Heinrich Spiero
Fontane
Heinrich Spiero

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Zehntes Kapitel

Novelle

An der großen und weiterweisenden Entwicklung des deutschen realistischen Romans, die gleich der des geschichtlichen der europäischen Gesamtentwicklung parallel ging, hat der Tunnel über der Spree erst mit Theodor Fontanes Meisterstück Anteil gefunden. Viel stärker ist die geschichtliche Stellung dieses den preußischen lyrischen Realismus vollendenden Dichterkreises zu einer anderen, etwa seit dem Jahre 1850 immer mächtigeren stilistischen Entfaltung innerhalb des Prosaepos: der Novelle. Die stärkere Geltung dieser Form gegenüber dem Roman im Sonntagsverein ward bereits hervorgehoben. Heinrich Smidts Seemannsgeschichten und seine leichten Devrientnovellen zeigen die Richtung noch nicht an, aber Wilhelm Merckels »Frack des Herrn von Chergal« deutet in seiner gehaltenen Wehmut auf des Tunnel-Ahnherrn Chamisso »Peter Schlemihl« zurück. Franz Kuglers stimmungsvoller und streng geschlossener »Werner von Tegernsee« steht in enger Verwandtschaft zu August Hagens »Norika«, und von beiden geht eine unverkennbare Linie zu Achim von Arnim wie zu E. T. A. Hoffmann zurück. Auch Adolf Widmann und Scherenbergs getreuer Schildknappe Leo Goldammer haben reizvolle Novellen geschrieben.

Schon das Hervortreten Franz Kuglers in dieser Reihe zeigt deutlich, wohin die angebahnte Entwicklung fließt: in das vom Tunnel abgespaltene Münchnertum, in dessen Entwicklung die Romantik überhaupt wieder stärker zu Geltung und Einfluß 201 kam. Den anerkannten Großmeister der romantischen Novelle, Ludwig Tieck, wollte Paul Heyse zwar nur mit überstarkem Vorbehalt gelten lassen, aber die Schulung bei Arnim und Eichendorff ist den frühen Novellen von Kuglers Schwiegersohn ebenso abzumerken wie seiner Verskunst, und die italienische Novelle Franz von Gaudys und des auf die Tunnellyrik wirksamen August Kopisch erfuhren im Münchner Kreise ihre Fortbildung und Überhöhung. Von Kuglers »Werner« führt auch ein gerader Weg zu Joseph Scheffels »Ekkehard«.

So ist das Verhältnis der drei bedeutendsten Meister der deutschen Novelle seit der Mitte des Jahrhunderts zu dem literarischen Kreise, darin Fontane zu sich selbst kam, ein durchaus anderes als das der Schöpfer des realistischen Romans. Gottfried Keller hielt sich dem Tunnel fern, aber Theodor Storm war trotz aller antiberlinischen Empfindlichkeit nicht nur ein immer wiederkehrender Beiträger der »Argo«, sondern auch ein oft bewunderter Tischgenosse, und gar Heyse hat vom Tunnel her seine Laufbahn begonnen, bald nachdem der Primaner mit seinen Versen so unerwartet Gnade vor Emanuel Geibel gefunden hatte. Im Gegensatz zu der Breite und Weite, zu der gedehnten Anlage des realistischen Romans strebte diese Novellenkunst zur Beschränkung, zur Einengung gesparten Konflikts, zum goldenen Schnitt in unüberschreitbarem Raume. Heyses Falken-Theorie, Boccaccios schon durch die Überschriften bezeugter Übung abgelauscht und selbständig zum tragenden Gesetz erweitert, ward der klassische Ausdruck der novellistischen Meisterschaft wie Paul Heyses so des ganzen Geschlechtes – sie ist auch fürderhin nicht widerlegt oder überwunden worden. Von diesem Ausgangspunkte der Wertung und Sammlung her veranstaltete Heyse mit dem Lebensfreunde Hermann Kurz den »Deutschen Novellenschatz« und setzte ihn nach Kurzens Tode mit Ludwig 202 Laistner in dem »Neuen deutschen Novellenschatz« fort. Diese achtundvierzig Bände bergen von Goethe her bis zu den erst nach 1880 auftretenden Talenten wirklich die ganze Fülle deutscher Novellenkunst, sie sind eine Sammlung ohne jedes Seitenstück in unserer Literaturhistorie. Bezeichnenderweise stehen im ersten Bande Arnim und Hoffmann nebeneinander; schon im dritten folgt Gottfried Kellers »Romeo und Julie auf dem Dorfe«, und dann erscheinen neben Chamisso, Kopisch und Gaudy alle Novellisten des Tunnels außer Merckel. Und in diesen Schatzbehalter ging nun auch Theodor Fontane ein, um dort wieder mit den drei andern Spätmeistern des Realismus, Rudolf Lindau, Marie von Ebner-Eschenbach und Ferdinand von Saar, zusammenzutreffen.

Das Werk, um das Heyse seiner »erschütternden Kraft« wegen mit immer neuem freundschaftlichem Zudrängen und schließlich mit Erfolg warb, hieß »Grete Minde«. Es war noch im Jahre der endlichen Verabschiedung von »Vor dem Sturm« entstanden. Sein genauer Titel lautet:

Grete Minde

Nach einer altmärkischen Chronik.

Das war die gleiche Einkleidung, wie sie Kugler für den »Werner von Tegernsee« gewählt hatte, den er einen Bericht aus dem Klosterleben des zwölften Jahrhunderts nennt; und August Hagen hatte seine »Norika« sogar als Novelle »nach einer Handschrift des sechzehnten Jahrhunderts« eingeführt, obwohl dies nur ein durchsichtiger Schleier eigener freier Kunstübung war. Auch Fontane hat keineswegs nach einer bestimmten Chronik gearbeitet, Otto Pniower hat vielmehr nachgewiesen, daß Fontane mehrere zeitgenössische Berichte und eine spätere 203 Geschichte der Stadt Tangermünde benutzt, aber ihnen allen eben nur ein paar nackte Gerüstbalken entnommen hat. Wie sehr auch Franz Kuglers schöne Ballade von der Jungfrau Lorenz (Loewe hat sie gleich dem »Douglas« vertont) für die Schöpfung des neuen Werkes anstoßgebend war, erhellt aus der Einflechtung der Lorenz-Sage an bedeutsamer Stelle. Vollends Fontanes Vortrag entbehrt im Gegensatz zu Kugler und Hagen jeder altertümelnden Verfärbung.

Das wichtigste Stoffgehäuse für die Geschichte von Grete Minde bildeten und bilden immer noch die Akten ihres Prozesses. Das kleine Archiv des Tangermünder Rathauses bewahrt sie an besonderer Stelle, und auch der Dichter hat sie unter dem schönen Giebel des Rathauses in Händen gehabt, dessen Nachbildung sich jetzt über dem Fontane-Zimmer des Märkischen Museums erhebt. Das Wesentliche in ihnen wie in allen Berichten, auch dem in Verse gebrachten des Annalisten Caspar Helmreich, ist das furchtbare Unglück des Stadtbrandes vom 13. September 1617, und Grete Minde, die einheimische Ratsherrntochter, die die angebliche Brandstiftung mit dem Foltertode büßt, ist noch dem Ortsgeschichtschreiber von 1729 nur ein Denkmal menschlicher Verworfenheit.

Zweierlei war Fontane somit gegeben: ein grelles Erlebnis, daran sich die Phantasie anranken konnte wie an den Towerbrand, ein rechter Stoff für des Alexis »Neuen Pitaval« oder eine Chamissosche Ballade; dann aber die Örtlichkeit einer schönen, einst mächtigen altmärkischen Stadt, die mit Berlin um den Vorrang gestritten und den Deutschen Kaiser beherbergt hatte.

Aber diese Erinnerung verführt Theodor Fontane nicht nach den märkischen zu einer altmärkischen »Wanderung«; das durfte er in diesem Falle dem aus Rudolf Lindaus Vaterstadt 204 Gardelegen stammenden Ludolf Parisius überlassen. Die verhältnismäßige Breite, mit der er in »Vor dem Sturm« Anlage und Vorgeschichte von Hohen-Vietz und Guse dargestellt hatte, kam hier, in der Novelle, nicht in Frage. Die mit der Mächtigkeit ihrer roten Mauern und Türme den Strom beherrschende Stadt bildet die große Silhouette für Grete Mindes Geschick, mit sparsamer Andeutung, Stimmung gebend, ist sie in den Ablauf der Erzählung etwa so hineingearbeitet, wie Rothenburg in Heyses »Glück von Rothenburg« oder Regensburg in dessen »Reise nach dem Glück«. Selbst das geschichtlich und noch mehr religionsgeschichtlich wichtige Ereignis eines Besuches des kalvinisch gewordenen Kurfürsten Johann Sigismund in der alten Residenz wird kurz abgetan; der Bericht hierüber steht genau in der Mitte des Buches, im elften Abschnitt. Er hat hier zudem keine selbständige Bedeutung, er bildet lediglich die große Grenzscheide in dem Leben der Heldin. Dafür tritt ein anderes mit leitmotivischer Gewalt in »Grete Minde« immer wieder hervor: das Volkslied. Da erklingt im Lorenz-Wald, der Stätte der Lorenz-Sage, das Maienlied:

Habt Ihr es nicht vernommen?
Der Lenz ist angekommen!

In Arendsee hören wir die Schauspieler singen:

Zu Bacharach am Rheine
Da hat mirs wohlgetan,
Die Wirtin war so feine . . .

Und gleich danach:

Der liebste Buhle, den ich hab,
Der liegt beim Wirt im Keller. 205

Der Maiengesang ist wie ein Symbol der letzten scheidenden Jugendfreiheit, denn noch am Tage des Festes kündet sich Gretes Geschick an, und bald danach stirbt ihr alter Vater. Die beiden leichtsinnigen Lieder der Fahrenden aber dienen zur Verstärkung des Gegensatzes: unten singt man, oben liegt ein Sterbender. Das Märchen vom Machandelboom, einmal vordeutend eingeführt, verstärkt diese Verbindung zu altem, raunendem Volksgut ebenso wie die altertümlichen Rechtssprüche. Zwischeninne aber ertönt das nie ausgesungene deutsche Volkslied, unser Mythos von Hero und Leander:

Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander so lieb,
Sie konnten zusammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.
»Ach Liebster, könntest du schwimmen,
So schwimme doch her zu mir . . .«

»Das gilt uns«, sagt Gretes Liebster, als er die Mägde beim Flachsbrechen lachenden Mundes die Verse mit ihrem traurigen Klange singen hört.

Das Lied gilt in der Tat Grete und Valtin viel mehr und schicksalhafter als sie selbst, geschweige denn die Sängerinnen, es ahnen. Einfach wie die Fabel dieses Volksliedes ist der Inhalt der Erzählung. Es ist das uralte Märchenmotiv von der Waise und der bösen Stiefmutter, nur daß es hier nicht die Stiefmutter, sondern die Stiefschwägerin und der Stiefbruder sind, deren Härte zu Flucht und Elend führt. Grete Minde, mehr seelisch als körperlich mißhandelt, hat schon lange mit dem Gedanken der Flucht gespielt. Als die Schwieger in erregter Auseinandersetzung Gretens tote Mutter beschimpft, vergißt sich die doppelt Gescholtene, wirft Trud eine schwere Spange ins Gesicht, und 206 nun wird die heimliche Flucht aus der Heimat mit dem Nachbarssohn Valtin Wirklichkeit. Auf zergangenem Schuh, das Kind des Toten unterm Mantel, kehrt Grete zurück. Wieder findet sie trotz aller Selbstdemütigung Härte und Abweisung. Im Märchen muß die böse Stief verbrennen oder sich auf glühenden Schuhen in den Tod tanzen – hier brennt die ganze Stadt, und Grete, die Brandstifterin, geht mit dem Glockenturm von Sankt Stefan in die Tiefe, des unbrüderlichen Bruders Knaben mit dem eigenen Kinde unter dem Flammenkleid.

»Grete Minde« läuft nicht, wie Gottfried Kellers Novelle von den liebenden Kindern feindlicher Nachbarn, einfugig ab – es ist, wie manches Meisterstück gleichzeitiger Kunst, wie Heyses »Im Grafenschloß«, Lindaus »Kleine Welt«, eine Wiederkehr-Novelle. Sie führt in knapper Rundung zum Ausgangspunkt zurück, erreicht ihn aber auf einer höheren Linie. Wie streng sich das Werk dabei in novellistischer Umgrenzung hält, beweist vor allem das Fehlen jeder Abschweifung in die Zeit zwischen Flucht und Heimkehr. Was diese Jahre umschließen, braucht nur angedeutet zu werden, und wird nur angedeutet; Valtins tödliche Krankheit und das Kind genügen zur Aufhellung, soweit diese im Ausblick auf den Schluß nottut. Und gerade in dieser Verknüpfung von Anfang und Ende zeigt sich die Nähe von Fontanes Novellenstil zu dem seiner Ballade. Wenn Börries von Münchhausen sagt: »Eine Ballade muß zu ihrem Anfang zurückkehren, die Schlange muß sich in den Schwanz beißen, das Ende muß die Teile des Anfangs enthalten« – so gilt das wie für die genannten Novellen Heyses und Lindaus auch für Fontanes »Grete Minde«.

Kein einmal aufgenommenes Motiv bleibt ohne Nachwirkung und Folge. Gretes Verzückung im Theater deutet auf ihr eigenes späteres Leben mit den Spielern hin, die Verirrung der Kinder 207 im Walde beim Maienfest auf die Verirrung ins weglose Leben, und beidem, der zufälligen und der gewollten Abkehr vom Pfade, wird mit der Sage von der im Lorenzwald verirrten Jungfrau präludiert.

So zieht Fontane von allen Seiten her, aber immer mit ganz unaufdringlichen Mitteln, die Stimmungen für dieses eng eingegrenzte Menschengeschick zusammen, bis am Ende die furchtbare Entladung aus der drückenden Schwüle blitzt. Bei der Betrachtung eines Hänflingnestes lernen wir Grete und Valtin kennen – der Anblick des leeren Flecks der einstigen, nun abgestoßenen Schwalbennester am früher auch diesen Zuggästen gastlichen Vaterhause bereitet die heimkehrende Tochter auf ihre Verstoßung vor. Und das Letzte, die Verheerung der Stadt und ihr eigener Flammentod, auch das findet in dem ahnenden Gefühl Gretes bereits eine unbewußte Vorbereitung. Nach der Beerdigung des Vaters ist sie noch einmal in die Kirche zurückgekehrt und hat sich auf die leere Bahre gehockt: »So saß sie und starrte vor sich hin und fröstelte. Und nun sah sie plötzlich auf und gewahrte, daß das Abendrot in den hohen Chorfenstern stand, und daß alles um sie her wie in lichtem Feuer glühte: die Pfeiler, die Bilder und die hochaufgemauerten Grabsteine. Da war es ihr, als stünde die Kirche rings in Flammen, und von rasender Angst erfaßt, verließ sie den Platz, auf dem sie gesessen, und floh über den Kirchhof hin.« Es ist die gleiche, echt balladische Technik der inneren traumbildhaften Vorbereitung auf das unausweichliche Künftige, wie in »Maria und Bothwell«, wo die Königin im Traume murmelnd die künftige Landflucht der Ihren und das fallende Haupt des gerichteten Stuart erblickt, oder wie in der Ballade von Johanna Grey, wo diese den Purpurmantel auf offener Flut treiben und im Bücken ihr eigenes Blut schwimmen sieht. 208

Ludolf Parisius hat ein paar Jahre nach dem Erscheinen von »Grete Minde« eine »Ehrenrettung« der Tangermünderin versucht; er meinte den Akten entnehmen zu können, daß Grete Minde auf der Folter ein unwahres Geständnis abgepreßt, also ein Justizverbrechen verübt worden sei. Fontane war es nicht um eine »Rettung« in diesem Sinne zu tun, nicht einmal, wie in den »Wanderungen« so oft, um eine Zurechtrückung des geschichtlichen Urteils oder Mißurteils. Er hatte lediglich – was freilich im Sinne dichterischer Aufgabe kein »lediglich« war – den »Falken« gefunden, der seiner Dichtung ihr Innen brachte, um das die Teile nun kristallhaft zusammenschossen. Er hatte in seinen Stuart-Gedichten Maria und ihren Clan menschlich verständlich gemacht, ohne ihre Schuld in Unschuld umdichten zu wollen, er ging hier in dem Auf und Nieder der altmärkischen Ratstochter den gleichen Pfad.

Denn Grete Minde ist nicht einfach die gequälte Stieftochter oder Stiefschwester des Märchens. Was Volkslied und Märe in ihrer schlichten, geradlinigen Erfassung und Vortragsart mit den einfachsten Motiven von Lieb und Leid andeuten, sollte in der Novelle des jung-alten Meisters seelisch unterbaut werden. Grete ist vor allem, ganz fontanisch gesprochen, ein »apartes« Kind. Sie scheidet sich auch von ihrer protestantischen Umgebung, die schon den reformierten Landesherrn als einen Abtrünnigen betrachtet, durch das katholische Erbteil ihrer fremden, ausländischen Mutter, sie hat da eine Verwandtschaft mit Kathinka von Ladalinski in »Vor dem Sturm«. Auch sie wirft sich raschen Entschlusses dem geliebten Manne an die Brust und flieht mit ihm. Aber – und das macht ihren größten Reiz aus und entfernt sie von der Polin – sie behält immer etwas Halbkindliches, das sie wieder in ihrer ganzen Anlage dem Märchenhaften, dem Volksliedmäßigen annähert. Sie ist trotzig und 209 eigensinnig, sie beginnt früh mit dem erst halb geahnten Geschick zu spielen; wie ihr das Mysterienstück auf der Rathausbühne größeren Eindruck macht als allen andern Bürgern und Bürgerinnen der prosaischen Stadt, so spielt sie selbst mit sich; etwas Zwiegesichtiges, ja etwas ahnungsvoll Zweitgesichtiges ist in ihrem Wesen. Niemals hat Theodor Fontane Theodor Storms halbheller Kunst näher gestanden als in dieser Mädchengestalt und ihrer Einstimmung. Wie der Schleswiger gern in die wohlhäbige Umgebung ratsgesessener Geschlechter im kleinstädtischen Herkommen Frauen setzt, die im Ausdruck, nüchternem Sinne kaum faßbar, den Stempel anderer Abkunft bewahren

– Und ihre Augen dachten immer
An ihr beglänztes Heimatland –

so ist Grete Minde halb in dem nie geschauten spanischen Wiegenlande der Mutter, deren schwarze Augen so fremd unter den blonden Altmärkern gestrahlt hatten, und von der sie »die feinen Linien, noch mehr das Oval und die Farbe ihres Gesichts« geerbt hat, zu Hause; und noch stärker hebt sie der katholische Einschlag von den andern ab; sie, die Protestantin, trägt eine Reliquie, einen Splitter von Jesu Kreuz – was selbst der hinter aller Herbheit grundgütige Pfarrherr als Götzendienst bezeichnet.

In Gretes Geschick steckt nicht nur ihr Unglück, auch ihr Wille, und was sie tut, da sie die Stadt anzündet und mit dem eigenen Leben das ihres Kindes und das des Neffen darangibt, das tut schon der Wahnsinn aus ihr. Sie hat ihren Willen demütigen wollen; aber wieder ist ihr nur Härte, Geiz, Eiseskälte begegnet, und diesmal noch mehr vom Bruder als von der mit weiblichen Sinnen Unheil witternden Schwägerin. Da erwacht alles, dem Kinde und Valtins Gedächtnis zuliebe zwangvoll Unterdrückte, 210 und der krankhaft übersteigerte Wille schlägt ins Grauenhafte, ins dämonisch Zerstörende um. Auch hier spricht aus der nur halbheimischen Deutschen etwas von jenem über jeden Widerstand hin dem Verderben zulodernden inneren Pathos schottischer Helden und Heldinnen der Fontanischen Ballade.

Dieses innere Pathos äußert sich aber in der Novelle nicht mit entsprechender äußerer Gewalt. Als nach dem gereizten Ausbruch gegenüber Trud Grete den Valtin trifft, den sie in ihrem Vorgefühl schon in den Garten bestellt hat, da sagt sie ihm, was über sein und ihr Leben bestimmt, mit knappen Worten. Wenn sie ihm entgegenläuft, so heißt es noch: »Valtin, mein einziger Valtin. Ach, daß du nun da bist! Es ist gekommen, wie's kommen mußte.« Aber nachdem sie das eben Durchlebte erzählt hat, da fügt sie nur hinzu: »Ich wußt es. Alles, alles. Und ich muß nun fort. Die Nacht noch. Willst du, Valtin?« Mit solcher äußersten Kargheit stellt sie die über ihrer beider Leben entscheidende Situation fest, mit so sparsamen Worten heischt sie von dem Freunde Antwort auf eine Frage, deren Bejahung auch ihn von dem Seinen und den Seinen trennen muß. Auch darin ist sie die Besondere unter den Menschen gefesteten Herkommens, daß ihr die »hierlandes übliche« Fähigkeit des Beplauderns der Dinge abgeht. Aber gerade diese Unfähigkeit, sich auszuströmen, drückt ihr den Stachel ihres Unglücks um so tiefer ins Herz. In einer Szene, die aus einer einzigen Bewegung und elf Worten besteht, wird dem Valtin beides, die Tiefe ihrer Neigung und das Maß ihres Unglücks, klar:

»Sie blickte sich scheuverlegen um. Und als sie sah, daß sie von niemand belauscht wurden, trat sie rasch auf ihn zu, strich ihm das Haar aus der Stirn und sagte: ›Ja, dich hab ich. Und ohne dich wär ich schon tot.‹«

Ist Grete mit Regine, der alten Freundin und Bedienerin, 211 zusammen, so ist diese die Rednerin, Grete die Lauscherin, und auf dem letzten Spaziergang ist es Valtin, der von der großen Tangerschlacht berichtet; es ist sehr charakteristisch, daß der Freund erstaunt, als auch Grete eine Geschichte beibringt, denn er weiß wie sie: sie ist »immer weit fort« in ihren Gedanken. Und daß sie diese Geschichte aus der Nähe weiß, dankt sie dem alten Pfarrer Gigas, der sie ihr als ein Gleichnis ihres Geschicks erzählt hat. Valtin muß »einsehen, daß es nicht anders geht«; Grete fühlt auch, daß es nicht mehr weiter geht, aber sie ist sich der Verbundenheit von Schicksal und Willen in ihrer in fremdes Erdreich gepflanzten Natur gleichwohl vollkommen bewußt.

Valtin: »Du weißt aber, daß wir Geduld üben und unsere Feinde lieben sollen.«

Grete: »Ja, ich weiß es, aber ich kann es nicht.«

Valtin: »Weil du nicht willst.«

Grete: »Nein, ich will es nicht.« –

Als Prosaepiker war Theodor Fontane noch »jung im Handwerk«. So durfte er unter grauem Haar das Recht junger Poeten üben, sich in eigene Gestalten zu verlieben. Das war in »Vor dem Sturm« Renate Vitzewitz gegenüber sein Fall gewesen, und daß Julius Rodenberg diesen seinen »Liebling« so nachdrücklich in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt hatte, dankte er ihm ganz besonders. Diese Renate war fest, aber liebenswürdig, treu und offen, gescheit und klar, vor allem auf hütende und behütete Wärme gestellt gewesen, und ihr Leben schloß in unverbitterter Resignation, die sich des Glücks der Nächsten wie eines eigenen freut. Grete Minde ist fast in allem ihr Gegenstück, viel stärker, weil mit viel stärkerem künstlerischem Nachdruck geformt als Kathinka Ladalinski. Die Glut, zu der es sie zieht, ist nicht die häusliche Herdflamme, und selbst dem alten Vater steht sie unendlich ferner als Renate dem ihren, mehr 212 Enkelin als Tochter. Sie hat schon etwas Unbehaustes, bevor sie dem väterlichen Dach enteilt.

Dennoch fühlt man, wie sehr des Dichters Herz an dieser Gestalt gehangen hat, wie sehr sie ihm innerhalb der Novelle die nächste im Kreise ist. Sie hat auch eine Mitgabe, die gerade Fontanes weiblichen Gestalten von nun an häufig eignet und wiederum in den Bereich seiner schottischen und englischen Balladenheldinnen zurückweist: sie ist in hohem Maße nervös, die erste, die bei Gefühlskrisen »in ein nervöses Fliegen und Zittern gerät«. Und hier offenbart sich eine Verwandtschaft mit des Dichter eigener, bei rascher Entscheidung, starkem Eindruck hervortretender irritabler menschlicher Persönlichkeit. Wie Grete Minde an sich innerhalb kleinstädtischer Nüchternheit ein Stück Poesie darstellt, so hat der Poet ein Stück vom eigenen Wesen in ihr mitschwingen lassen. Und wiederum läßt er, auch in diesem schmalen Rahmen, einen Pfarrer als einzigen etwas von den letzten Gründen dieses Weibmenschen ahnen; Gigas, der starre Lutheraner, ist kein Seidentopf; aber wie dieser Marie Kniehase, die glückliche »Prinzessin«, und ihre Bestimmung am reinsten begreift, so wird Gigas des Besonderen, des Verzagten und auch des Guten in Grete alsbald inne.

Das mannigfach belebende Genre von »Vor dem Sturm« hatte in dieser Novelle keinen Anspruch auf Entfaltung. Die Gesellschaft der Ratsverwandten im Theater und beim Maienfest wird nur eben angedeutet, von den Genossen der Flucht auf dem Elbfloß und von den Puppenspielern nur gerade ein scharfer Umriß gegeben. Und scheinbar ist es eine stilwidrige Ausweitung, wenn die Konventualinnen des ehemaligen Klosters Arendsee doch einläßlicher vorgeführt werden. Nur scheinbar. Denn ihre Bedeutung ist doch nicht nur die, daß sie dem Valtin das von dem Arendseer Pfarrer versagte christliche Begräbnis 213 gewähren. Fontane rückt vielmehr Grete in ein neues und letztes Licht, indem er sie vor die uralten Augen der Domina von Jagow führt. Diese, noch eine Zeitgenossin des Luthers der Wartburg, ist nicht bloß voll gütiger Weisheit für die Verirrte – sie sieht auf ihrer Stirn, in ihren Augen »das Zeichen«. Und als die Nachricht kommt, Tangermünde läge in Asche, da ist die Uralte fern von Staunen. Sie fragt nur sofort:

»Und Grete?«

»Mit unter den Trümmern.«

»Armes Kind . . . Ist heute der dritte Tag . . . Ich wußt es . . .«

Der Bruder hat Grete abgewiesen, der Bürgermeister ihr nicht geholfen, obwohl er vom Rechte des Ratsherrn Minde nicht überzeugt ist und diesen seine Verachtung fühlen läßt, der Pfarrer hat Valtin Grab und Segen verweigert; wie die Bürger von Tangermünde und Arendsee denken, wissen wir nun. Und so stehen um Grete Minde an Valtins Grab die Kinder von Arendsee, sie, die noch im Stande der Unschuld sind, die Puppenspieler, die Ausgestoßenen der Gesellschaft, und – die Nonnen von Arendsee, die Wissenden, die einzigen, denen Frömmigkeit, Herzensgüte und Erhabenheit über Menschenfurcht das rechte Bild Gretes in Schuld und Schicksal malen. War dies Klostergemälde von äußerem und innerem Adel zugleich eine Huldigung für Mathilde von Rohr, so gab es im Gefüge der tragischen Novelle dem Leben und der Verstrickung von Grete Minde aus der Enge heraus in denkbar weiteste Aussicht. Wie den entseelten Leib Valtins sollen wir Grete Mindes und ihres Kindes vollendetes Geschick endlich in die linden Hände jener Macht gebettet wissen, deren Walten Theodor Fontane weit über bewußte Absicht hinaus auch in dem großen Romanwerk als Unterstrom erfühlt und darstellend zu unausweichlich wirkendem Leben gebracht hatte. 214

 


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