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Da Doktor Wachsmut Becky gesagt: einer Zusammenkunft mit dem Grafen stehe jetzt nichts mehr im Wege, hatte sie heute morgen eingehend überlegt, ob sie ihm zuvorkommen oder seinen Besuch erwarten solle. Das erstere schien gastlicher, hatte aber zugleich etwas Tantenhaftes, ihrem Geschmack entschieden Widersprechendes; das letztere war sehr viel kühler, formeller, und doch wohl das Richtige in Anbetracht, daß die Krankheit zwar aus der Rechnung bleiben sollte und mußte, sie aber aus der Zeit vorher, als der Graf noch für sein Thun und Lassen verantwortlich war, ein kleines Konto mit ihm zu begleichen hatte.
Die Minuten zwischen der Ankündigung seines Besuches und seinem Erscheinen deuchten ihr seltsam lang. Sie hatte sich so gründlich auf diese Zusammenkunft vorbereitet, und jetzt schlug ihr das Herz, wie einem Schulmädchen, das in der verwirrten Seele von der mühsam erlernten Examenlektion kein Wort mehr findet. Gleichviel! Es wäre das erste Mal gewesen, daß sie im rechten Augenblick das Rechte nicht gefunden!
Die Thür wurde geöffnet; der große Mann mußte sich ein wenig bücken, daß sie ihn durchließ. Nun kam er auf sie zu. Sie war ihm rasch entgegengegangen. Er ließ den Arm von Peters los, um ihre dargereichte Hand zu ergreifen, über die er sich tief beugte, ohne sie zu küssen. Er hatte die der armen Pflegerin geküßt. Ein Kuß auf die Hand der Herrin dieses Hauses in diesem Augenblick erschien ihm banal.
Peters hatte den Grafen zu einem Fauteuil geführt, auf den Becky gedeutet; ihm ein Deckchen, das er mitgebracht, über die Knie gebreitet und sich zurückgezogen; Becky in geringer Entfernung ihrem Gast gegenüber Platz genommen.
»Sie kommen mir zuvor, Herr Graf,« sagte Becky; »eine Stunde später, und ich hätte bei Ihnen angeklopft.«
»Das wäre zu viel der Güte gewesen,« erwiderte der Graf.
»Welch ein Glück für uns, dies schöne Wetter!« fuhr Becky fort, um keine Pause aufkommen zu lassen.
Aber der Graf antwortete nicht. Er blickte vor sich nieder, hob dann plötzlich die Augen und sagte mit einer Stimme, die nur bei den ersten Worten ein wenig bebte: »Mein gnädiges Fräulein, ich bin kein beredter Mann. In diesem Falle würde mir aber auch die Beredsamkeit nicht viel helfen. Man kann einen Menschen zu einer Schuld der Dankbarkeit verpflichten, die sich durch Worte nicht abtragen läßt. Die sich überhaupt nicht abtragen läßt. Durch nichts. Und die abzutragen man deshalb nicht einmal versuchen soll. Das ist meine Lage Ihnen gegenüber. Ich sage das, so gut ich es eben vermag. Ich wäre übel, recht übel daran, wenn Sie mich nicht verständen. Ich bin überzeugt, daß Sie es thun.«
»Ich verstehe Sie, Herr Graf,« erwiderte Becky, »verstehe Sie vollkommen. Wie ich überzeugt bin, Sie verstehen mich und glauben mir aufs Wort, wenn ich sage: ich halte es für einen der größten Glücksfälle meines Lebens, daß mir vergönnt wurde, für Sie zu thun, was ich gethan habe. Damit ist die Schuld der Dankbarkeit, die Sie gegen mich zu haben glauben, ausgeglichen. Völlig. Und nicht wahr, Herr Graf, wir kommen auf das Kapitel nicht wieder zurück? Nie! Es ist das erste und das letzte Mal, daß zwischen uns davon gesprochen wird.«
Sie hatte ihm die Hand entgegengestreckt, die er, sich vornüberbeugend, erfaßte und ein paar Sekunden festhielt. Dabei blickten sie sich ebenso lange in die Augen: er in dunkle, unergründliche; sie in blaue, höchst klare, denen sie bis auf den tiefsten Grund zu schauen glaubte. Er sagte sich, daß er nie im Leben ein schöneres Weib gesehen habe; sie sprach bei sich: endlich einmal ein Mann!
Es war wieder eine Pause entstanden, die länger währte als die erste. Seltsam für Becky, die sich ihrer Befangenheit schämte, war es der Graf, der das peinliche Schweigen unterbrach: »Ich nehme an, Ihr Herr Vater ist in unsern Vertrag nicht so weit eingeschlossen, daß es mir nicht vergönnt wäre, ihm zu schreiben – wenn ich erst wieder schreiben kann – und ihm zu danken für die großen Opfer, die er mir gebracht hat.«
»Und die vielleicht nicht so groß sind,« erwiderte Becky, »wenn das Wort Opfer hier überhaupt an der Stelle ist, was ich bestreite. Trotz seiner Jahre ist mein Vater ein vortrefflicher Reisender – er hat so viel Übung darin gehabt! Hundert Meilen – eine Nachtfahrt – das ist für ihn keine nennenswerte Leistung. Sodann: er hat zwei leidenschaftliche Interessen, die ihn ganz erfüllen: seine Wissenschaft und sein einziges Kind. Hier fielen die beiden Interessen zusammen: die Tochter rief ihn zu einem interessanten Fall, wie die Mediziner sagen. Endlich der Patient selbst. Ich weiß, daß mein Vater an Ihnen einen sehr lebhaften persönlichen Anteil nimmt.«
»Er hat es mir bewiesen,« sagte der Graf.
»Und wird es weiter beweisen, sobald und so oft sich eine Gelegenheit dazu findet.«
»Was alles nicht ausschließt, daß Sie es sind, die mir das Leben gerettet hat.«
»Der reine Zufall, der mich die Augen gerade nach der Seite, Ihnen zu, wenden ließ.«
»Das mag man Zufall nennen, obgleich ich das Wort ungern brauche. Alles andere – alles, was dann geschah – auf Ihren Befehl, nach Ihren so umsichtig, so fürsorglich angeordneten Dispositionen – ist es nicht. Das bleibt Ihnen. In meinen Augen für immer.«
»Unser Vertrag, Herr Graf!« sagte Becky, lächelnd mit dem Finger drohend.
»Ich habe die beste Absicht, ihn zu halten. Verzeihen Sie der Schwäche meines Kopfes, wenn mir das heute noch nicht vollständig gelingt.«
»Es wird morgen schon besser gehen.«
»Wenn ich mich morgen wieder vorstellen darf.«
»Sie werden mich stets zu einem Plauderstündchen bereit finden. Und bitte, wählen Sie die Zeit ganz nach Ihrem Behagen! Sie sind vorläufig noch Rekonvalescent und müssen sich schonen. Ich brauche auf mich keinerlei Rücksichten zu nehmen. Sie wollen aufbrechen? Dann erlauben Sie, daß ich Ihren Diener –«
Sie hatte die Hand nach dem Knopf der elektrischen Klingel ausgestreckt.
»Noch einen Moment, bitte!« sagte der Graf.
Sie zog die Hand zurück. Er stand, sich auf die Lehne des Stuhls stützend, mit gesenkten Augen: »Gnädiges Fräulein! Ich habe Ihnen etwas abzubitten. Etwas, das einer Dame gegenüber in den Augen eines Mannes schlimmer ist als ein Verbrechen: eine Ungezogenheit. Es betrifft, wie Sie wissen, das Bild in der Kapelle –«
»Aber sprechen wir doch nicht davon!« rief Becky.
»Ich bitte, ich flehe Sie an, mich davon sprechen zu lassen,« sagte der Graf in großer Erregung. »Es lastet schon so lange auf mir – es drückt mir die Seele wund – und jetzt – haben Sie Barmherzigkeit mit mir! Ich war zu der Zeit in trübster, menschenfeindlichster Stimmung, aus Gründen, die ich Ihnen vielleicht später einmal darlegen darf. Ich wollte mich in meine Einsamkeit vergraben; mich schauderte vor der Möglichkeit einer Berührung mit anderen Menschen. Gnädiges Fräulein! ich kannte Sie damals nicht; hatte keine Ahnung von Ihrer Güte, Ihrem Edelmut! Dann griffen tölpelhafte Hände hinein und sorgten dafür, daß meine Ungezogenheit grenzenlos wurde. Lassen Sie Gnade vor Recht ergehen! Nehmen Sie die unterbrochene Arbeit wieder auf! Das Bild soll meiner verstorbenen Mutter gleichen. Ich wollte es für mich allein haben. Damals! Jetzt – gewähren Sie mir meine Bitte!«
»Sobald Sie im stande sind, mir die Honneurs drüben zu machen. Meine Hand darauf!«
Zum drittenmal hielt er die schlanke weiße Hand in der seinen. Es war ihm keine Überwindung mehr, einen Kuß darauf zu drücken.
»Ich danke Ihnen,« sagte er, »tausendmal! Mit den Honneurs freilich meines Hauses – Sie wissen: es ist eine Ruine.«
»Der Morgen hat alles wohl besser gemacht,« citierte Becky. Und fügte, als sie an den Augen des Grafen sah, daß er sie nicht verstand, schnell hinzu: »Ich meine: Jeder ist seines Glückes Schmied. Sie werden sich das Ihre schon schmieden.«
Auf Peters' Arm gestützt, hatte der Graf den Salon verlassen. Becky blickte auf die Thür, durch die seine hohe Gestalt verschwunden war. Ihr Busen wogte; auf ihren Wangen malte sich eine lebhafte Röte; ihre dunklen Augen leuchteten.
»Wenn ich es Ihnen schmieden helfe,« murmelte sie.
*
Die Plauderstündchen, zu welchen Becky den Grafen eingeladen, wiederholten sich an jedem der folgenden Tage und zogen sich in dem Maße, daß ihm die Kräfte zurückkehrten, in die Länge. Sie fanden die nächsten Male noch in dem geschlossenen Salon statt; dann auf der offenen Veranda; endlich sogar im Garten, durch dessen schattige Gänge Becky ihren Gast am Arm führte. Er hatte die ihm gebotene Hilfe zuerst ablehnen wollen; dann aber doch angenommen im Gefühl seiner Schwäche, und weil sie darauf bestand. Später könne er thun und lassen was ihm beliebe; jetzt sei er ihr Schützling; sie habe in jeder Beziehung die Verantwortung für ihn und er sich ihren Geboten zu fügen. Dabei durfte er lächelnd konstatieren, daß sie, die ihm noch um mehrere Zoll über die Schulter reichte, völlig das Gardemaß habe. Mit welchen Empfindungen ihn die unmittelbare Nähe der hohen, elastischen Gestalt durchrieselte; wie er die schlanke Festigkeit ihres Arms bewunderte; mit welchem immer neuen, immer wachsenden Entzücken er in die großen, dunklen, strahlenden Augen sah, die sich nur ein wenig zu heben brauchten, um direkt in die seinen zu blicken – das sagte er ihr nicht.
*
Vor sich selber freilich konnte er es nicht verheimlichen. Und daß er auf dem besten Wege war, sich rasend in das schöne Weib zu verlieben. Ja, daß er es bereits gethan hatte, und nur eine möglichst schleunige Flucht ihn retten könne.
Retten vor einer ziel- und zwecklosen Leidenschaft und allen ihren bitteren beschämenden Folgen.
Er war mit der Liebe des tapferen Ivanhoe für die schöne Jüdin so streng ins Gericht gegangen und geneigt gewesen, das Ganze nur für blaue Dichterphantasie zu halten, noch dazu eines englischen Dichters, der den Kuckuck wisse, wie sich ein deutscher Ritter in einem solchen Falle benehmen würde. Freilich, so weit war ja auch der Engländer nicht gegangen, sich die beiden heiraten zu lassen. Selbstverständlich würde sie Christin geworden sein. Als ob das Wasser es thäte! Die Sache lag doch ein wenig tiefer. Eine Mesalliance blieb es immer. Obgleich die Situation für Ivanhoe insofern ein besseres Aussehen hatte, als er, nach der Aussöhnung mit seinem Vater, in die reiche Erbschaft Cedric des Sachsen eingetreten sein und der normannische König zweifellos für seinen Liebling durch die Belehnung mit weiten Liegenschaften: Feldern und Wäldern, Burgen und Dörfern, reichlich gesorgt haben würde. Hinter ihm stand kein freigebiger König. Er würde den angestammten Besitz nicht aus eines Vaters Hand zurückerhalten, sondern aus der Hand der Dame, die er zum Altare führte. Damit die Leute mit Fingern auf ihn wiesen! die Mäuler zum Grinsen verzögen: der ist klug! der nimmt, wo und wie er's kriegen kann! Pfui Teufel!
Nein! und tausendmal nein! Der bloße Gedanke daran konnte einem die Schamröte auf die Stirn treiben. Sollte er vielleicht vor Peters, dem braven Kerl, die Augen niederschlagen, der gelegentlich meinte: es sei ja hier im Hause alles so weit ganz schön. Und er habe sich gewiß über nichts zu beklagen. Aber so bei jüdischen Leuten, das sei doch nicht das Rechte. Nicht für ihn! ihm sei das schließlich ganz egal. Aber für seinen Herrn Grafen!
Peters machte diese Bemerkung zufällig in dem Augenblicke, als der Graf sich niedersetzen wollte, ein Billet an den Architekten Bartels in Greifswald zu schreiben mit der Bitte, ihn in Polchow aufzusuchen. Er habe Wichtiges mit ihm zu besprechen.
Fräulein Lombard hatte ihm ihren Besuch in Selchow zugesagt, sobald er wieder übergesiedelt sei. Die Übersiedelung sollte in einigen Tagen stattfinden. Wenn er die Zwischenzeit benutzte, ein paar Räume des Schlosses: etwa die Bibliothek und zwei daranstoßende kleinere Gemächer, die dann als Wohn- und Speisezimmer gelten mochten, in eine anständige Verfassung zu bringen? Herr Bartels war ein Socialdemokrat, aber ein äußerst geschickter Mensch. Der in kürzester Frist, wenn man ihm carte blanche gab, aus Greifswald oder Stralsund, vielleicht aus Berlin, das Nötige herbeischaffen, aufstellen, für obligate schickliche Dekoration sorgen würde. Peters' ganz absichtslose Äußerung traf ihn wie ein Schlag, unter dem sich sein Stolz aufbäumte. Was fiel ihm ein? Seine Armut, an der er schuldlos war, herausputzen wollen? Für wen? Für die klugen Augen, die mit einem Blick die Absicht durchschauen und über die Kläglichkeit des verfehlten kindischen Versuchs spöttisch lächeln würden! »Jüdischen Leuten« konnte man nicht ein so plumpes X für ein U machen!
Rebekka! Wie überaus sonderbar war es doch, daß sie denselben Namen führen mußte, wie die Tochter Isaaks von York! Wenn sie sich, wie von Plat behauptet hatte, auch Becky nannte. Das blieb sich gleich. Er zog dann sogar Rebekka vor. Man bekannte damit wenigstens Farbe. Das war und blieb im Leben doch immer die Hauptsache. Ob sie sich noch zum Judentum hielt? So reiche Mädchen pflegten sich sonst taufen zu lassen. Aber der Großvater war Rabbiner gewesen – was ja wohl bei ihnen so viel wie Pastor ist –, der Vater hatte sich einen Juden genannt; warum sollte sie da nicht gleichfalls Jüdin sein? Gesagt hatte sie es freilich nicht. Wie sollte sie auch, da das Thema der Religion in ihren Gesprächen, wohl von beiden Seiten geflissentlich, vermieden war! Und fragen konnte und wollte er niemand, auch nicht Frau Krafft, mit der er sonst auf einem sehr behaglichen Fuße stand, die er aber jetzt nur noch selten sah. Befand er sich doch fast ausschließlich, war er nicht auf seinem Zimmer, in der Gesellschaft von Fräulein Lombard. Sogar bei den Mahlzeiten, die ihnen allein in einem an den Salon stoßenden kleineren Gemach serviert wurden. In dem Hause erinnerte gewiß nichts an Judentum. Indessen, es gab auch emancipierte Juden. Und Peters hätte sonst sicher nicht von »jüdischen Leuten« gesprochen. Seinesgleichen, wie grobkörnig es sonst ist, für dergleichen hat es einen feinen Geruch.
So ließ denn der Graf den Brief an den Architekten ungeschrieben. Aber dies und alle Vorhaltungen, die er sich in der Einsamkeit seines Zimmers machte, konnten nicht verhindern, daß, sobald er sich wieder in Beckys Gesellschaft befand, der Zauber ihrer Schönheit und ihres Geistes mit neuer und stets erhöhter Gewalt auf ihn wirkte. Denn jetzt lag er auch in dem Bann ihrer anmutigen Plauderkunst, ihres schalkischen Humors, ihres blendenden Witzes, ihrer funkelnden Beredsamkeit. Etwas auch nur annähernd Ähnliches war ihm im Leben nie begegnet. Die Unterhaltungen mit den Kameraden in den Dienstpausen, in der Offiziers-Messe, bei den Liebesmahlen – da konnte man nicht viel verlangen: es waren immer dieselben Geschichten. Aber auch die Damen – nur von ihnen zu sprechen – die »Verhältnisse« – das war eine Sache für sich – wenn er da zurückdachte, die Reihe Revue passieren ließ: die vom Re'ment; auf den Hof- und anderen Bällen; das internationale Kontingent auf den diversen Pariser Botschaften; die fragwürdigen Gestalten an dem Theetisch von Excellenz Kernbeißer – Mechtildis von Westen-Sacken, »die sehr entfernte Cousine«, nicht ausgenommen; die exotischen Pflanzen in Ouchy – Miß Arabella Greene mit ihrem: » yes, sir! no, sir!« – großer Gott, welche Sammlung von mehr oder weniger dekollettierten Personen, die er doch, wohl oder übel, für die Repräsentantinnen ihres Geschlechts hatte nehmen müssen!
Es war zum Lachen!
Nur seine Mutter! seine geliebte, seine heilige Mutter!
Und vor dem Einschlafen, das oft lange, lange auf sich warten ließ, faltete er die Hände und betete zu ihr, der Verklärten: daß sie in ihrer himmlischen Seligkeit ihres einzigen Sohnes auf Erden nicht vergessen und nicht zugeben möge, er thue etwas, das ihrer unwürdig sei; wodurch er sich unwürdig mache, sich ihren Sohn zu nennen.
So kam der Tag, an welchem vor dem Herrenhause von Polchow der offene Landauer stand, der ihn nach Selchow zurücktragen sollte. Ein Versuch, wenigstens den Dienern für ihre vielfachen Leistungen sich erkenntlich zu zeigen, war von diesen mit respektvollen Verbeugungen, als mit ihrer Pflicht unvereinbar, zurückgewiesen worden. Frau Krafft war ihm vom ersten Augenblick an so völlig als Dame erschienen; und was sie für ihn gethan, war so vieles, so großes – er konnte es nur mit der tiefen Achtung und der innigen Dankbarkeit bezahlen, die er für sie empfand und zu oft an den Tag gelegt, als daß sie daran hätte zweifeln können. Von den beiden Inspektoren hatte er mit Händeschütteln Abschied genommen. Selbst für Wladimir von Plat hatte er in seiner weichen Stimmung freundliche Worte gehabt und die Aufforderung, ihn in Selchow zu besuchen.
So durfte er sich sagen: wie die Dinge nun einmal lagen, habe er mit allen die Rechnung beglichen.
Mit der Herrin des Hauses stand es anders.
Ihre schlanke, weiße Hand hatte so tief in sein Leben gegriffen – daraus zu lösen war sie nie wieder.
Aber wie es dann werden sollte, mochte Gott wissen.
Becky glaubte es sehr gut zu wissen. In ihrer Seele auch nicht der Schatten eines Zweifels: ihr Wille werde Thatsache werden und sie noch vor Ende des Jahres Frau Gräfin von Bassedow auf Selchow sein. Daß Selchow als Residenz vor Polchow komme, war evident. Den Bassedows hatte es immer als Stammsitz gegolten; hier hatten sie sich, während die anderen Güter mit Pächterhäusern abgefunden wurden, ihr Schloß gebaut. Ein alter Kasten; aber doch sehr stattlich, sehr seigneurial mit seiner Fassade der italienischen Spätrenaissance. Die Neueinrichtung würde eine halbe Million kosten. Das war ja gleichgültig.
Die Frage, ob sie den Grafen liebe, lag näher. Hätte näher gelegen, nur daß ihre Ansichten über Liebe die Naivetät einer solchen Frage ausschlossen. Sie datierten nicht von gestern und hatten durch das Verhältnis mit dem Grafen keinerlei Änderung erfahren. Nicht einmal ihren Sinnen war er gefährlich: er war ihr zu hager. Aber es stand ihm gut; erhöhte das Aristokratische seiner Erscheinung. Die Hände mit den feinen Knöcheln, der zarten Weiße der langen schlanken Finger; die schmalen Füße mit dem hohen Spann waren einfach mustergültig. Alles in allem: zog er sie physisch nicht magnetisch an, stieß er sie auch nicht ab. Das genügte.
Geistig wäre ein wenig mehr wohl zu wünschen gewesen. Dumm war er nicht – durchaus nicht. Aber mit welchem Minimum von Bildung so ein adeliger Offizier sich begnügte und wahrscheinlich sehr gut durch die Welt kam – darüber mußte man doch immer von neuem staunen. Ein bißchen Geographie, eine Handvoll historischer Daten, und was denn sonst vermutlich für das Metier obligatorisch war – basta! Von den Künsten kaum einen Schimmer: ganz antediluvianische Anschauungen; Redensarten, wie sie durch die Gesellschaft laufen und von einem dem anderen nachgesprochen werden. Keine Ahnung von dem, was die neue Zeit in Poesie, Musik, Malerei anstrebte! Dafür Anathema über alle ihre Produkte, wenn man sie auch nicht kannte! Philosophie eine terra incognita! Nachdenken über religiöse, sittliche, sociale Probleme völlig unnötig, da für alles und jedes das Urteil ein für allemal feststand! Daß sie in ihren Unterhaltungen mit ihm wie die Katze mit der Maus gespielt; ihn nur hatte hören lassen, was er offenbar zu hören wünschte oder erwartete; sagen lassen, was er gern sagte; ihn von einem Gegenstand zum anderen geführt, ohne daß er jemals den Faden merkte, an dem sie ihn ganz nach ihrem Belieben lenkte – es wäre das alles höchst amüsant gewesen, hätte man sich nicht immer vorhalten müssen, es könne und müsse auf die Dauer sehr ermüdend und langweilig werden.
Dazu gesellte sich ein Bedenken, das für Becky schwer ins Gewicht fiel.
Mit geistreichen Menschen läßt sich gut streiten. Sie beharren nicht eigensinnig auf einer vorgefaßten Meinung; sind zugänglich für die Gründe des anderen; ja gelangen wohl im Lauf des Disputs von selbst auf den Punkt, wohin man sie haben will. Bei beschränkten Köpfen ist davon keine Rede. Sie haben A gesagt, und dabei bleiben sie. Der andere mag ihnen beizukommen suchen, von welcher Seite er will, er findet überall verschlossene Thüren. Mit diesem Mangel an Beweglichkeit des Geistes pflegt dann ein zäher Eigensinn Hand in Hand zu gehen, den die Betreffenden gern für Charakterstärke ausgeben.
Das war oder schien doch sehr des Grafen Fall. Die Klarheit seiner Augen war ihr gleich im ersten Moment aufgefallen: der Mann trug sich nie mit Hintergedanken, die er sorgfältig verheimlichte. Das war gut. Allmählich aber hatte sie sich überzeugen müssen: diese Klarheit war nicht die des rinnenden Wassers, sondern des Krystalls, dessen Durchsichtigkeit seinem festen Gefüge keinen Eintrag thut. Was dieser Mann wollte, das wollte er ganz.
Auch das mochte hingehen. Einen Schwächling würde sie zu sehr verachtet haben. Der Eigenwille des beschränkten Kopfes mochte als Charakterstärke gelten. Nur sie mußte die Stärkere sein – unbedingt. Es gab Fälle, wo jüdische Banquierstöchter oder reich gewordene Bühnenprinzessinnen abgehauste Edelleute heirateten, die sich dann im Handumdrehen aus dem Liebhaber in den Tyrannen verwandelten, der mit der Reitpeitsche nachhalf, wenn es mit dem bloßen: So will ich! so befehle ich! nicht gehen wollte. Das war hier ausgeschlossen. Es konnte kein Moment kommen, in welchem der Graf aufhörte, ein Gentleman zu sein. Es würde stets Ansicht gegen Ansicht, Wille gegen Wille stehen. Nur daß sie die Siegerin blieb! Bis jetzt hatte sie sorgfältig jede Möglichkeit vermieden, daß Kraft sich hätte mit Kraft messen können. Es hätte kein reines Resultat gegeben. Der Graf liebte sie. Daran zweifelte sie nicht. Aber noch war er frei. Sollte die Probe gelten, so mußte für ihn erst alles auf dem Spiel stehen.
Dann würde die Entscheidung eine für immer sein.
Zu ihren Gunsten natürlich.
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