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Die Wanderungen erregten Aufsehen. Wohl kränkte und ärgerte es den Verfasser, daß man so oft den falschen Maßstab anlegte. Manche Kritik hielt sich an bei solcher Stoffülle auf wissenschaftlichem Urland unvermeidliche Fehler und Ungenauigkeiten, zu deren Ausbesserung eine zweite Auflage des ersten Bandes bald die Möglichkeit bot. Andere, wie der damals noch ziemlich radikale Adolf Stahr, vermerkten bei aller verständnisvollen Anerkennung des Gesamtwerks die scheinbare Neigung zur politischen Rechten übel – sie übersahen und verstanden nicht, daß Fontanes immer freier gewordenes Menschentum Menschentum und nicht Parteitum fesselnd darstellte, wie es ihn um seines menschlichen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Interesses willen gefesselt hatte. Jedenfalls: das Buch gewann überall zustimmende, wißbegierige und der Fortsetzung harrende Leser. Auch Paul de Lagarde und Leopold Ranke, den Fontane beim Oberpräsidenten Meding und in der Dreilindener Tafelrunde des Prinzen Friedrich Karl traf, gehörten dazu. Das Ziel, »die Lokalität wie die Prinzessin im Märchen zu erlösen«, war zum guten Teil erreicht. Die Gründung des Vereins für die Geschichte Berlins geht mit auf Fontanes Werk zurück, wenn er selbst sich auch, seiner parlamentarischen Schwäche sicher, der geforderten Mitwirkung entschlug. Und wenn heute im Märkischen Museum zu Berlin ein besonderer Raum unter Theodor Fontanes Bilde seinen 124 Schreibtisch und Schriften seiner Hand bewahrt, so ist das zugleich ein Zeugnis geschichtlicher Pietät und vaterländischer Dankbarkeit. Hat er doch selbst den Gedanken der Schöpfung einer solchen Schausammlung eingehend erörtert und sich gelegentlich selber als ihren Verwalter geträumt; er fand dann sowohl im Märkischen wie im Hohenzollern-Museum das Gewollte im wesentlichen verwirklicht.
Materiell war das Jahrzehnt von 1860 bis 1870 sorgenfrei, obwohl sich die Kinderschar im Jahre 1864 durch die Geburt eines kleinen Friedrich auf vier vermehrte. Es bot sich die Möglichkeit zu längeren Sommerreisen in den Harz und in das Riesengebirge. Hier zog Erdmannsdorf mit seinen geschichtlichen Erinnerungen Fontane besonders an; aber auch in Krummhübel ist er später häufig eingekehrt, bis ihn schließlich Schmiedeberg am längsten festhielt. Die Wahl dieses Ortes, wo er in dem Amtsgerichtsrat Georg Friedländer willkommene Ansprache fand, ist für das, was Fontane bei solcher Erholung suchte, besonders charakteristisch. Ganz weit draußen, in einem niederen Hause unter Bäumen an der Hirschberger Landstraße, schlug er sein Zelt auf, nahe dem hügeligen Park von Buchwald. Der Gebirgskamm blaute nur eben von der Ferne herüber und gab dem schönen Landschaftsbilde, das jedes von jedermann besuchten Glanzstücks entbehrt, den Abschluß. Überall, fern vom Touristenstrom, Ruhe und Frieden und auch der Gast in unablässiger Verbundenheit mit dem täglichen Leben der Landschaft und ihrer Bewohner. Es kam weniger darauf an, jeden Gipfel zu ersteigen als den reinen Hauch des Gebirges zu atmen und dabei noch so reizvolle Beobachtungen zu machen und Erinnerungen einzuheimsen, wie sie die Skizze vom letzten Laboranten festhält.
In bestimmten Zeitabschnitten besuchte Fontane seinen alten, einsam in Schiffmühle sitzenden Vater, bis dieser 1867 125 heimging. »Wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich,« hat der Sohn von Louis Henri Fontane gesagt. Schon der Knabe in Swinemünde hatte ja weniger in einem Respekts- als in einem Kameradenverhältnis zu dem jugendlichen Vater gestanden, und da der Alte im Grunde nicht alterte, verschob sich der Abstand nach der Mitte hin immer mehr. Diese Fahrten waren wie Besuche bei einem alten Freunde, dem man sehr ähnlich ist, dem man viel dankt und den man doch mit einem uneingestandenen Schmerz ein wenig zu übersehen glaubt. Bei der Mutter, die noch zwei Jahre länger in ihrer Ruppiner Einsamkeit lebte, war es umgekehrt; sie übersah immer noch den Sohn, zumal da ihr die Art seiner Existenz nicht in der Richtung ihrer Lebensauffassung und ihrer bürgerlichen Ideale zu liegen schien. Ihr gegenüber hieß es auch für den Sohn, der selbst Vater geworden war, sich zusammennehmen, wenn man sich dem Vater gegenüber im Eigentlichsten gehen lassen durfte. Und die beiden kleinen Orden, die der Kreuzzeitungsredakteur empfing, und Fontanes Teilnahme am Ordensfest im Schlosse im Januar 1867 werden Emilie Fontane-Labry keine große, aber immerhin eine ernstlichere Beglaubigung gewonnenen Ansehens gewesen sein als seine Bücher und die Deklamation seiner Verse durch die Schüler des Gymnasiums, dem er einst selbst angehört hatte.
Es war das Jahrzehnt der deutschen Einigungskriege. Ihr Beginn erfüllte eine alte Sehnsucht Theodor Fontanes: Schleswig-Holstein wurde von Dänemark frei. Zum zweitenmal fuhr er in Storms Heimat, diesmal nicht, um in ein kämpfendes Heer einzutreten, sondern um die Taten dieser Armee als Historiker zu beschreiben. Im Deckerschen Verlage erschien zwei Jahre später sein Werk »Der Schleswig-Holsteinsche Krieg im Jahre 1864«. Viel umfangreicher, fast zweihundert Bogen stark, war das Buch, das er 1870/71 dem Deutschen Kriege von 1866 126 widmete; trotz der immer zunehmenden Choleraverseuchung war er im Sommer 1866 durch das ganze, noch von unsern Truppen besetzte böhmische, dann durch das deutsche Schlachtengebiet gereist. Im Jahre 1876 schloß er mit dem zweiten Bande des »Krieges gegen Frankreich« diese kriegsgeschichtliche Tätigkeit ab. Alle drei Werke wurden von Ludwig Burger mit Holzschnitten geschmückt, die Widmung des dritten nahm der neue Kaiser an.
Jedes Buch setzt mit einer pragmatischen Darstellung der Vorgeschichte ein. Nun war pragmatische Darstellung nicht eigentlich Theodor Fontanes Blickwinkel, er ging, ob auf englisch-schottischem oder auf märkischem Boden, am liebsten vom Einzelnen, vom starken Eindruck, vom Denkmal oder der Begegnung aus. Aber wie er von solchem Einsatzpunkte her doch zum Gesamtbilde aufgestiegen war, hatte er sich allgemach die Sichtweite für geschichtliche Zusammenhänge so erobert, wie er in der Ballade vom bewegenden Moment zur schicksalhaften Eindichtung einer ganzen volklichen, geschichtlichen, mythischen Atmosphäre gediehen war. Bei der Einleitung zum Schleswig-Holsteinschen Kriege kam ihm sein Zug zum Nordischen, wohin »die Magnetnadel« seines Wesens wies, kam ihm seine frühe innerste Neigung für die meerumschlungenen Herzogtümer weit entgegen. Er tat sich gewissermaßen selbst genug, wenn er hier zunächst das Land Storms und des innig verehrten Klaus Groth in seiner durch die beiden so verschiedenen Meere bestimmten Eigenart schilderte. Begriffe wie Marsch, Geest oder Knick mußte er seinen Lesern erst klarmachen, und so wenig wie mit einer Kenntnis der Landschaft konnte er mit einer solchen der älteren Geschichte Schleswig-Holsteins rechnen – die leidenschaftliche Teilnahme der Zeitgenossen galt doch vor allem den Wirrnissen der letzten anderthalb Jahrzehnte. So erzählt er knapp, aber flüssig, 127 systematisch, aber immer, wie in den »Wanderungen«, mit Belegen aus Chroniken und aus dem Volksmunde. Er unterbricht auch die Kriegsschilderung selbst mit geschichtlichen Erinnerungen, und die Einführung des Gefechts von Missunde durch die farbige Schilderung des von Lepel und Geibel besungenen Dramas zwischen König Erich und Herzog Abel gehört zu den glänzendsten Stellen des Werks.
Für die kriegsgeschichtliche Hauptaufgabe der drei Bücher brachte Fontane neben seinem historischen Sinn und seiner unablässig geweiteten Tatsachenkenntnis ein Wichtigstes mit: Neigung und Verständnis für den militärischen Beruf und kriegerische Tat. Beides stammte am wenigsten aus seiner eigenen Soldatenzeit; wohl war er gerne Gardegrenadier gewesen und erhielt sich zeitlebens das Gefühl für die nur dem Fachmanne spürbaren Unterschiede etwa zwischen einem gedienten Füsilier und einem gewesenen Jäger. Aber seine Ausbildung war damaligem Brauche gemäß nur oberflächlich gewesen, und er hatte sie nicht durch Übungen befestigt. Seine Freude an Heer und Heerwesen, an Krieg und Kriegsgeschichte ist vielmehr ein gemeinsames Eigentum seiner ganzen realistischen Generation. Er teilt sie mit Willibald Alexis und Christian Friedrich Scherenberg, mit Gustav Freytag und Wilhelm Raabe, mit der preußischen Offizierstochter Louise von François wie mit dem schweizerischen Demokraten Gottfried Keller; auch im persönlichen Umgang hat er nach Goethes Vorbild den gebildeten Offizier gern vor anderen Ständen bevorzugt. Und schließlich war der Sohn eines Freiwilligen von 1813, der Tunnelgenosse Adolf Menzels, der Bewunderer Rauchs der Überlieferung des Großen Königs und der Freiheitskriege in besonderem Maße teilhaftig. So sind denn die Gefechtsbilder und Marschskizzen der drei Kriegswerke nicht vom Gesichtspunkt eines 128 Schlachtenbummlers her geschrieben, sondern aus einem sachlichen Verständnis heraus, das die Einzelheiten mühelos zum Bilde formt. Dabei kommt dann auch das Genre zu seinem Recht, etwa in der dem Düppeler Sturm unmittelbar vorhergehenden, an kräftig zeichnenden Einzelheiten reichen Vergegenwärtigung preußischen Lagerlebens.
Das Material, daraus Fontane schöpfte, war kaum minder mannigfach als das für die »Wanderungen«. Die amtlichen »Ordres de Batailles« und Tagesberichte, zum Teil auch schon spätere Veröffentlichungen des Generalstabes bildeten das feste Rückgrat. Dazu kam nun aber eine Fülle von Mitteilungen und Quellen aller Art: Briefe aus dem Felde, gedruckte und ungedruckte, Kriegstagebücher, mündliche Erzählungen von Mitkämpfern und Einwohnern, auch rasch volkstümlich gewordene Überlieferungen, Zeitungsaufsätze, Gelegenheitsgedichte, Regimentsgeschichten. Die Aufgabe blieb, aus Dem, was sich nicht nur ergänzte, sondern auch oft genug widersprach, das getreue Bild zurechtzurücken. Wie meisterlich Fontane das vermochte, zeigt zum Beispiel seine Aufhellung der Ereignisse nach Sedan. Gerade bei solchem Anlaß kam ihm die auf britischem und märkischem Boden geübte Gabe zustatten, der Örtlichkeit ihren geschichtlichen Wert abzulesen. Wo das nüchterne Auge nur Nüchternes, Alltag, Ruine sah, ward dem Dichterjournalisten alles redend. Und wenn er statt einer havelländischen Kirchenbuchnotiz den Bericht über ein Kriegsgericht Garibaldis in die Hände bekommt, so wird aus diesem Einschiebsel zwischen zwei Gefechten ein mit bewußter Kunst geformtes, zur Novellenform hinstrebendes Stück Lebens- und Erlebensbild.
Dazwischen stehen Umrisse der Heerführer, immer zunächst ganz sachlich, ja dienstlich den militärischen Werdegang des einzelnen gebend, aber doch alsbald in aller Knappheit zu 129 Menschengestalten ausgeformt, wie 1864 beim Marschall Wrangel oder in der Vorführung der Familie Garibaldi. Mit großer Feinheit beginnt Fontane da nicht mit dem alten Helden, sondern mit den Söhnen und dem Schwiegersohn. Von diesen dreien, Menotti und Ricciotti Garibaldi und Canzio, heißt es: »Von entschieden aristokratischem Gepräge, auch in ihrer äußeren Erscheinung, gaben sie sich, wenn wir ihre Taten richtig interpretieren, im wesentlichen als die Söhne und Schüler ihres Vaters: tapfer, hochherzig, uneigennützig, voll aufrichtigen Glaubens an das Recht ihrer Idee, dabei für den kleinen Krieg geschickt. Wenn sie sich andrerseits von ihrem Vater unterschieden, so war dies, wie immer bei dem Nachwuchs großer Naturen, zu ihrem Nachteil. Sie entbehrten« – und damit ist Fontane unvermerkt in die Charakteristik des Alten hinübergeglitten – »seiner Naivität, seines Enthusiasmus, seiner Anspruchslosigkeit und glaubten, aus der Größe dessen, dessen Namen sie trugen, einen Anspruch auf Stolz herleiten zu dürfen.« Nun kann Fontane auf eine ausführliche Darstellung des Feldherrn Garibaldi verzichten und fügt nur noch den wirkungsvoll zeichnenden Satz über den Politiker hinzu: »Sein Wesen scheint uns in jener Einseitigkeit begründet, die abwechselnd zur Größe oder zum Unsinn führt.« Er scheidet Garibaldi, den italienischen Patrioten, »den nicht genug zu feiernden Helden«, und den Garibaldi, der als »Vorkämpfer für Welt-Republik« eine Karikatur sei, und zwar eine Karikatur durch die verkehrten Mittel und Wege, die er zur Verwirklichung seiner Ideen einschlug. »Auch der ehrliche Unsinn, der unter Mord und Brand die Welt auf den Kopf stellt, ist verdammenswert.« Aber auch, wo es sich um Männer der zweiten Reihe handelt, begnügt Fontane sich nicht mit blasser Berichterstattung. Wie macht er eine der Nachwelt völlig entschwundene Gestalt gleich dem polnischen General Bossack-Hauke lebendig! 130
Mit der Erstreckung auf die Unterführer tut jedoch Theodor Fontane der geschichtlichen Wahrheit und sich selber noch nicht Genüge. Der geschichtliche Mensch, der dichtende Seelenkünder und der gediente Soldat in ihm wußten, daß auch eine so geniale strategische Führung wie die Helmuth Moltkes und eine so geniale politische Leitung wie die Otto Bismarcks in letzter Linie auf die zusammengeraffte Volkskraft der einzelnen angewiesen sind. Und so versucht denn Fontane, der sozialen Gesinnung der »Wanderungen« auch hier getreu, jeweils nach der Ein- und Vorzeichnung der großen militärischen und politischen Richtsteige den Krieg als ein Kapitel Volksgeschichte aufzurollen. Immer wieder führt er unter Nutzung oft unscheinbarer, gut beglaubigter Einzelzüge ein Bild des kämpfenden, siegenden und leidenden Soldaten vor, dabei manchmal die Stammeseigenheiten der einzelnen Truppenteile glücklich verwendend. So gewinnt er reichere Färbung, neben das gesparte Wort des amtlichen Berichtes, neben die fachliche Auseinandersetzung des Generalstabes, neben das eigene deutende und lebhaft malende Erzählertum treten mit wohlberechneter Wirkung das anspruchslose Gespräch des Teilnehmers an der einzelnen Kampfhandlung, der Feldpostbrief, das aus mitleidender Anteilnahme stammende Erinnerungsbild des Dorf- oder Stadtbewohners im Schlacht- oder Marschgebiet. Was der Elsässer Pfarrer Karl Klein in seiner ausgezeichneten »Fröschweiler Chronik« für einen Ort festlegte, wiederholt Fontane mal für mal. Und all das wird kritisch verwendet, aneinander kontrolliert und abgewogen.
Und mit gleicher Gerechtigkeit wird auch das geschichtliche Urteil ermessen und gefällt. Wohl ist die Gesamthaltung, wie nicht anders zu erwarten, die eines stolzen Preußen, eines Deutschen, der Schlag auf Schlag ein Gutteil seiner Ideale Wirklichkeit werden sieht. Aber dies Hochgefühl führt nicht zur Verfärbung 131 der Ereignisse und noch weniger zur Herabwürdigung des Gegners. Die Bilder österreichischer und französischer Generäle, dänischer Offiziere und Soldaten sind mit dem gleichen belohnten Streben nach Unvoreingenommenheit geformt wie die der unsern. Klassisch in diesem Betracht ist im zweiten Werke die Darstellung des unglücklichen hannöverschen Heeres im Feldzug von Langensalza, ganz aus der Erkenntnis und Stimmung, der auch das (zuerst im Berliner Fremdenblatt gedruckte) Gedicht »Berliner Landwehr bei Langensalza« entsprossen ist.
Berliner Landwehr, Gewehr in Hand,
Steht bei Langensalza im Sonnenbrand,
Ein Staub, eine Hitze, es perlt der Schweiß,
Berliner Landwehr, wird dir's zu heiß?
»Is nich!«
Die Hannoveraner sprengen heran,
Zweitausend gegen achthundert Mann,
Zweitausend Reiter sprengen her:
Ergib dich, Landwehr, streckt das Gewehr!
»Is nich!«
Zweitausend Reiter haben gesiegt,
Was hilft's, Hannover unterliegt.
»Trink mit, Kamerad, aus meinem Glas!«
»»Wir dachten, ihr trügt uns einen Haß!««
»Is nich!«
Niemals, auch in dem französischen Kriegsbuch, etwas von Verkleinerung, gar Verketzerung des Gegners. Wenn einmal der Prätendent Friedrich von Augustenburg mit aller sachlichen Schärfe abgetan wird, weil ihm nach Fontanes Urteil gerade 132 die für einen Beistand und Gefolgschaft heischenden Thronbewerber unerläßlichen Eigenschaften fehlen, so wird andererseits die Gestalt des österreichisch-ungarischen Führers Ludwig Benedek mit höchster Unparteilichkeit in ihren großen Eigenschaften lebensvoll herausgearbeitet. Gar gegenüber Napoleon III. sagt Fontane der landläufigen Schwarzmalerei völlig ab; er beruft sich auf Ludwig Bambergers aus naher Anschauung gezeichnetes Porträt und hellt es noch weiter auf, den Firnis allgemeiner Voreingenommenheit vorsichtig ablösend. Zu allem andern weiß dieser Geschichtschreiber seines Volkes, daß Herabwürdigung eines tapferen Feindes nicht nur unwürdig, daß sie auch dumm ist – sie mindert den Wert der eignen Leistung.
Fontanes Erzählung umgriff wohl den ganzen Umkreis der drei für Deutschlands Schicksal entscheidenden Geschichtsläufte; dennoch lag es diesmal so wenig wie bei den märkischen Büchern in Art und Absicht von Theodor Fontane, völlig geschlossene Aufbauten zu geben. Wenn wir bei dem Bilde aus der Architektur bleiben: wie der Beschauer Fontane vor einem Bauwerk mehr durch das Malerische als durch das Architektonische gefesselt wurde, so ist auch in den drei Kriegswerken seiner Feder das Entscheidende in dem Malerischen umschlossen, das in die klar gezogenen Umrißlinien eingetragen wird. Am stärksten empfindet man das in dem Buche, das durch den geschichtlichen Verlauf der Dinge von vorneherein nicht einheitlich sein konnte, dem über den Deutschen Krieg von 1866. Hier war über zwei ganz getrennte Kriegsschauplätze zu berichten, den böhmischen und den süddeutsch-thüringischen. Zweimal waren Anlauf, Kampf, Entscheidung, Abschluß zu geben, und dies Nacheinander ist kein Ineinander geworden. Dafür ist die geschichtliche Einleitung gerade dieses Werks von durchsichtiger Klarheit und meisterlich gesteigertem Aufriß; sie bleibt als Darstellung lesenswert, wenn 133 sie auch naturgemäß völlig vom Standpunkte damaliger Geschichtsauffassung bestimmt ist, einer Auffassung, die das nach einem Menschenalter von Max Lenz glänzend verarbeitete Material noch nicht kennen konnte.
Wie die Landwehr bei Langensalza, so hat Fontane den Sturm von Düppel und den Gardeangriff bei Chlum in der Weise seiner Fritz-Grenadier-Gedichte besungen. Und in Versen vom echtesten Tunnelton gab er die »Siegesbotschaft« von Düppel, wie sie durch Laatsche-Neumann von Kremmen nach Vehlefanz und dann nach Schwante im Havellande, von Krug zu Krug, überbracht wird. Sein Kriegswerk in den sechs stattlichen Bänden brachte ihm zwar Kaiser Wilhelms des Alten fachmännische Anerkennung und eine kaiserliche Ehrengabe; aber der Erfolg entsprach sonst nicht der ungeheuren Arbeit, der größten seines Lebens. Er hätte es sich bequemer machen können, indem er nach dem Muster mancher Zeitgenossen ein populäres Schilder- und Bilderbuch lieferte; das durfte so wenig seines Amtes sein wie es die Schöpfung eines handlichen Reisebuchs durch die Mark gewesen wäre. Groß aber war der innere Gewinn. Theodor Fontane hatte sich mit diesen Erhellungen eines neuen Höhenlaufs unserer Geschichte seine innerste Teilnahme an ihm von der Seele geschrieben, er hatte sich mit seiner alten unverblendbaren Selbständigkeit ein eigenes Bild der Dinge geschaffen und es in seiner Art mit einer Fülle schwer erspürter Einzelheiten von farbiger Vielfalt ausgestaltet und ausgedeutet. Immer, wann nach dem Siege die Heere durch das Brandenburger Tor die stolze Straße zum Schlosse zogen, grüßte sie Fontanes Zuruf. Und mit dem neuen Kaiser salutierte auch er zuerst und zuletzt vor der erzenen Gestalt des Königs, von der er in noch unerlösten Zeiten an unvergeßlichem Tage die Hülle hatte fallen sehen. – – 134
O trübe diese Tage nicht,
Sie sind der letzte Sonnenschein,
Wie lange, und es lischt das Licht,
Und unser Winter bricht herein.
Dies ist die Zeit, wo jeder Tag
Viel Tage gilt in seinem Wert,
Weil man's nicht mehr erhoffen mag,
Daß so die Stunde wiederkehrt.
Die Flut des Lebens ist dahin,
Es ebbt in seinem Stolz und Reiz,
Und sieh, es schleicht in unsern Sinn
Ein banger nie gekannter Geiz;
Ein süßer Geiz, der Stunden zählt
Und jede prüft auf ihren Glanz.
O sorge, daß uns keine fehlt
Und gönn uns jede Stunde ganz.
Diese Verse klingen, als ob sie in behüteter Enge am häuslichen Kamin entstanden wären – in Wahrheit flossen sie Theodor Fontane in einer Gefängniszelle zu Gueret im Departement Creuse aus der Feder; Fontane teilte das Schicksal Heinrichs von Kleist: er war in französische Kriegsgefangenschaft geraten, und zwar unter dem gleichen Verdachte der Spionage.
Der Anlaß dazu war ganz Fontanisch. Vier Wochen nach der Schlacht von Sedan war er nach Frankreich aufgebrochen, um auf dem Schauplatze des weltgeschichtlichen Geschehens Studien für das dritte Kriegswerk zu machen. In Schottland war er oft genug vom breiten Weg in Douglaspfade abgebogen – er war 135 nicht gemeint, in Frankreich anders zu handeln; und wie mitten im tiefsten Frieden »charterte« er einen Wagen und fuhr am 4. Oktober von Toul, wo kurz vordem sein Sohn, der Fähnrich George Fontane, im Feuer gelegen hatte, nach Vaucouleurs und Domremy. Es war nach seinem Gefühl nicht viel anders, als wenn er mit Freund Lepel übers schottische Hochmoor oder mit Hertz durchs Rhinluch fuhr, und nur der im letzten Augenblick in das Plaid verpackte geladene Revolver kündete von einem leise aufgestiegenen, bald wieder beschwichtigten Mißtrauen; dies galt jedoch mehr dem etwas merkwürdigen blaukittligen Kutscher als der immerhin seltsamen Lage. Ein deutscher Zivilist und Journalist fährt mitten im sich gerade neu entzündenden leidenschaftlichen Kriege weit über die eigenen Linien hinaus ins unbesetzte feindliche Reich. Aber er hätte »jede Mühe und jeden Preis darangesetzt«, er wollte ins Jeanne-d'Arc-Land vorstoßen, wie er das Maria-Stuart-Land ausgespürt hatte. In Domremy vor der Johanna-Kapelle wurde er festgehalten, zwischen seinem Kutscher und einem Franktireur nach Neufchateau zum Unterpräfekten gefahren und dort verhaftet. In Langres sollte ein Kriegsgericht über ihn entscheiden. Er machte in seinem schlechten Französisch eine lange Eingabe, die offenbar den Erfolg eines Aufschubs hatte, und ward nun in die Zitadelle von Besançon übergeführt; hier saß er volle achtzehn Tage, zunächst in einer großen Zelle zu zwölfen, die letzten drei allein in einem Offiziersgemach. Er hatte sich sofort nach Berlin gewendet und gebeten, alle irgend offenen Wege zu seiner Befreiung zu beschreiten. Moritz Lazarus ward ersucht, die Vermittlung des französischen Ministers Crémieux, des Vorsitzenden der Alliance Israélite Universelle, herbeizuführen, Frau von Wangenheim wurde gebeten, ihre katholischen Beziehungen auszunutzen, und jeder tat das Seinige. Sie alle aber hätten das Entscheidende nicht 136 durchgesetzt, wenn nicht Lepel das Kriegsministerium immer wieder angerufen und auf Roons Anregung hin nun Bismarck mit seiner ganzen Autorität für Fontane eingetreten wäre, der preußisch-märkische Staatsmann für den preußisch-märkischen Dichter. Am 25. Oktober brachte der Festungskommandant dem Gefangenen die Nachricht von seiner Freisprechung, nicht freilich von seiner Befreiung. Er sollte vielmehr als Kriegsgefangener auf die Insel Oléron im Atlantischen Ozean gebracht werden, und zwar, auf die wohl von Frau von Wangenheim erreichte Verwendung des Kardinal-Erzbischofs von Besançon hin, mit der Behandlung eines Stabsoffiziers. Über Lyon und Rochefort ging es auf die Zitadelle der kleinen Insel. Der Grund der Festhaltung Theodor Fontanes macht dem Menschenblick der französischen Behörden alle Ehre: sie fanden, daß er »militärische Augen habe«, und wer hätte die deutlicher erwiesen als der Sänger Zietens und Derfflingers, der Schilderer von Hemmingstedt, Missunde und Düppel!
Alles Leid solcher Gefangenschaft hat Theodor Fontane kosten müssen, von der Ungewißheit über Tod und Leben bis zu rauher und überheblicher Behandlung; und, was häufig noch mehr drückt, auch die Misere solcher Lage ward ihm nicht erspart: hetzende Verfolgung auf dem Marsche vom Bahnhof zum Gefängnis, schlechte Unterkunft, Schmutz, Wassermangel. Aber wie sich in stiller Stunde sein Geist in ganz erfüllten Versen zu Gedanken und Gedenken von gesättigtem, ja andächtigem Lebensgleichmaß zu sammeln vermochte, so traten ihm doch auch in diesen Tagen, da Leben und Freiheit am seidenen Faden hingen, menschliche Güte, wärmende Teilnahme unverstellt entgegen. Unter den deutschen wie unter den französischen Mitgefangenen, unter seinen Wächtern und Wärtern, überall genoß er noch unter dem Herzdruck dieser Wochen freundliche Ansprache und eine mit 137 Respekt gemischte Zuneigung, die freilich manchmal durch ihre zeitraubende Äußerung viel Nervenkraft beanspruchten.
Bismarck aber ruhte nicht, und am 26. November empfing Fontane die Mitteilung, daß der französische Kriegsminister seine Freilassung verfügt habe. »Na, das ist schön; da wird sich die Frau Leutnant freuen. Himmelwetter, wenn unsereins doch mitkönnte!« waren die ersten Worte seines braven Oléroner Burschen Max Rasumofsky, eines gefangenen Posener Husaren. Gambettas Ordre in der Tasche, fuhr Theodor Fontane drei Tage später von Oléron ab, auf großem Umweg über Orléans, Toulouse, Cette, Montpellier, Lyon, wie der Reisepaß es vorschrieb, mitten durch das in der neuen Kriegserhebung tief aufgewühlte Land. Er reiste ununterbrochen Tag und Nacht, gegen seine Gewohnheit immer erster Klasse, immer stumm, halbeingehüllt in die Ecke gelehnt, und endlich ging es von Lyon westwärts. Bellegarde, die letzte französische Station! Genf! Viktoriahotel! »Ich warf den Reisesack in die Ecke, mich selber aufs Sofa, kreuzte die Hände über der Brust, atmete hoch auf und sagte das eine Wort: Frei!«
Am 5. Dezember war Fontane wieder in Berlin. Er war auch auf Oléron fleißig gewesen und hatte sich von Rudolf Decker Manuskript und Revision des Buches über 1866 senden lassen. In Berlin ging er alsbald daran, seine französischen Erlebnisse darzustellen. Man riß sich darum, er entschied sich aber für die »Vossische Zeitung« und für Deckers Verlag, und schon zu Anfang 1871 konnte das kaum zehn Bogen starke Buch »Kriegsgefangen. Erlebtes 1870« nach dem Vordruck abgesetzt werden. Nichts war darin verschwiegen oder verwischt, der volle Ernst des Krieges und der eigenen Lage waltete, aber überall behielt auch wieder Fontanes große schriftstellerische Doppelgabe ihr volles Recht: die Fähigkeit, im Gegenwärtigen das 138 Vergangene zu sehen, und der Sinn für das Genrehafte der Menschen und Dinge. Im Gemeinleben mit deutschen Kriegsgefangenen aller Stämme, mit Franzosen jedes Bildungsgrades entfaltet sich die unvoreingenommene Betrachtung, die hinter Nam und Art Gestalt und Geschichte herausspürt; wenn er zu nächtlicher Stunde auf dem Wall über dem Meere das »Sentinelle, prenez garde à vous!« hört, so entfaltet sich balladische Prosa. Und wenn er den Abschiedsbesuch des Festungskantiniers in seiner Zelle schildert, so bringt das Genrebildchen mit der Pinselfeinheit eines Meissonier die Lustspielszene und ein Stückchen französischen Volkscharakters glücklich heraus.
»Herein trat ein großer, schöner Mann in der Uniform eines Zuaven-Tambourmajors. Langer, blauer Rock, blanke Knöpfe, mächtige rote Epauletten, auf der Brust drei Orden, der schwarze Vollbart sappeurartig herniederhängend und auf seiner Oberfläche in zwei Strähnen geflochten, die, nicht viel dicker wie eine Uhrschnur, auf dem mächtigen dunklen Bartuntergrunde lagen. Es war der Kantinier. Man denke sich mein Erstaunen. Die Schönheit dieses wirklich pompösen Mannes wurde nur noch von dem Komischen seiner Erscheinung übertroffen.
Er blieb drei Schritte vor mir stehen, verbeugte sich, legte seine linke Hand auf die Brust und begann feierlich: ›Mein Herr! Die Verhältnisse haben es mir versagt, auf mehrere Schreiben, die ich die Ehre hatte von Ihnen zu empfangen, schriftlich zu erwidern. Es ist mir Bedürfnis, persönlich Ihre Nachsicht dafür zu erbitten. Zugleich spreche ich Ihnen in meinem und meiner Dame Namen mein aufrichtiges Bedauern darüber aus, Sie so früh aus unserer Mitte scheiden zu sehen. Sie werden anders darüber empfinden, aber genehmigen Sie die Versicherung, daß Sie ein Gegenstand unsres besonderen Respektes waren.‹
Hier schwieg er, verneigte sich wieder und wartete ersichtlich 139 auf meine Antwort. Ich ging also auch los. ›Monsieur le Cantinier, es gereicht mir zu einer ganz besonderen Ehre, daß ich noch Gelegenheit finde, Sie in dieser prächtigen Erscheinung vor mir zu sehn. Sie sind ein schöner Mann; verzeihen Sie die Unumwundenheit meiner Ausdrucksweise (er verneigte sich); aber wenn es etwas gibt, das imstande ist, Ihrer Persönlichkeit Vorschub zu leisten, so ist es diese Uniform. Ich sehe zu meiner besonderen Freude, Sie sind dekoriert. Darf ich fragen . . .‹
Er wartete das weitere nicht ab, sondern interpretierte jetzt mit immer lebhafter werdender Stimme: ›C'est pour la Crimée - c'est pour le Mexique, - et la troisième-celle-ci, est und "décoration spéciale" pour mes productions sur le cornet à piston.‹
Ich drückte ihm nochmals meine Freude aus, einen alten Soldaten zu sehn, der wahrscheinlich in drei Weltteilen gefochten habe (er nickte zustimmend), und glaubte nun, nach so vielen Auseinandersetzungen, das Ende der Feierlichkeit gekommen, als er plötzlich einen Schritt näher an mich herantrat und mit bewegter Stimme sagte: ›Monsieur, je ne crains pas de vous offenser, si je prie . . .‹
Ich warf unwillkürlich meinen Oberkörper zurück.
›Monsieur,‹ fuhr er fort, ›permettez, que je vous embrasse.‹
In solchen Minuten ist ein mutiges Hinein ins Unvermeidliche immer das Beste. Nur Initiative kann vor größerem Unheil bewahren. Ich warf mich also auf ihn, drückte die drei Medaillen an meine Brust und schob erst meine linke, dann meine rechte Backe an den beiden Flanken seines mächtigen Hauptes vorbei.
Dann ließ ich los. ›Rasumofsky, Licht!‹ Dieser packte den nächsten Leuchter, riß die Tür auf und beschleunigte dadurch den Rückzug.« 140
Fontane wehrt sich auch bei den zunächst notgedrungenen, dann eifervoll erfaßten Studien über den französischen Volkscharakter, wie er sie in »Kriegsgefangen« anstellt, immer wieder gegen das bequeme Klischee. Auch er brachte nach eigenem Eingeständnis, zum Beispiel dem Begriff »Korse« gegenüber, gewisse Lesebuchvorstellungen vom Charakter der einzelnen Nationen mit, aber niemand war bereiter als er, sie vor dem lebenden Objekt alsbald abzustreifen. So erfreut ihn der unerschöpfliche Schatz von Gutmütigkeit unter den französischen Mitgefangenen allüberall. Auf der andern Seite betrübt ihn der Gesamteindruck einer völligen Zerfahrenheit, die zu nichts eine Herzensstellung einnimmt als zu »La France und zur Ruhmesgeschichte ihres Landes. Dies ist etwas, aber nicht viel; oft mehr eine Gefahr als ein Segen. Losgelöst von allem Tieferen wird auch die Vaterlandsliebe (die dann nur eine gewisse Form persönlicher Eitelkeit ist) leicht zu einer Karikatur, überschlägt sich und gewinnt den Charakter des Hohlen, einer schillernden Seifenblase, eines Nichts«. Er versucht sich diese Erscheinung zu erklären und vergleicht unwillkürlich mit England, das er so genau kannte. Er denkt auch, obwohl er es nicht ausspricht, an 1848, und der einstige Leitartikler der Zeitungshalle schreibt: »Das Furchtbare einer Revolution, sie sei nun berechtigt gewesen oder nicht, habe ich nie so lebendig empfunden wie hier. Diese klugen Engländer! Sie haben genau dasselbe getan, aber sie haben eines vermieden: das Brechen mit der Tradition.«
Ein einziges Mal während dieser Wochen taucht in Theodor Fontane die Erinnerung an die eigene französische Abkunft auf. Als der Greffier von Neufchateau ihm im Lampenschein entgegentritt, steht Fontane wie vom Donner gerührt: er sieht das leibhafte Ebenbild seines Vaters vor sich. Sonst aber rührt sich nirgends und niemals eine innerste Erinnerung an die 141 französische Blutsheimat; wie vordem in Paris ist er sich wie den andern auch jetzt ganz der Deutsche, ganz der Fremde. Aus Anton von Werners Bilde der Kapitulationsverhandlungen von Sedan stehen neben Bismarck, Moltke und Roon die Oberquartiermeister unserer drei Armeen; sie heißen Verdy du Vernois, Bronsart von Schellendorff und du Clair. Wie sie, die Hugenottensprossen, als selbstverständliche Vertreter des preußischen Heeres und Staates mit den französischen Machthabern verhandeln, so fährt der Hugenott Theodor Fontane durchs Land, ein Preuße, ein Deutscher und nichts als ein Deutscher, hier fremder als auf dem nordischen Boden des germanischen Englands.
Und gerade hier geht Fontane die Besonderheit des Berliners noch einmal auf, und er findet das Wort: »Man hat von dem Berliner gesagt: sie hätten alle einen kleinen alten Fritz im Leibe (beiläufig das Schmeichelhafteste, was je über sie gesagt worden ist)«; das Wort klingt ganz verwandt dem Satz des Berliners Lagarde: »Die Berliner erkennen alles an, was sich nicht fürchtet.«
Fontane macht diese Bemerkung auf der Rückfahrt von einer zweiten Reise ins Kriegsgebiet. Er trat sie, trotz den schlimmen Erfahrungen der ersten, schon zu Ostern 1871 an. Sie führte ihn bis vor die Tore von Paris und an das Meer, auf der Rückfahrt über Saint-Quentin und Sedan nach Metz und Straßburg und ward im nächsten Jahr in dem Buche »Aus den Tagen der Okkupation« beschrieben. Mit einer früher nicht erreichten Vollkommenheit durchdringen sich hier Persönliches und Geschichtliches. Da trifft er gleich auf der Hinfahrt Friedrich Theodor Vischer und darf den eben Leutnant gewordenen Sohn begrüßen. Auf der Hohe von Neuville tritt er an des verstorbenen Dumas Grabhügel und findet nicht fern davon den 142 jüngeren Dumas auf dem Spaziergang. Aber all diese verschiedensten Eindrücke und Begegnungen sind in eine runde Darstellung eingebettet. Fontane rollt die Riesenfolge der Ereignisse, die von Spichern bis vor Paris geführt hatten, noch einmal auf, wie sie sich in dem Plane der Studienfahrt organisch stuften und ketteten. Dabei stehen ihm auf der einen Seite äußerst glückliche Bilder und Vergleiche aus dem Alltagsleben zu Diensten; so macht er die Lage von Sedan als eine Tortenform klar, einen Kuchenbau, der aus seiner Mitte eine Art Bergkegel emporsendet. Trifft er damit, für jeden Laien deutbar, das Bild der strategischen Aufgabe vom 1. September 1870 aufs Faßlichste, so erhebt sich an andrer Stelle seine Naturschilderung zu einer in früheren Wanderbüchern selten erklommenen Höhe, auch gerade da, wo ihm – zum Beispiel bei Saint-Quentin – ein dürftiges Gelände dürftige Vorlage bietet. Ebenso sicher gewählt wie meisterlich geformt ist der Abschluß der Kriegsreise auf der Münsterplattform des eben wiedergewonnenen Straßburg. Hier schweifen Blick und Gedanke vom belebten Bilde des Nächsten, des menschenvollen Hochplatzes, in die Geschichte zurück und zur politischen Aufgabe vorwärts. Fontanes politischer Scharfblick spürt es, daß in dem zurückeroberten Elsaß-Lothringen ein völliges Umackern nötig sei, und daß dies »nicht durch Paragraphen, auch nicht durch die besten« geschehen könne. Er sieht Deutschland eine rein geistige Aufgabe gestellt, die nur durch geistige Mittel zu lösen sei: Lehre, Wissenschaft, Predigt, Lied, Presse. Und es klingt uns heute bitter, wenn er schließt: »Das Allerbeste, was Deutschland hat, wird dann gerade gut genug sein für – Elsaß-Lothringen.«
Die erste heimatliche Station ist Wilhelmshöhe, und hier hat Fontane Gelegenheit, im Rückblick auf das Schicksal Louis Napoleons noch einmal seine geschichtliche Urteilskraft und seinen 143 gerechten Sinn zu bewähren. Wie immer, erklärt er der schnell bereiten Phrase den Krieg und ebenso dem polternden Sittenpredigerton Johannes Scherrs. Er läßt den Ablauf der letzten zwanzig Jahre am innern Auge vorüberziehen und findet viele, die jetzt zetern, damals im Heere der Bewunderer Napoleons. Gerade aus seinen Gesprächen im nun republikanischen Frankreich bestätigt er sich die Herrscherfähigkeiten des Kaisers, und wir fühlen uns an den tragischen Ausgang eines späteren, deutschen Monarchenschicksals gemahnt, wenn Fontane seine Betrachtung Napoleons III. mit den in ihrer Knappheit großartig gerechten und historisch lebensvollen Sätzen abschließt: »Er hat den Verfall nicht eingeleitet, aber er hat ihn auch nicht gehemmt. Hier liegt das Maß seiner Schuld; aber wohlverstanden ein begrenztes Maß. Nicht seine Untugenden klagen ihn an, sondern seine Schwächen; seine Fehler lagen mehr nach der negativen als nach der positiven Seite hin. Es fehlte ihm etwas, nicht weil es ihm an der Erkenntnis des Guten oder an dem aufrichtigen Willen dazu gebrochen hätte, sondern lediglich, weil es ihm an der Kraft dazu gebrach.«
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Die dichterische Ausbeute des Deutsch-Französischen Krieges war gering. Ein paar schlagende Balladen von Freiligrath und Eggers, die beiden Schlachtenepen Ernsts von Wildenbruch, noch unter dem mächtigen Eindruck Scherenbergscher Schilderung geformt, darüber hinaus – viel später hervorgetreten – die Verse und Novellen eines andern Mitkämpfers, Detlevs von Liliencron. Neben dieser reinen Poesie aber stehen in der langen Reihe von Kriegserinnerungen die beiden Bücher Theodor Fontanes als Zeitmäler von währender Bedeutung. Daß ihn der Krieg mit allem Ernste gehascht hatte, gab dem ersten 144 die besondere Färbung, machte dies »Kriegsgefangen« aus einem Wander- und Kriegsbuch zu einem geschlossenen, dichterisch durchglühten Stück Selbstbiographie; man sah kein Schlachtfeld, keine marschierende oder kämpfende Truppe, man war auf der anderen Seite des Frontenkampfes; aber gerade so offenbart sich ungesucht und ungewollt ein großes und wertvolles Stück des Lebenshintergrundes, aus dem heraus von drüben der Krieg geführt, das Schicksal getragen wurde. Und in der »Okkupation« erreichten Stadt- und Landschaftsschilderung eine vorher nicht erstiegene Reife. Beide Werke umfassen gewissermaßen das große zweibändige Kriegsbuch von zwei Seiten – in der Mitte der abrollende Kampf, zur Seite die Gefangenschaft hinter der Schlachtlinie und das langsam in den Frieden hinübergleitende, vorerst auch nur hinüberschlotternde Leben der okkupierten Etappe. Ranken um den Hauptbau. Aber in diesem Rankenwerk wächst diesmal soviel von Fontanes eigenstem Leben, daß es selbständiges Sein gewinnt. Und so wirkt mit der Erinnerung großer Entscheidungstage dies Doppelwerk in Liebenswürdigkeit und Ernst, in Genre und Historie fort – nicht reine Dichtung, aber reiner Dichtung nicht unebenbürtig. 145