasie geschmeidigt haben würde.

Zu diesem Zwecke schienen ihm wieder autobiographische Berichte das weitaus geeignetste. Nach langem Umherstöbern in den Büchern, die wirr durcheinander auf den Regalen standen und lagen – sie waren meistens aus dem vorigen Jahrhundert, keines der Werke vollständig, manche umfangreiche nur durch ein, zwei Bände vertreten – entdeckte er drei der Art, die er auf den Arbeitstisch vor sich hinstellte, um sie, eines nach dem anderen, durchzustudieren: Rousseaus confessions, die Memoiren der Herzogin von Abrantes, Goethes Wahrheit und Dichtung. Mit den confessions kam er nicht weit. Nachdem er ein paar Kapitel gelesen, fand er, daß der bedientenhafte, widerwärtige Kerl verrückt sei, und klappte den Band – es war der erste und einzige – wieder zu. Den Aufzeichnungen der Frau Marschallin erging es anfangs besser. Das historische Kolorit gefiel ihm; hier konnte man augenscheinlich etwas lernen. Als die geschwätzige Dame aber zu der Schilderung der Besuche kam, die ihr – der Strohwitwe – der erste Konsul in St. Cloud des Morgens in aller Herrgottsfrühe macht, um sich zu ihr auf den Rand des Bettes zu setzen, Politik und Cancan zu reden und ihr gelegentlich durch die dünne Bettdecke hindurch die große Zehe zu drücken, schüttelte der Leser bedenklich den Kopf. Und nun die Scene, in der Bonaparte – ahnungslos daß Junot, den er zu sich citiert hat, anstatt für die Nacht, wie seine Gouverneurpflicht erheischte, nach Paris zurückzukehren, im Schlosse bei seiner Frau geblieben ist – der Freundin eine seiner gewöhnlichen Morgenvisiten abstatten will, das Ehepaar Arm in Arm in friedlichem Schlummer findet und sich, innerlich wütend, geräuschlos zurückzieht – die unanständige Person lügt wie gedruckt, rief er tief empört und schleuderte das Buch so heftig von sich, daß es über den Tisch herüber auf den Fußboden flog. Peters, der gerade ins Zimmer trat, hatte es aufzunehmen und in die Küche zu tragen: seine Frau möge sich das Feuer mit dem Schmarren anmachen.

Es vergingen zwei Tage, bis der kopfscheu Gewordene den Mut fand, an Goethes Autobiographie zu gehen, von der er hin und wieder hatte reden hören. Nun ja, das war denn freilich etwas anderes als das Geschwafel des überspannten Kerls, des Rousseau, oder das Geflunker der Herzogin, die doch nur eine Grisettenseele hatte: alles höchst gediegen, auch ganz sittlich – bis auf die Affaire mit dem kleinen Gretchen in Frankfurt und die noch viel bedenklichere mit den beiden Tanzmeistertöchtern in Straßburg – aber doch, wenn man ehrlich sein wollte, schauderös langweilig. Die endlosen Abschweifungen über Architektur, Malerei, Litteratur und sonstigen Kram, das mochte der Deibel aushalten! Und dann sein Benehmen gegen die Pastorentochter, die Friederike – na, schön war das von dem Herrn von Goethe nicht; und der Graf mußte nachträglich der alten Excellenz von Kernbeißer recht geben, die einmal ihm gegenüber Goethe einen unmoralischen Menschen genannt hatte, dessen Bücher niemals in die Hände von jungen Leuten kommen sollten.

*

Aus den Büchern war also kein Rat zu holen. Der Graf beschloß, die Memoirenschreiberei aufzugeben und, wenn er wieder lesen wollte, nur Sachen, bei denen man sich wenigstens nicht ennuyierte. Ein Zufall ließ ihn eines Tages in der verstaubten Ecke eines Schrankes, den er bis dahin nicht weiter untersucht hatte, weil er nur alte schweinslederne Scharteken zu enthalten schien, ein paar sehr zerlesene Bände Scottscher Romane finden, glücklicherweise für ihn in deutscher Übersetzung, da es mit seinem englisch stark haperte. Er erinnerte sich, daß Scott der Lieblingsdichter seines guten alten Kandidaten gewesen war; auf einem der Titelblätter stand noch sein Name: Christian Fürchtegott Käsebier. Auch er hatte seiner Zeit Verschiedenes von dem schottischen Romancier gelesen, ohne ihm besonderen Geschmack abgewinnen zu können: der Abt, das Kloster – es war wohl nicht das Richtige. Immerhin wollte er es noch einmal versuchen.

Der Versuch schlug vortrefflich aus. Quentin Durward, Kenilworth, das schöne Mädchen von Perth – das konnte man sich gefallen lassen. Die Lektüre fesselte ihn so, daß er ihr zuliebe selbst die langen Promenaden im Park – bisher sein einziges Vergnügen – wesentlich abkürzte und halbe Tage und am Abend bis manchmal spät in die Nacht an seinem langen »Arbeitstische« saß, den Kopf in die Linke gestützt, mit der Rechten eifrig Blatt um Blatt der famosen Bücher wendend.

Nun gelangte er an Ivanhoe – das letzte Werk in der bescheidenen Reihe, die er wieder sorgfältig auf dem Tische vor sich aufgebaut hatte, weil die Bände so nebeneinander die Empfindung in ihm wach hielten, daß er eigentlich doch recht fleißig sei. Es schien das schönste von allen werden zu wollen, bis ihm, je weiter er kam, die Geschichte immer mehr Wirklichkeit zu werden drohte und er zuletzt fast mehr zwischen den Zeilen als in den Zeilen las.

Gleich zu Anfang war ihm aufgefallen, wie sehr er doch eigentlich dem »enterbten Ritter« glich. Cedric, der Sachse, hatte dann freilich keine Ähnlichkeit mit seinem Vater; aber das schlimme Verhältnis zwischen Vater und Sohn – damit konnte er auch dienen. Rowena war nicht. Es hätte etwa die sehr entfernte Cousine sein müssen, die er bei Excellenz von Kernbeißer in Berlin kennen gelernt und für die er ein paar Wochen hindurch regelrecht geschwärmt hatte. Der Narr Wamba blieb ganz aus. Dergleichen lustige Schwerenöter, die auch manchmal die Hetzpeitsche zu schmecken bekamen, gab's eben heutzutage nicht mehr. Gurth, der Schweinehirt? Na, Peters, wenn er im Arbeitskittel war – es wurde wirklich die höchste Zeit, daß er seinem Faktotum eine anständige Livree – oder so was – machen ließ – hätte immerhin, den Hund zur Seite, die grunzende Herde vor sich, unter den tausendjährigen Eichen sitzen können; und was die Treue anbetraf und die Liebe zu seinem Herrn, durfte er sich getrost mit dem sächsischen Leibeigenen messen. In dem Templer Brian de Bois Guilbert mußte er, mochte er wollen oder nicht, immer seinen Schwager Szwykowski sehen. Das war dieselbe sehnige Gestalt, dasselbe hagere Gesicht, dieselben stechenden, fanatischen Augen.

Und gar der Jude Isaak von Dork! Es war rein zum Verzweifeln. Der Dichter schilderte doch den Alten, daß man meinte, ihn mit Händen greifen zu können, und er sah immer nur den Geheimrat Lombard. Es stimmte nichts, als daß beide Juden waren; sonst keine blasse Spur von Ähnlichkeit – und dennoch! Na ja! war es denn keine Ähnlichkeit, wurde man nicht zum Vergleich herausgefordert, wenn es heute gerade so war wie damals? Heute so wenig wie damals enterbte Ritter ohne die Hilfe eines Juden wieder in den Sattel kommen konnten? Er hatte die Hilfe verschmäht – freilich! Dafür durfte er hier in seinem verstockten Hause über den Büchern hocken, nicht in die Turnierschranken von Ashby reiten und Seite an Seite mit dem Schwarzen Ritter –

Das war natürlich sein ehemaliger Regimentschef: Hoheit, der Prinz; jetzt Hoheit, der Herzog. Der schöne, stattliche, breitschultrige, blonde Recke konnte immerhin als König Richard gelten; und was die Löwenherzigkeit betraf – er hatte auf den Hubertusjagden, den Manövern mehr als einen Beweis von des hohen Herrn bis zur Tollkühnheit gehender Unerschrockenheit gehabt. Das mochte ja nebensächlich sein. Aber dann: war König Richard in seinem Benehmen gegen Ivanhoe liebenswürdiger, rücksichtsvoller, im besten Sinne kameradschaftlicher gewesen, als der Prinz gegen ihn? Er, der ein volles Jahr als sein persönlicher Adjutant beständig in seiner unmittelbaren Nähe zugebracht, im intimsten Verkehr mit ihm gestanden hatte, wußte, daß an dem Prinzen kein Falsch war, seine Güte, seine Freundlichkeit ihm aus dem Herzen kamen. Hatte es zu wissen geglaubt. Jetzt war er in seinem Glauben zweifelhaft geworden, hatte es werden müssen. Die Erwiderung auf den Brief, den er ihm bei seiner Thronbesteigung geschrieben – nun ja! sie war eigenhändig, aber wie kurz, wie wenig verbindlich! Der neue Herr hatte einen Berg von Sorgen und Lasten aufgewälzt bekommen. Immerhin! Zu einem freundlich warmen Wort für einen, den man Freund genannt, braucht man doch keinen halben Tag! Es hatte ihn tief gekränkt. Dennoch hatte er ihm ein zweites Mal geschrieben gelegentlich seines Abschieds, der ihm mit so empörender Leichtigkeit bewilligt wurde. Es war diesmal ein längerer, sorgfältig von ihm ausgearbeiteter Brief. Er glaubte ihm, der immer so warmen Anteil an ihm genommen, eine ausführliche Darlegung der Gründe, die ihn zu dem Schritt bewogen hatten, schuldig zu sein. Und die Antwort: »Aufrichtiges Bedauern! Bitte, meine Flüchtigkeit zu entschuldigen! Bin gerade augenblicklich infolge des Besuches der englischen Herrschaften in einer gräßlichen Hetze; völlig unkapabel zu einem vernünftigen Brief. Beste Grüße und Wünsche!« – Und das war derselbe Herr, der zu ihm, als sie eines Abends im tête-à-tête vor dem Kamin saßen, gesagt hatte: »Wissen Sie, lieber Graf, wenn Ihr Schwerenöter von Vater einmal mit der ganzen Geschichte fertig ist – und passen Sie auf, er hält nicht eher Ruhe! – dann kommen Sie zu mir. Ohne das nötige Kleingeld geht es nun einmal in der Armee nicht. Viel habe ich ja auch nicht, aber für uns beide noch immer genug. Ich meine: wenn ich erst einmal auf meiner Klitsche sitze. Sie helfen mir dann regieren. Abgemacht!« – Er hatte ihn daran nicht erinnert – eher würde er silberne Löffel gestohlen haben. Aber der Herzog hätte sich daran erinnern sollen. Ivanhoe hatte den König auch nicht gebeten, nach Ashby zu kommen und ihn herauszuhauen aus dem Schwarm seiner Gegner. Und war doch da, als schwarzer Ritter. »Desdichado, ich helfe!« hatte er, den Rappen spornend und die Lanze einlegend, gerufen mit einer Stimme, schmetternd wie Trompetenschall; und der Templer, Front de Boeuf, und wie die Schurken sonst hießen, waren aufgeschrieben gewesen. Es gab eben keine Fürsten mehr, die für ihre Freunde zu Schwarzen Rittern wurden!

Oder hatte nie welche gegeben. Diese Herren Dichter lügen ja das Blaue vom Himmel. Zum Beispiel das Judenmädchen Rebekka und ihr Verhältnis zum Helden. Mein Gott, man hat doch auch seine Verhältnisse gehabt! Aber so eines! Lächerlich! Läuft dem Manne nach durch dick und dünn um nichts und wieder nichts! Wenn sie noch eine Spur von Aussicht hätte, daß er sie zur Dame von Rotherwood machen könnte, oder wollte! Ein ganz aussichtsloser Fall! Das sollte eine reiche Banquiertochter von heute fertig kriegen! Unsinn! Und anders als heute werden sie vor achthundert Jahren oder so auch nicht gewesen sein. Die Rasse ist ja so zäh! Weiter: ein Judenmädchen heiraten, wenn es sehr reich und man sehr hungrig ist – da war Graf Speyer von den Zweiten Dragonern, Baron Hellerbrink von den Blauen Husaren – na ja! Aber sich regelrecht in eine zu verlieben, wie es der Ivanhoe doch offenbar gethan zu haben schien – viel mehr als in die Rowena – das glaube ein anderer! Da konnte er ebenso gut für Fräulein Lombard Feuer fangen. Wie die eigentlich aussah? Peters meint: hübsch. Was versteht so ein Kerl davon! Als Tochter ihres kleinen Vaters wird sie vollends unterirdisch sein. Und dick – natürlich! Diese Personen werden alle dick, wenn sie älter werden. Und da ihre Mutter schon drei Jahre tot war, als ihr Vater den meinen kennen lernte – na, da kommt ein ganzer Packen heraus. Sagen wir: ein spätes Mädchen. Klein, dick, alt – ich danke!

*

Der Graf hatte das Lesen satt. Er hatte das Leben satt. Ein Hundeleben. Dazu fühlte er sich schon seit Tagen unwohl, positiv krank. Peters meinte, es sei das schlechte Wasser aus dem Schloßbrunnen. Unsinn! Wenn ihnen das Wasser nicht gut genug war, sollten sie sich's in drei Deibels Namen wieder aus dem Gutshofsbrunnen holen! Er machte sich nicht genug Bewegung; darin lag's. Das müßige Herumschlendern im Park that es nicht. Als Offizier war er jeden Tag stundenlang im Sattel gewesen. In Ouchy hatte er ganze Vormittage auf dem See gerudert oder meilenweite Promenaden gemacht durch die Weinberge ins Land hinein, am Ufer hin, oft bis nach Glion hinauf. Hier war er noch nicht aus seinem Park herausgekommen. Er mochte nicht den Gutshof passieren. Es wäre sein gutes Recht gewesen; niemand konnte ihm den Zugang zu seinem Hause verwehren. Es bedurfte dessen gar nicht. Da war das Gitterthor hinten in seinem Park. Aus dem trat er direkt auf einen Kommunalweg, der an der Parkmauer vorüber in die Felder führte. Die seine Felder hätten sein müssen, wenn –

Man konnte verrückt werden über dies verfluchte Wenn! Oder war er es nicht schon halb? Diese unausstehliche Dumpfheit im Kopf! Und heute Morgen beim Erwachen nach einer erbärmlichen Nacht, in der er sich immerfort von einer Seite auf die andere geworfen, die niederträchtigen bohrenden Schmerzen erst in der rechten, dann in der linken und nun in beiden Schläfen! Freilich, dreiundzwanzig Grad Reaumur im Schatten! Und die stechende Sonne, die ihn nach zehn Minuten wieder in das Haus getrieben hatte!

Er hielt es nicht länger aus – er mußte hinaus. Wenn das Gewitter kam, das Peters prophezeite, desto besser.

*

Es ging bereits stark auf den Abend, als der Graf aus dem Gitterthor trat, das Peters ihm nicht ohne erhebliche Mühe aufgeschlossen hatte, und das klirrend hinter ihm ins Schloß fiel. Er konnte sich nach rechts wenden, wo er nach kurzer Zeit in den Wald gelangte. Aber unter den Tannen, die den ganzen Tag die Sonnenhitze eingesogen, mußte es zum Ersticken sein. Also nach links in die Felder. Der schmale Weg war abscheulich staubig; glücklicherweise wurde er durch die Sonne nicht mehr belästigt. Sie stand gerade vor ihm hinter einer großen blauschwarzen Wolke, deren oberer Rand silbern gleißte. In der schwülen Luft keine Spur von Bewegung; auch nur für einen Moment ein leisester Hauch. Nicht ein Vogellaut. Totenstille. Den eigenen Schritt vernahm er in dem dicken Staube nicht. Regungslos die Halme des jungen Kornes; regungslos selbst die schmalen Blätter auf den dünnen Zweigen der verkrüppelten Weiden hier und da am Wege.

Dennoch fühlte sich der Wanderer ein wenig erleichtert. Die Schmerzen im Kopf schienen nachlassen zu wollen. Und einsam genug war er auch hier: in der weiten Runde kein Mensch zu sehen. So schritt er weiter, trotzdem ihm das Gehen seltsam schwer wurde, als ob er Blei in den Beinen hätte. Das kam von dem Bummeln im Park, das doch eigentlich nur ein Herumgestehe war. Dabei verlernt man das regelrechte Ausschreiten!

Übrigens war es mit dem Reiten nicht anders, wenn man längere Zeit nicht ordentlich im Sattel gewesen. Wie damals, als er aus Paris kam und es unmittelbar darauf ins Manöver ging. Da hatte es schon am dritten Tage die erste böse Scene mit dem neuen Commandeur gegeben. Und er war doch im Recht gewesen. Er mußte mit seiner Schwadron halten bleiben, bis die Plänkler das Terrain vor ihm abgesucht hatten. Der Erfolg bewies es. Nur zweitausend Schritt weiter, und die Schwadron wäre von der Batterie, die der Feind an der Waldlisiere plötzlich demaskierte, in Grund und Boden geschossen. Kein Mann wäre davongekommen. Und darum vor dem ganzen Regiment heruntergekanzelt wie ein Schuljunge! Daß er die Plempe nicht eingesteckt und nach Haus geritten war! Es hätte ihm viel Ärger erspart.

Andere Manöver- und sonstige Erinnerungen kamen ihm, wie er so mechanisch weiter und weiter schritt. Aber kurios: er konnte nichts einzelnes festhalten; es wirrte alles durcheinander, wie die bunten Steinchen in einem – wie heißt das Ding doch? – er hatte mal als Jung' eins gehabt; und der Kandidat – oder war's die Mama gewesen? Es konnte auch der Obrist – zum Teufel! wie kam denn der da hinein? Saß ja auf seinem stiernackigen Gaul, der die Hinterhand immer nachschleppte – wie eine alte Kuh.

Das wird ja immer toller in meinem Kopf. Ich muß wirklich umkehren.

Er blieb stehen. Wo war er eigentlich? Vor ihm in geraumer Entfernung lag ein großer Gutshof. War es Selchow? Polchow? oder Faschwitz? Keine Ahnung. Natürlich, wenn die Luft blau ist, wie des Morgens in einer Wachstube!

Im nächsten Moment stand alles um ihn her und rings bis in die weiteste Ferne in silberweißem, grellen Licht, dem ein Donnerschlag folgte, daß die Erde unter ihm zu beben schien. Dann ein heulender Windstoß, der den Staub haushoch aufwirbelte. Dann nachtschwärzliches Dunkel, von Blitzen durchzuckt, vom Sturm und einem Regen durchpeitscht, der nicht in Tropfen fiel, sondern wie aus Eimern goß und ihn in seiner leichten Sommerkleidung sofort bis auf die Haut durchnäßte.

Für den ersten Augenblick ein wohliges Gefühl dem in Schweiß Gebadeten. Nur für den ersten. Plötzlich schüttelte ihn ein jäher Frost, daß ihm die Glieder flogen; zugleich zuckte durch sein Gehirn ein wütender Schmerz. Er taumelte. Nur mit Aufgebot all seiner Willenskraft konnte er sich auf den Beinen halten und eine Strecke weiter wanken. Dann war es aus. Er vermochte sich nur noch eben aus dem Wege bis an den Fuß einer Weide zu schleppen. Da brach er zusammen.

Sollte das der Tod sein? Der letzte Bassedow – wie ein Vagabund am Wege – dein Sohn, liebe Mama – dein einziger – bitte, bitte, süße Mama – gieb mir meinen Pallasch – er liegt hier irgendwo – der Obrist mit seiner verfluchten, höhnischen Fratze – wie der Kerl wiehert –

Das Wiehern aus unmittelbarer Nähe war so laut gewesen. Er schlug nun doch die starren Augen wieder auf. Durch einen bleigrauen Nebel sah er vor sich auf dem Wege eine Kutsche, aus deren Fenster sich eine Dame bog, die eine behandschuhte Hand lebhaft in der Richtung nach ihm bewegte und etwas rief, was er nicht verstand. So wenig, wie er wußte, was der Mann in einem Livreemantel und mit einem lackierten Kokarde-Hut von ihm wollte, dessen Gesicht plötzlich ganz nah an seinem Gesicht war, und der ihn an beiden Schultern packte –

»Scheren Sie sich Ihrer –«

Er kam nicht weiter. Sein Kopf schlug hintenüber an den Stamm der Weide.

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