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Der epische Durchbruch ist erfolgt. Während Paul Heysesund Wilhelm Raabes erzählerisches Werk Jahr um Jahr neue Ringe ansetzte, während Gustav Freytag die Reihe seiner »Ahnen« mit der ihm eigenen bewußten Gelassenheit weiterführte, hatte Theodor Fontane ein halbes Menschenalter an eine einzige Dichtung gewagt. Jetzt, da endlich zu seiner innersten Befreiung die neue, ihm genügende Sprache gefunden war, riß der Faden der späten, frischen Entwicklung nicht mehr ab. Eben noch ward mit dem »Spreeland« die Reihe der »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« abgeschlossen, und die 1889 hervortretenden »Fünf Schlösser« beendeten ein für allemal die lange Folge der landschaftlich-geschichtlichen, journalistisch-dichterischen Streifzüge durch Friedens- und Kriegsgebiete; was nun noch neben dem epischen Werke an den Tag kommt, ist im engeren oder weiteren Sinne selbstbiographischer Natur.
Im Jahre 1879 werden »Schach von Wuthenow« und »Ellernklipp« begonnen und beendet, 1880 folgt »L'Adultera«, 1883 wird nach längeren Vorarbeiten der »Graf Petöfy« in die Scheuer gebracht, 1884 auf 1885 »Unterm Birnbaum«, 1885 »Quitt«, 1886 wird »Cécile« fertig. Dazwischen entsteht bereits 1881 die »Stine«, bleibt jedoch noch im Pultverschluß. Wie rasch Fontanes Erzählerruhm sich ausbreitet, beweist das verlegerische Schicksal dieser Romane: »L'Adultera« 215 geht, wie vordem »Grete Minde«, in Paul Lindaus Monatsschrift »Nord und Süd« ein, »Ellernklipp« in »Westermanns Monatshefte«, »Graf Petöfy« in »Über Land und Meer«, »Unterm Birnbaum« und »Quitt« in die »Gartenlaube«, »Cécile« ins »Universum«, mit dem »Schach von Wuthenow« blieb Fontane unter dem Striche seiner »Vossischen Zeitung«. Die Handschriften dieser Bücher – die endgültigen Reinschriften besorgte unermüdbar Frau Emilies Hand – weisen die gleichen Merkmale unablässiger Feilung aus wie die der ersten; und immer handelte es sich um eine äußere Umgestaltung, die eine innere Verfeinerung war. Fontane hat für diese seine ausformende Tätigkeit die echt berlinischen, selbstironischen Ausdrücke: pusseln und pulen, ja er steigert sich brieflich mitten aus solcher Arbeit heraus zu der Schillertravestie:
Wär ich kein Puler, hieß ich nicht der Tell.
Er folgte in dieser immer neu auflauschenden, sorgenvollen Kleinarbeit für das Große seiner Natur, die sich schon in den Wander- und Kriegsbüchern um anderen unwichtig dünkende kleine Züge gemüht hatte. Freilich: damals handelte es sich im wesentlichen um Tatsachen der Geschichte oder Abweichungen der örtlichen Lage; jetzt ging es um getreue und schlußgerechte Herausarbeitung seelischer Haltung und ihres körperlichen Ausdrucks, charakteristischen und selbstcharakteristischen Gesprächs, deutender Gebärde. Er gehorchte seiner Natur und doch zugleich dem ästhetischen Gebot des modernen Romans, das Gustav Freytag im Rückblick auf die gesamte Epoche gleichermaßen als Historiker wie als Dichter umrissen hat; er hebt hervor, wie in einem Volke von aufsteigender Lebenskraft jede spätere Zeit über eine stärkere Ausdrucksfähigkeit für inneres Leben verfügt als jede frühere; und er hält den Prosaroman gerade deshalb für 216 den größten und eigentümlichsten Fortschritt in der Poesie des 19. Jahrhunderts, weil ihm die größere Befangenheit und Enge der alten Dichter fehlt. Dem ist hinzuzufügen, daß sich diese »Mannigfaltigkeit und Genauigkeit« als ein »Mehr der modernen Erfindung« vor allem auch in der Erkennbarmachung komplizierter seelischer und nervöser Vorgänge darstellt. Ganz unabhängig von dem Stil, Tendenz und Stoffwandel des romantischen, des jungdeutschen und des realistischen Romans kam diese zuerst im »Werther«, in den »Wahlverwandtschaften«, im »Wilhelm Meister« erreichte Behorchung und nahezu seismographische Wiedergabe geheimer Seelenschwingungen und ihres körperlichen und sprachlichen Ausdrucks wie in der Lyrik so in der Erzählung des 19. Jahrhunderts immer neu als auftreibende Macht zur Geltung; wie stark sich dabei im realistischen Rahmen lyrische und epische Stilmittel einander nähern, zeigt am reinsten und stärksten das Werk Theodor Storms. Und nicht von ungefähr empfanden wir die »Grete Minde« Theodor Fontanes als so ausgesprochen storm-nah.
Und dies war nun Theodor Fontanes epischer Weg. Die zeitgeschichtliche Breite des historischen Romans faltet er nicht mehr auseinander. Auch bei Erzählungen aus der Vergangenheit richtet er seine Gestalten nicht mehr auf die Epoche und ihre Träger aus, nachdem er mit »Schach von Wuthenow« ein letztes Mal, in beschränktem Rahmen, diese Bahn geschritten ist. Er greift jetzt den interessanten Fall heraus. Von den Gesetzen, die er im Beginn von »Vor dem Sturm« über sich aufgehängt hatte, bleibt das eine: »Man muß nicht alles sagen wollen« unvermindert in Kraft, und der Wille zum »anregenden, heiteren, wenn's sein kann, geistvollen Geplauder« bewährt seine alte Stetigkeit. Aber was »Vor dem Sturm« zum historischen Roman mit seiner großen geistesgeschichtlichen Stellung und 217 Aussicht machte, das »Eintreten einer großen Idee, eines großen Moments in an und für sich sehr einfache Lebenskreise« – das lag nicht im Plane dieser neuen Werke. Der Wanderer durch die Mark hatte ja nicht nur der historischen Tragödie von Küstrin menschliche Schicksale abgelesen, er hatte auf den vergilbten Blättern manches Kirchenbuchs, aus dem Munde alter Kantoren Vieles und Herzbewegendes aus dem Umkreise schlichter Menschheit erfahren, und selbst die »Geschichte vom kleinen Ei« war in ihrer Art nicht minder märkisch als das Geschick des Hauses Vitzewitz. Indem Fontane, der Erzähler, den Rahmen bewußt verengte, trachtete er um so mehr nach psychologischer Einläßlichkeit, nach Abschattierung in Gebärde und Ausdruck.
Von den sieben Erzählungen dieses Zeitraums sind zwei ausgesprochene Kriminalgeschichten, in denen Vorbereitung, Begehung und Sühnung eines Verbrechens aus nächster Nähe und mit Herbeiziehung aller Motive geschildert werden. Die stoffliche Verwandtschaft zu »Grete Minde« tritt ebenso klar hervor wie aufs neue die Parallele zum »Neuen Pitaval« von Häring Alexis und Kuglers Schwiegervater Hitzig, zu »Die Sonne bringt es an den Tag« von Chamisso und der »Vergeltung« von Annette von Droste; ihnen stehen »Unterm Birnbaum« und »Quitt« am nächsten, sollte doch das erste Werk sogar die Aufschrift »Fein Gespinst, kein Gewinst«, nachmals »Es ist nichts so fein gesponnen« tragen. Nur ist hier eine gleitende Skala zu beobachten. Den beiden späteren Werken fehlt die märchenhafte innere Bewegung der Tangermünder Novelle, »Unterm Birnbaum« hat in seiner Knappheit geradezu etwas unmittelbar Berichthaftes, und in beiden Erzählungen empfinden wir die Stellung von Hebel und Gegenhebel als beinahe zu mechanisch, ein Gefühl, das sich ja auch vor Annette Drostes Ballade einstellt. 218
Auch in »Ellernklipp« geschieht ein Verbrechen; dennoch scheidet sich diese Erzählung von den andern sehr deutlich. Was sich hier vollzieht, ist nicht das gewaltsame Schlußstück lange überlegter Vorbereitung, sondern eine leidenschaftliche Lebensausschreitung, die im Selbstmord gesühnt wird.
Und ein Selbstmord steht auch am Ende von »Schach von Wuthenow«, von »Graf Petöfy«, von »Cécile«, wo ihm eine Tötung im Duell vorausgeht. Immer also, mit einziger Ausnahme von »L'Adultera«, katastrophale Lösungen von einer Art, wie sie »Vor dem Sturm« nicht kennt. Wer dort stirbt, fällt für die große Idee, der das Werk galt – wer hier dahingeht, zahlt eigene Schuld, er opfert sich nicht einem großen Gedanken; Rache, Geldgier, Eitelkeit, verletztes Ehrgefühl, eifersüchtige Leidenschaft sind die Treiber.
Hier klafft ein tiefer Gegensatz zwischen Fontane und dem größten Meister des früheren Realismus, Wilhelm Raabe. In dessen ganzem Werke spielt wohl das Verbrechen eine Rolle, aber der Selbstmord – mit Ausnahme einer unbedeutenden Jugendarbeit – gar keine. Der jüngere war in einer früheren Entwicklung zu anderen, innerlicheren Lösungen vorgedrungen, die selbst einer Sühne im normalen Vergeltungssinne entraten durften. Bei ihm mag der Verbrecher entlaufen, denn sein Opfer steigert sich auf eine seelische Höhe, aus der das Erfordernis einer erkennbaren Sühne überhaupt nicht mehr vernehmbar wird. Moses Freudenstein im »Hungerpastor«, Dietrich Häußler im »Schüdderump« bleiben auf dem Gipfel ihres äußeren Glanzes, sie leben offenbar ohne Bewußtsein ihrer Schuld; aber wir können sie ohne innere Enttäuschung verlassen, weil ihre Gegenspieler sich so vollkommen von ihnen fortgelebt, solch inneres Wissen erreicht haben, daß die an ihnen begangene Schuld außerhalb des für sie – und für uns – Wesentlichen bleibt. 219
Einem gleichzeitig mit ihm aufsteigenden Spätrealisten aber erscheint Theodor Fontane gerade in diesem Zusammenhange nahe verwandt: Rudolf Lindau. Auch der behandelt in seinen um die Wende der siebziger und achtziger Jahre entstehenden Erzählungen Verbrechen und ihre Sühne; »Im Park von Villers«, Gordon Baldwin«, »Der Seher«, vor allem die rasch mit Recht berühmt gewordene »Kleine Welt« bewegen sich in ihrer Problemstellung um den gleichen Mittelpunkt wie Fontanes Werk dieser Epoche. In der »Kleinen Welt« wird die Theorie aufgestellt, »es sei heute für anderthalbtausend Millionen Menschen Platz in der Welt, aber dies nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß jeder den ihm angewiesenen, einzigen Platz in derselben einnehme. Verlasse er diesen, so sei nirgends auf der Erde, in der menschlichen Gesellschaft, Raum für ihn«. Ein Hörer fragt, was bei dieser Lehre aus dem flüchtigen Verbrecher, der seinen Platz aufgegeben hat, würde. »Der flüchtige Verbrecher? Er ist der stärkste Beweis für die Richtigkeit meiner Theorie! – Der Mann, der einen falschen Namen angenommen, seinem ›Ich‹, seinem Platz in der Welt entsagt hat, existiert menschlich nicht mehr. Eine Fiktion, der Doppelgänger eines unberechtigten Daseins, treibt sich irgendwo in der Welt umher; aber es ist diesem Truggebilde nicht gestattet, ein gesellschaftlich-menschliches Leben zu führen.«
Fontane hat diese Nähe zu Rudolf Lindau offenbar empfunden, sicherlich hat er ihn mit voller Absicht bei seinem Vergleich mit sechs zeitgenössischen Erzählern nicht genannt, besonders da es bei jener Überlegung um den »Grafen Petöfy« ging, bei dem Fontane sich auch in der gesellschaftlichen Sphäre mit Lindaus Stoffwelt berührte. Er führt Handlung und Gestalten nun genau in der von Rudolf Lindau angezeigten Richtung, und zwar in »Quitt« bis zum völlig restlosen Aufgehen des 220 Exempels, so restlos und ohne Bruch wie eben in der »Kleinen Welt«. Sogar die äußeren Tatsachen bieten den Anblick eines ganz parallelen Geflechtes: wie bei Lindau Hellington, so hat bei Fontane Lehnert Menz in Europa einen Mord begangen, trotz großer Charakterunterschiede ist in beiden Fällen gekränktes Ehrgefühl auf sportlichem oder halbsportlichem Gebiet eines der Motive; beide entkommen der sofortigen Verfolgung, beide beginnen über See unter falschem Namen ein neues Leben, und obwohl diese zweite Existenz wieder auf hier und dort abweichenden Bahnen läuft, sind die Abschlüsse wieder von voller Entsprechung: beide sterben nicht für sich, sondern der eine, Lindaus Mörder, als Führer in einer nationalen Aufstandsbewegung, der andere, Fontanes Wilderer, bei der Rettung eines drüben neugewonnenen Freundes.
Wie Lindau, so stellt auch Fontane eine Lehre über das immer wiederkehrende Thema dieser Dichtungen. Er legt sie dem alten Schäfer von »Ellernklipp«, dem einzigen, der die Wahrheit weiß, einem »Erweckten«, in den Mund:
Ewig und unwandelbar ist das Gesetz.
Dies Gesetz heißt in »Ellernklipp«, »Unterm Birnbaum«, »Quitt«: Verbrechen heischt Sühne. Der Heidereiter des ersten Buchs hat voll Eifersucht um die junge Hausgenossin den Sohn im jähen Wortwechsel von der Ellernklippe in die Tiefe gestürzt; er heiratet das Mädchen und nimmt sich das Leben, als er am erregten Tag das vom Volksaberglauben längst vernommene Rufen aus dem unwegsamen Grunde zu hören meint. Der Dorfwirt, in dessen Garten unterm Birnbaum eine Leiche liegt, und dessen Haus von Spukgerüchten umflattert ist, ermordet und beraubt unter der Mitwissenschaft seiner Frau einen Reisenden (spürbar nimmt hier Fontane ein Motiv aus Dumas' 221 »Grafen von Monte-Christo« in verwandter Führung auf); der Mörder findet den Tod an der gleichen Stelle, wo er den Körper des angeblich Ertrunkenen eingescharrt hat. Und Lehnert Menz verschmachtet gar, verwundet, in den Shawnee-Hills, wie er den von seinem Blei getroffenen Förster trotz dem Hilferuf unterhalb der Hampelbaude des Riesengebirges hatte verbluten lassen.
Diese drei Geschichten von schwerer Schuld und schwerer Sühne nach lebenswieriger Überschattung entbehren jener halbschwebenden, volksliedhaften Beseelung, die Fontanes Meisternovelle »Grete Minde« auszeichnet und ihr die unüberhörbare Melodie leiht; sie entbehren aber auch im Letzten der lebendig-selbstverständlichen Führung von Rudolf Lindaus Novellen. In jenem Tenzonenstreit mit Bernhard Lepel hatte Theodor Fontane, wie wir hörten, das Reden gegenüber dem Schweigen verteidigt:
Was du empfindest und erkennst,
Und wär es rein wie Sternenpracht,
Es wird dadurch, daß du es nennst,
Um seine Reinheit nicht gebracht;
Die Liebe selbst, die zitternd schwieg,
Sie muß zuletzt das Schweigen brechen,
Und wie berauscht von Glück und Sieg
Hört Jeder sich im Andern sprechen.
Es klingt ganz verwandt, wenn Rudolf Lindau einmal von Klöstern als von Orten redet, aus denen »das Menschlichste, das Wort« verbannt sei. Lindaus wie Fontanes Verbrecher leiden am erstickten Wort. Fontanes Mahnung:
Banne dein Ich in dich zurück
und ergib dich und sei heiter – 222
hat für sie keine Geltung, denn gerade vor diesem Zurückbannen in ihr belastetes Ich graust ihnen, und sie alle suchen nach dem lösenden Wort, das verraten, aber vielleicht zugleich entsühnen würde. Am deutlichsten wird dies bei Lehnert Menz, er schreibt, mit gebrochenem Hüftgelenk, ohne Hilfe, im Felsengrab, mit dem eigenen Blute das Geständnis seiner Tat nieder. Jeder von ihnen hat das nicht für jeden sichtbare »Zeichen«, das die Domina von Jagow Grete Minde von der Stirn ablas.
Am dürrsten verläuft die Handlung in »Ellernklipp«; man kann hier geradezu von einem Versickern sprechen. Fontane hatte es sich in »Vor dem Sturm« zum Gesetze gemacht, die Personen gleich bei ihrem ersten Auftreten so zu zeichnen, daß der Leser den Unterschied zwischen Haupt- und Nebenpersonen »weg hat«. Auch diesem Selbstgebot ist er hier nicht gefolgt. Der Heidereiter und sein Sohn, Hilde, der Mischling aus Grafen- und Häuslerblut, um den es geht – sie alle bleiben flächenhaft, und die Gestalt des Schäfers, des »Chorus«, ist die einzige mit voller, nachwirkender Schärfe und Größe herausgearbeitete.
In »Unterm Birnbaum« verfährt Fontane anders. Hier treten der Wirt Hradscheck und sein Weib alsbald als die eigentlichen Handlungsträger heraus, aber der»Fall« an sich ist Fontane so wichtig, daß die bis ins Kleine belebende Charakteristik wiederum zu kurz kommt. Hier versickert nichts, im knappen Rahmen rundet sich das Geschehnis von der Vorbereitung über die Tat bis zur fruchtlosen gerichtlichen Untersuchung und dann zum Tode des Mörders und zur Entdeckung, aber das Alles entbehrt der an- und abschwellenden Umkleidung mit den wegweiserhaften, scheinbar kleinen Zügen der ersten beiden epischen Werke. Hier, in »Unterm Birnbaum«, leben wir in einer ausgesprochen kriminalistischen Spannung, nicht, wie vor den Balladen und »Grete Minde«, in helldunkler, dämmerhafter menschlicher Erwartung; 223 als Goethe einmal mit einem Bekannten spazieren ging und dieser einen auf einer Hausschwelle, Kopf in Hand gestützt, sitzenden Knaben fragte: »Worauf wartest du, mein Junge?«, fiel ihm Goethe ein: »Worauf sollte er warten, mein Freund? Er wartet auf menschliche Schicksale.« Dies Erharrungsgefühl hatten wir in »Vor dem Sturm« und »Grete Minde« jederzeit – hier fragen wir, wie Zeitungsleser, die einen Prozeß verfolgen, im Grunde: Wird es herauskommen, und wie wird es herauskommen? Uns fehlt der tiefere menschliche Anteil an Hradscheck, er ist uns eben nur der Träger eines »Falls«.
Die landschaftliche Einbettung dieses Kriminalbildes ist von starkem Stimmungsreiz. Noch einmal erwies sich das Letschiner Jahr für Fontanes Dichtung fruchtbar, das »große und reiche Oderbruchdorf« Tschechin ist in der Erinnerung an den einstigen Wohnsitz der Eltern geschaffen, und der Strom, sein Leben und seine Beziehung zur Landschaft färben das Ganze, wie die von Fontane so oft aufgesuchte Welt des Riesengebirges um Krummhübel »Quitt« nicht nur eingrenzt, sondern auch belebt. Hier spürt man das, was Fontane einen »Dankbarkeitszug« nennen würde; die lieblichen Täler und steilen Hänge, die langgestreckten Dörfer, die Bauden werden so gemalt, wie der Dichter das Alles viele Sommer hindurch gesehen und erwandert hat. Und Fontane gewinnt hier noch eine besondere Folie für den Ereigniskern. Auch in »Ellernklipp« hatte er das versucht, aber in der bei Gelegenheit ausgerufenen gräflichen Gesellschaft doch eben nur angedeutet; in »Quitt« erreicht er nicht nur die Möglichkeit zu einem Tonwechsel, sondern auch zu veränderter Aussicht, indem er Berliner Sommergäste die Begebnisse mit so viel und so wenig Anteil anschauen und vernehmen läßt, wie er selbst von der Sommerfrische her dergleichen als Unbeteiligter an Frau Emilie berichtete. Lehnert Menz tritt so voll heraus wie keine der 224 »Ellernklipp«-Figuren, er fesselt menschlich-dichterisch ganz anders als Abel Hradscheck. Hier geht nun Fontane auch in anderm Betracht einen den Pfaden von »Ellernklipp« und »Unterm Birnbaum« unverwandten Weg. »Quitt« zerfällt in zwei fast genau gleiche Teile: die Riesengebirgs-Hälfte mit der Gipfelung in Lehnerts Tat und die Amerika-Hälfte mit seiner inneren Umkehr und Sühne. Aber während im ersten Teil Landschaft und Umwelt überall auf die Fabel engsten Bezug haben, verflüchtigt sich diese beziehungsvolle Enge im andern Teil. So merkwürdig es klingt: die Darstellung des ihm genau bekannten Stückes Erde unter der Schneekoppe hat gar nichts vom Stil der »Wanderungen« – Nogat-Ehre aber und das Indianer-Territorium, eine von Fontane nie geschaute Welt, werden samt dem Treiben der ausgewanderten Mennoniten ganz in der Art einer »Wanderung« gegeben, und wir geraten in Gefahr, das Grundthema aus dem Sinn zu verlieren. Der Stoff von dem Deutschen, der, schuldhaft oder überdrüssig ausgewandert, sich in Amerika zu sich findet oder nicht findet, war im deutschen Roman des neunzehnten Jahrhunderts oft behandelt worden, flächig von Gerstäcker und Ruppius, bedeutend von Charles Sealsfield, Ferdinand Kürnberger, Wilhelm Raabe. Raabe hatte einmal, in den »Leuten aus dem Walde«, das amerikanische Leben mit breiter Einläßlichkeit geschildert, weil es in der Ökonomie der Dichtung so notwendig war; in den gerade um 1880 hervorgetretenen »Alten Nestern« aber hatte er sich mit knappen Andeutungen begnügt, die eben ausreichten, das veränderte Wesen seines Revenants verständlich zu machen. Theodor Fontane war diese Straße nicht geschritten, alte, ererbte Lust an geschichtlichem und völkerkundlichem Detail hatten ihn über die Grenzen verlockt und raubten der Geschichte von Lehnert Menz die letzte schlüssige Wirkung. Dazu aber kam erkältend jene hier, nach einem langen 225 reinen Leben, starr wirkende Gesetzlichkeit der Vergeltung; Heyse traf ins Schwarze, als er dem Freunde schrieb, Fontane wäre uns eine Antwort auf eine sittliche Frage im höheren Sinne schuldig geblieben, und, gleich Raabe, von der prosaischen an den Kodex der poetischen Gerechtigkeit appellierte.
*
Ewig und unwandelbar ist das Gesetz –
in »Schach von Wuthenow« hat das Wort einen anderen, freilich auch einen den Inhalt völlig umgreifenden Sinn. Hier heißt es: Du bist in deinem Milieu verhaftet und strebst vergeblich ihm zu entrinnen, und du bist zugleich ein Sklave deiner Eitelkeit. Also, wenn man will, Goethes Urwort:
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen –
aber in einer durch das gewählte und betonte Milieu geminderten Vollbedeutung. Denn der »Schach« ist seit »Vor dem Sturm« Fontanes einzige, ausgesprochen geschichtliche Erzählung, und wie dort berührt er sich hier mit Willibald Alexis, dessen »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht« auch die zweifelhaften Zustände der Berliner Gesellschaft im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts zum Leitmotiv gehabt hatte. Er trifft stofflich auch mit George Hesekiels »Vor Jena« und des Alexis' feudalem Gegenspieler Julius von Voß zusammen. Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise, die in »Vor dem Sturm« nicht zu Worte gekommen waren, treten in »Schach von Wuthenow« auf, und der Sohn des dort eingeführten Prinzen Ferdinand, Fontanes Balladenheld Louis, wird mit seinem ganzen Kreise lebendig gemacht. Auf diese Einstellung deutet schon der Untertitel: »Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes.« Der auch bei Alexis charakterisierte Übermut, das in sinkender Zeit grundlose 226 Herrenbewußtsein gerade dieser übermütigen Truppe ist hier nicht nur Folie, aus diesem Kreise heraus allein wird Schachs Leben und Verhalten verständlich.
Der glänzende Rittmeister Schach von Wuthenow, ein Kind des Ruppiner Landes, gilt als bevorzugter Courmacher der schönen Frau von Carayon. In einer heißen Stunde ist ihm die liebenswürdige Tochter anheimgefallen. Und nachdem er, spät, das Natürliche getan, sich ihr verlobt hat, zieht er sich wieder zurück. Warum? Victoire ist pockennarbig, und Schachs Kreis macht sich über die Entscheidung bei der Wahl zwischen Mutter und Tochter lustig. Seine Eitelkeit ist getroffen. Fontane spricht einmal von Menschen, die alles aus dem ästhetischen Fond bestreiten. Schach gehört dazu, aber neben dem ästhetischen steht der Fond gesellschaftlichen Glanzes und feudaler Konvention. Und als der von Frau von Carayon angerufene König ihn auf den Weg der Pflicht zurückzwingt, geht Schach diesen eben nur bis zur Trauung; dann erschießt er sich.
Wie sehr und wie scharf Fontane dieses ihm durch Mathilde von Rohr berichtete Menschliche auf ein Zeitliches abstellen wollte, ergibt ein genau in der Mitte des Werks erzählter Vorgang – er füllt von den einundzwanzig Kapiteln das zehnte und elfte. Die Offiziere des Regiments Gensdarmes verhöhnen durch eine rohe Maskerade, eine Schlittenfahrt, ein »widerliches Spiel«, Zacharias Werners eben im Königlichen Schauspielhause dargestelltes Luther-Drama »Die Weihe der Kraft«. In welchem Geiste das geschieht, dafür zeugt der Schluß des den Streich vorbereitenden Gesprächs. Es ist Juli, und so soll Unter den Linden schneehoch Salz gestreut werden.
»In der Tür drehte sich Diricke noch einmal um, und fragte: ›Aber wenn's regnet?‹
›Es darf nicht regnen.‹ 227
›Und was wird aus dem Salz?‹
›C'est pour les domestiques.‹
›Et pour la canaille,‹ schloß der jüngste Kornett.«
Schach tut nicht mit, aber er sagt doch Diskretion zu. Und so ist auch er mit beteiligt, und wir empfinden es als natürlich, daß die Verstörung über das ekelhafte Schauspiel – eine Hexe von Äbtissin mit johlenden, trinkenden und Karten spielenden Nonnen, dahinter Luther mit Katharina von Bora auf einer Pritsche – Victoire das Geständnis des Geschehenen an die Mutter entlockt. Schachs Schicksal und diese aus zügellosem Hochmut und bravierender Oberflächlichkeit geborene Maskerade – sie sind auch ein »Zeichen«, sie leuchten grell vorwärts auf den Weg, der uns nach Jena führte.
Hier, in dem vollendeten Bau einer Novelle, darin Persönliches und Zeitliches sich wieder zu künstlerischer Einheit durchdrangen, gab Theodor Fontane ein ergänzendes Seitenbild zu »Vor dem Sturm«. Es gehörte zu seiner zeitgeschichtlichen Stellung, daß er in jenem Roman dem neuen, lauten, Erfolg anbetenden Nationalismus ein Bild reiner Vaterlandsgesinnung vorhalten wollte und vorgehalten hat; die Zeit war seither wieder vorgeschritten, das Bürgertum, reich werdend, gesättigt, verlor den Zusammenhang mit dem alten, großen Humanismus wie mit dem Deutschtum der Romantik. Extreme von links und rechts begannen ihre einschnürende Wirkung, materialistische Welterklärung, rechnerische Geldgesinnung, ein grundloser, leerer Kulturoptimismus reckten das Haupt, die Mechanisierung war in vollem Gange. Schon hatte Friedrich Nietzsche in der ersten Unzeitgemäßen die unfreiwillig-komische Straußsche Selbstverherrlichung des bildungsstolzen Philisteriums grausam gezüchtigt. Da erhob aus Fontanes Buch und Wesen die Geschichte ihre Warnung und mahnte an ein Gesetz, nicht nur an das Gesetz 228 der eiteln Befangenheit, dem Schach sich zum Opfer brachte – an das hier unausgesprochene Gesetz der Wiederkehr des Gleichen, aufgefangen im Bilde entseelter Zeit.
*
»Schach von Wuthenow« ist ein Buch der Briefe und Gespräche, auch der Fahrtgespräche, aber alles ist streng zusammengehalten und vernietet. Ein noch viel ausschließlicheres Werkgehäuse von Plauderei und Korrespondenz ist »Cécile«, aber hier überwuchert nun die Lust am »Beplaudern« die währenden Grundzüge der Handlung manchmal bis zur Unerkenntlichkeit. Was im »Schach« gesprochen und abgewandelt ward, entfernte sich nie von der Mittelachse, an sie schoß wie Feilspäne an den Magneten Alles wieder an. In »Cécile« ist von geschichtlichem Streit über Askanier und Hohenzollern, von prosaischen Dichternamen, von reisenden Berlinern die Rede, die doch nicht die Bedeutung der Riesengebirgsgäste von »Quitt« beanspruchen dürfen, höchstens daß ihre Deutung des Wallenstein-Namens Gordon im Thaler Fremdenbuch eine rauhbeinig geformte Prognose auf den düsteren Ausgang geben soll. Der einst besuchte Präzeptor von Altenbrak wird mit breitem Strich konterfeit. In Einem allerdings ist »Cécile« nicht nur »Quitt«, sondern allen früher abgeschlossenen Erzählungen des Dichters überlegen: in der Feinheit und Beseelung der Naturschilderung. Hier, wo er langgelebte Harztage versinnlicht, findet er äußerst sparsame, wunderbar malende Aussichten: »Helles, sonnendurchleuchtetes Gewölk zog drüben im Blauen an ihnen vorüber, und ein Volk weißer Tauben schwebte daran hin oder stieg abwechselnd auf und nieder. Unmittelbar am Abhang aber standen Libellen in der Luft, und kleine graue Heuschrecken, die sich in der Morgenkühle von Feld und Wiese her bis an den Waldrand gewagt 229 haben mochten, sprangen jetzt, bei sich steigernder Tagesglut, in die kühlere Kleewiese zurück.« Und gleich danach heißt es: »Nur die Brise von Dorf und Fluß her wuchs, und die Kornfelder neigten sich und mit ihnen der rote Mohn, der in ganzen Büscheln zwischen den Halmen stand. Unwillkürlich machte Cécile die schwankende Bewegung mit, bis sie plötzlich auf ein Bild wies, das der Aufmerksamkeit beider wohl wert war. Von jenseit der Bahn her kamen gelbe Schmetterlinge massenhaft, zu Hunderten und Tausenden herangeschwebt und ließen sich auf dem Kleefeld nieder oder umflogen es von allen Seiten. Einige schwärmten am Waldesrand hin und kamen der Bank so nahe, daß sie fast mit der Hand zu fassen waren.« So fein sind fast alle Szenen des Romans eingebettet, auf der Veranda des Hotels Zehnpfund in Thale so gut wie im Wirtshaus von Altenbrak und auf den Wegen dazwischen oder auf dem Gartenbalkon eines Hauses am Berliner Hafenplatz. Aber es geschieht oder vielmehr es redet Vieles hinein und mit, was mit der Mittelgestalt des Werkes und dem um sie gruppierten Thema nichts zu tun hat. Auch der erste einer längeren Reihe von Bismarck-Frondeuren tritt hier auf.
Das Gesetz, unter dem die wiederum nur von einem evangelischen Pfarrer ganz verstandene, innerlich katholische Cécile lebt und dem Gordon wie sie verfällt, ist dem Schachschen Lebensverdikte ganz verwandt, nur daß die Frau es ihrer »höchst nervösen« Natur nach – sie ist unter allen Fontanischen Frauengestalten die nervenempfindlichste – mehr leidend als handelnd erfährt. Die einstige Geliebte eines mediatisierten Fürsten wird das, was ihr in der Gesellschaft von da her anhängt, nie los, in ihrer angeborenen rührenden Schlichtheit darf die junge Frau des alten Obersten nie zu ihrem eigentlichen, auf Einfaches und Natürliches gestellten Selbst gelangen, und wo sich ein von 230 allem Druck der Vergangenheit unberührtes menschliches Verhältnis anbahnt, da schattet unausweichbar das Gewesene, das Geschick des bettelarmen, wunderschönen, einst halbwegs verkauften adeligen Fräuleins hinein. Auch der junge Leutnant a. D. von Gordon entgeht solch innerer Verwirrung nicht, sie ist im entscheidenden Augenblick mächtiger als sein reines Liebesgefühl, er hört Schranken brechen, die sonst gegeben wären, er legt ungescheut eine ihm nicht zukommende Eifersucht an den Tag, er fällt durch die Hand von Céciles Gatten, und sie folgt nicht etwa ihm in den Tod, sie endet ein Leben, dem das Gesetz verwehrte, still und ungeschüttelt von aus dem Einst langenden Gewalten dahinzutreiben, ein Leben, das um eben dieser Gesetzlichkeit willen ein anderes in den Tod zwang.
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Ewig und unwandelbar ist das Gesetz –
im »Grafen Petösy« heißt es statt dessen minder feierlich aus einem anderen alten Munde: »Und überhaupt, was war denn geschehen? Es war nur geschehen, was geschehen mußte. War er nicht allzeit so stolz gewesen auf seine Kenntnis von Welt und Menschen, vor allem auch auf sein Freisein von Vorurteilen in dem, was er den natürlichen Gang der Dinge nannte? Was gab ihm jetzt ein Recht zu der Annahme, daß ihm zuliebe dieser natürliche Gang der Dinge sich in sein Gegenteil verkehren werde?«
Der natürliche, der unausweichliche »Gang der Dinge« in diesem Werk wie in »L'Adultera« aber läßt sich in ein Sprichwort einfangen: Jung zu Jung und Alt zu Alt. Dieses schon in »Ellernklipp« mitsprechende Lebensreglement wird hier zur thematischen Fuge. Aber die Melodie überzeugt nicht. Denn weder Franziska Franz in dem Wiener noch Melanie van der 231 Straaten in dem Berliner Roman sind im Grunde auf Jugend, auf Liebe, gar auf Leidenschaft gestellt. Beide haben ältere Männer geehelicht, nicht gezwungen, gar verkauft, sondern ganz bewußten Geistes, die Schauspielerin um der Friedlichkeit des gebotenen Hafens, doch auch um des Titels willen, die junge arme Adelige wegen des zu erheiratenden Reichtums. Über der gräflichen Ehe, die nur eine Schein- und Plauderehe ist, liegt von Anbeginn eine gewisse Düsternis, die aber vor allem von dem melancholischen ungarischen Milieu herrührt; in dem Berliner Kaufmannshausstand vollends zeigt Fontane ein Paar, das trotz dem Altersunterschiede zufrieden und in gegenseitiger Liebe miteinander lebt, reizende Kinder hat und nur gelegentlich durch harmlose Taktlosigkeiten des berlinisch-derben Ehemannes ein paar unbehagliche Augenblicke erfährt. Und so entspringt der Ehebruch in beiden Fällen in Wahrheit viel mehr der Gelegenheit und der Stimmung als einer leidenschaftlich an den Tag tretenden inneren Gesetzmäßigkeit. Für die Linienführung bezeichnend ist es auch, daß hier und dort eine Wasserfahrt mit ihrer schwermütigen Naturstimmung das Pendel zum Ausschwingen bringt. »Wohin treiben wir?« – wie die Frage ertönt, ist die Antwort im Grunde schon gegeben.
Wie in »Cécile« durch Kuckucksruf und Leichenzug, so wird im »Grafen Petöfy« mit hier schon übergroßer Deutlichkeit das Kommende vorbereitet: der später verräterische Ring fällt dem werbenden Grafen bei Franziska zuerst ins Auge, die gesprungene Gutsglocke auf dem Schloß, ein greller Bilderbogen – alles muß wie Pfeilstriche auf einer für den Vormarsch markierten Generalstabskarte das gewisse Ziel anzeigen. Gar in »L'Adultera« weist eine Kopie des diesen Namen tragenden Tintorettoschen Bildes gleich im zweiten, die Überschrift des Buches wiederholenden Kapitel auf Fortgang und Schluß hin. 232 Und van der Straaten, der Besteller, spricht seiner jungen Frau gegenüber fast mit Petöfyschen Worten seine parallele Auffassung vom »Gesetz« aus.
Gras Petöfy endet durch Selbstmord, Franziska Franz, die evangelische Pfarrerstochter, flüchtet sich in die katholische Kirche. Läßlicher gehn die Dinge im van der Straatenschen Hause aus: Melanie heiratet den Geliebten, von dem sie ein Kind unter dem Herzen trägt, und der verlassene Gatte sendet ihr ins neue Heim einen Julklapp, auf dessen Grunde sich noch einmal der Tintoretto, diesmal en miniature, findet. Überzeugend wirkt weder der eine noch der andere Ausgang. Und ein Blick in wirkliche Tiefe tut sich im Grunde nur auf, als Melanie der ersten Begegnung mit ihren verlassenen Kindern entgegengeht. Auch hier ist vom Gesetz die Rede, aber in anderem, in nahezu entgegengesetztem Sinne: »In welche Wirrnis geraten wir, sowie wir die Straße des Hergebrachten verlassen und abweichen von Regel und Gesetz. Es nutzt uns nichts, daß wir uns selber freisprechen.« Das sagt eine Mutter, die sich vor ihren eigenen Kindern fürchtet und zu fürchten Grund hat, und von der es bei ihrem Scheiden aus dem Hause, als der Mann sie halten und alles verzeihen will, heißt: »Sie fühlte deutlich, daß das Geschehene verzeihlicher war als seine Stellung zu dem Geschehenen. Er hatte keinen Gott und keinen Glauben.« Unwillkürlich fragt man weiter: und sie? und kann nur antworten: sie besaß beides ebensowenig.
Wenn in diesen beiden, immer nur auf halber Höhe hinwandelnden Erzählungen die »L'Adultera« bei dem gleichen Mangel an vertieftem Gehalt doch weit mehr fesselt als der »Graf Petöfy«, so liegt das an der stärkeren Meisterung der Umwelt. Schon die Wiener Plauderszenen dieses Romans, mit denen Fontane ein in der Jugendnovelle »Tuch und Locke« 233 umrungenes Milieu wieder aufsuchte, haben etwas Unvertrautes, vollends die ungarischen Vorgänge wirken bei aller Bemühung um genrehafte Fülle mehr erlesen als erlebt, mehr wie Erinnerungen und Anklänge an frühe Lenau- und Beck-Lektüre denn wie unmittelbar Geschöpftes. Warm und lebendig sticht charakteristischerweise von alledem ab, was Franziska aus ihrer norddeutschen Jugend, aus dem Kirchdorf, aus den ihr mit ihrem Dichter gemeinsamen Swinemünder Kindertagen erzählt.
In »L'Adultera« aber, der ein Vorgang in der Französischen Kolonie zugrunde liegt, bewegt sich Theodor Fontane ungezwungen auf engstem heimischen Boden. Durch die Verörtlichung um Petrikirche und Königsplatz, im Tiergarten und an der Oberspree wird die Tönung lebendiger, intimer. Auch die Berliner Nebengestalten, der Generalstäbler, der Legationsrat (der zweite Bismarck-Gegner), der Polizeirat, die beiden alten Hausfreundinnen haben die reale Selbstverständlichkeit, die den österreichischen Offizieren, gar den Ungarn hoch und niedrig mangelt. Es ist noch kein breites Bild von Berlin wie im »Schach«, gar in »Vor dem Sturm«, dennoch eröffnet dieser erste Auslug in das Berliner Leben seiner Gegenwart für Fontane einen neuen Stoffkreis, der nach gleich ausschnittmäßiger Behandlung in »Cécile« für die Werke des letzten Lebensabschnitts mehr als zufällig gewählte Umwelt bedeuten sollte. 234