Heinrich Spiero
Fontane
Heinrich Spiero

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Vierzehntes Kapitel

Selbstbildnis und Vollendung

Beim Herannahen des einundsiebzigsten Lebensjahres trat Fontane von seinem Kritikerposten bei der »Vossischen Zeitung« zurück und wurde, regelrecht wie ein Beamter, mit einem Ruhegehalt verabschiedet. Aber der Redakteur a. D. ist nicht ein Schriftsteller im Altenteil, das achte Jahrzehnt ist von Arbeiten und Plänen dicht gefüllt, sogar zu den »Wanderungen« lenkte er wieder zurück und wollte das »Havelland« durch eine Schilderung des Friesacker Ländchens erweitern, reiste auch zu diesem Zweck auf Gütern der Gegend umher, während die Sommerfahrten nun mit Frau Emilie nach Kissingen, in die »Silberne Kanne« nach Karlsbad oder an die mecklenburgischen Seen gingen. Am 8. November 1894 promovierte ihn die Philosophische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zum Ehrendoktor. »Erich Schmidt und Genossen« hatten den Antrag gestellt, und unter diesen Genossen waren Theodor Mommsen, Herman Grimm und Heinrich von Treitschke, zu dessen Kunst Fontane erst spät, durch Treitschkes Schüler Sternfeld, dann aber mit rückhaltloser Bewunderung den Zugang fand. Der Antrag charakterisiert Fontane als »einen der hervorragendsten Erzähler und Lyriker, in dem Erbgüter der Französischen Kolonie mit deutschen Gaben zu eigentümlicher Anmut verschmolzen sind, der die Landschaften und historischen Erinnerungen der Mark als emsiger Forscher, treuer Patriot, feinsinniger Maler dargestellt und altes wie neues Leben seiner Heimat in 281 mannigfaltigen Dichtwerken gespiegelt, der einer stattlichen Reihe autobiographischer, auch den deutschen Kriegen und der Literaturgeschichte Berlins gewidmeter Denkmäler neulich als Fünfundsiebzigjähriger durch die Schilderung seiner Kinderjahre jugendfrischen Anfang und Abschluß gegeben hat.« Das nach Schmidts Entwurf von Mommsen in klassischem Latein gefaßte Diplom folgt dieser Linie; es rühmt in dreifacher Stufung den poetam eximium gallisch-germanischen Geistes, »gracia pollentem, virtute potentem«, den narratorem ingeniosum, der unser Land von den Anfängen der Siedelung und der Erforschung seiner Denkmäler weise durchschritten und bis zur Gegenwart liebenswürdig gemalt habe, schließlich den civem egregium, der die wechselnden Schicksale des Vaterlandes in Krieg und Frieden mit Lieb und Treu dargestellt habe. Die Überreichung der Urkunde durch den Dekan Ferdinand von Richthofen und Erich Schmidt war Fontane »eine große Freude«. Am Schluß hebt die laudatio gleich dem Antrage hervor, wie Fontane Zustände und Empfindungen seiner Jugend mit jünglinghafter Heiterkeit und Altersrüstigkeit zugleich dargestellt habe. Das zielte auf das Selbstbildnis, das Theodor Fontane nun, da die Sonne sich langsam neigte, zu formen unternahm. Er hatte ihm schon im Jahre 1884 durch das Buch »Christian Friedrich Scherenberg und das literarische Berlin. Von 1840–1860«, präludiert. Scherenberg war am Ende seines Lebens so gut wie vergessen gewesen; in seine stille Wohnung am Auslauf der Potsdamer Straße hinter dem Botanischen Garten kam von den alten Tunnelfreunden nur noch der treue Leo Goldammer, und so empfand Fontane doppelt das Bedürfnis, dem »herrlichen und entzückenden Manne« ein Denkmal zu setzen. Es will schon etwas heißen, wenn Fontane nach unverhüllter Zeichnung gewisser Scherenbergscher Schwächen zu dem den ganzen Mann 282 noch einmal bildhaft erhöhenden Schlusse kommt: »Keinen hab ich gekannt, der in seiner keuschen und lichtvollen Persönlichkeit so den Eindruck des Echt-Germanischen, so den der direktesten Abstammung von Gott Balder gemacht hätte wie er.« Geleitet von gemeinsamen Swinemünder Jugenderinnerungen, schildert Fontane Scherenbergs seltsamen Lebenslauf bis zu dem für ihn, zumal durch die Verbindung mit Heinrich Friedberg und Louis Schneider, schicksalhaften Eintritt in den Tunnel; und nun zieht der Biograph die vollen Register einer polyphonen Erinnerung und läßt die ganze Schar der einstigen Genossen vorüberwandeln. Dabei liegt, ganz Fontanisch, der Nachdruck nicht auf den großen, allgemein bekannten Erscheinungen; von ihnen tritt nur Theodor Storm bedeutend hervor, sonst werden nicht Menzel und Heyse, sondern die halbvergessenen, wie Kugler, Merckel, Hesekiel, Lepel, Eggers, mit dem warmen Anteil währender Dankbarkeit geschildert und halbe oder ganze Originale wie Heinrich Smidt oder der Chevalier Wollheim da Fonseca, von dem Fontane das eine ganze Charakteristik ersetzende, unvergeßliche Wort prägt: »Sah man ihn, so war er ganz Wollheim, hörte man ihn, so war er ganz da Fonseca.«

Nur Scherenbergs Kunst gegenüber kam Fontane nicht mehr zu unbefangenem Standpunkt; im Grunde hielt da die einstige Neigung dessen, der doch für das eigene Wachstum nicht wenig von Scherenberg empfangen hatte, nur dem »Verlorenen Sohn« gegenüber stand. Im übrigen verwendet Fontane hier vorsichtig Hilfskonstruktionen, indem er Urteile Widmanns, Friedbergs, Orellis und Ungenannter wiedergibt. Das in dem Gedicht an Klaus Groth zurückgewiesene Lärmvolle der Ballade machte ihm wohl vieles einst Bewunderte schwer erträglich. Der »Wohllaut« fehlte ihm. Und in einem letzten Brief über Scherenberg-Cook an Lazarus-Leibniz gesteht er, er habe nach Vollendung des 283 aus Liebe und Verehrung geborenen Buches nur »nochmal scheu« in Scherenbergs Dichtungen hineingekuckt. »Liest du das alles noch mal durch, so bist du verloren und er erst recht.«

Dies Werk brachte den Berlinern zu der Zeit, da der Tunnel nur noch aus vier Mitgliedern unter Leo Goldammer als Angebetetem Haupte bestand, ein großes und wichtiges Stück ihrer Literaturgeschichte, das sich, nicht zuletzt durch die Bedeutung des Historikers, zu einem Stücke deutscher Literaturgeschichte erweiterte. Den einmal ergriffenen Stoff des Selbsterlebten zu verengen und sein eigenes Leben zu beschreiben, hatte Fontane keine Neigung. Er stand der deutschen Memoirenliteratur mit zweifelndem Blick gegenüber, fand, daß sie noch in den Kinderschuhen stecke, und ließ von den Werken der Zeitgenossen nur zwei gelten: Otto Roquettes »Siebzig Jahre« und Ludwig Pietschs »Wie ich Schriftsteller geworden bin«. Zudem beschäftigten ihn die unablässig herandrängenden Romanstoffe, manchmal zwei oder drei auf einmal. Das Jahr 1891 war unter solcher gleichzeitiger Mühe um »Mathilde Möhring« und die »Poggenpuhls« vergangen, 1892 begann mit Durcharbeitung von »Effi Briest«. Da packte den Dichter im Frühjahr eine schwere Grippe, von der eine Erholung lange nicht zu erzielen war. Man fürchtete ernstlich für sein Leben, und vier Monate in Schmiedeberg mit Frau und Tochter brachten so gut wie gar keine Besserung. Nun kam nach der Rückkehr in die Potsdamer Straße der Hausarzt Doktor Delhaes auf ein heroisches Mittel: er drängte Fontane zum Schreiben, und zwar ausdrücklich zur Arbeit an einer Selbstbiographie, wie sie Kinder und Freunde längst erbeten hatten. Im November begann er und mußte den vollen Erfolg dieser Therapie zugestehn, er hatte sich »an diesem Buch wieder gesund geschrieben«.

Es hieß »Meine Kinderjahre« und führt bis zu seiner 284 Aufnahme ins Neuruppiner Gymnasium, der Hauptakzent liegt demgemäß auf den Swinemünder Tagen. Aber doch nur eben der Hauptakzent. Denn Fontane weicht fortwährend von der geraden Strecke ab, am weitesten, als er plötzlich ein Kapitel »Vierzig Jahre später«, vielleicht das schönste des Bandes, einfügt, in dem er seinen Vater im Alter und seinen letzten Besuch bei ihm darstellt. Aber auch sonst greift er zurück und vor, zurück besonders in die Vorgeschichte der Fontanes und Labrys, vor in die Schicksale Swinemünder Jugendgenossen. »Ein Bauen geht drauflos, wie bei den Korallen, man kann keinen Grundriß daraus ableiten«, so hat Ricarda Huch den Stil dieser »Wanderung durchs eigene Leben« treffsicher bezeichnet. Wenn das Werk den Untertitel »Autobiographischer Roman« trägt, so geht das nicht auf eine geschlossene dichterische Form, sondern auf den Wunsch zurück, »nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitsfrage hin interpelliert zu werden«.

Würde man von dieser Nebenbezeichnung her zu einem Vergleich mit »Dichtung und Wahrheit« kommen, so ergäbe sich eine völlige Verschiebung von Fontanes Absichten. Eine bis zur novellistischen Rundung im einzelnen dichterisch-menschlich gesteigerte Selbstrechtfertigung und Selbstbekennung lag nicht in Fontanes Plan, er nahm sich dazu auch nicht wichtig genug. Wir kommen Art und Bedeutung seiner selbstbiographischen Arbeiten am nächsten, wenn wir sie neben die beiden von ihm mit Zuneigung anerkannten Versuche der Zeitgenossen, eben Roquettes und Pietschs, halten. Roquette erzählt mit leichter Hand, mit dem Anfang beginnend, von seinen Schicksalen mehr als von seinen Dichtungen – das war ganz Fontanes Fall; noch näher aber rückt er an Ludwig Pietsch, dessen Schilderungen der Berliner Gesellschaft und des Berliner Ausstellungswesens, wie sie da neben Th. F. allwöchentlich in der »Vossischen Zeitung« 285 standen, es Fontane trotz ihrem ungelenken Stil angetan hatten. Und wie in der Zeitung verweilte der Maler-Journalist Pietsch, der echte Danziger Landsmann Robert Reinicks und der Meyerheims, auch in seinen Erinnerungen bei einer Fülle kleiner Züge, farbig hingemalter Situationen. Und dies wurde, zumal in der 1898 erschienenen Fortsetzung »Von Zwanzig bis Dreißig« auch Fontanes eigentlicher Stil. Er beginnt gar nicht erst mit dem Anfang, sondern springt gleich bis zur Beendigung seiner Apotheker-Lehrzeit vor und holt Erlebnisse der drei Lernjahre dann in aller Behaglichkeit nach. Vollends in den zum Teil aus dem Scherenberg-Buch übernommenen Tunnelerlebnissen greift er Kapitel für Kapitel bis in seine Gegenwart, er führt uns plötzlich bis zu Onkel Augusts merkwürdigem Lebensausgang, um von diesem in das Jahr 1848 zurückzukehren. So unpragmatisch wie unsystematisch, gibt er nicht eine Aufrollung seiner Lebensbahn, sondern er lüftet hier und da, wo es etwas Reizvolles zu sehen gibt, den Vorhang und zieht ab und zu auch die zweite Gardine fort, um über den mit dem vierzigsten Jahr begrenzten Schauplatz noch einen Auslug in fernere Hintergründe zu gewähren. Die Neigung zur Anekdote, das väterliche Erbteil, kam niemals vordem so lebhaft und produktiv zur Auswirkung wie hier, wo des Vaters Gestalt immer wieder beschworen werden konnte. Und der »Bummelton« der Tunnelzeit erlebte eine gerechtfertigte Auferstehung aus einem Mischgefühl von Dankbarkeit und stiller Wehmut, das doch die Kritik, auch an nahen Freunden, und an sich selbst vor allem, nie ganz zum Schweigen brachte. Wie sehr hier zum letzten Male der berlinische Realismus des Tunnels in seiner humoristischen Überglänzung in Fontanes Werk emportaucht, lehrt ein Vergleich mit den gleichzeitig mit den »Kinderjahren« zuerst erschienenen Lebenserinnerungen eines anderen Preisträgers des Sonntagsvereins, Heinrich Seidels; dessen 286 »Von Perlin nach Berlin« nannte Fontane in »Von Zwanzig bis Dreißig« reizend – dies Urteil entsprang einer natürlichen Zusammengehörigkeit, denn der Mecklenburger erzählt, und erzählt zum Teil von den gleichen Menschen und Zuständen, mit derselben ungespreizten Einfachheit, der nämlichen Freude an Kleinmalerei und einem, freilich idyllischeren Humor. Beide Werke bezeichnen literaturgeschichtlich das letzte Vermächtnis und den unmittelbaren Auslauf des Tunnels über der Spree.

Dieses Selbstbildnis Fontanes findet seine Ergänzung in seiner Spätlyrik. Freilich – der Begriff Lyrik deckt im Grunde diese Spätverse nicht, in denen der Dichter manchmal zur frühen Übung des Pointierens zurückkehrt. Hier zum erstenmal erscheint Fontane in der Nähe Goethes, des alten Goethe, der Zeitgenossen, Zeitgenössisches und sich selbst in manchmal läßlichen, dann wieder unwirschen Gedichtchen einfing. Ein Vierzeiler wie »Geschichtschreibung«:

»Bei hellem Tageslichte
Hab ich es anders gesehn.«
    »Gewiß. Geschichten und Geschichte
    Wachsen und wechseln schon im Entstehn!«

könnte ohne weiteres in Goethes »Invektiven« stehn, und wenn Fontane seiner »Stine« die Widmung mitgibt:

Graf, Baron und andere Gäste,
Nebenfiguren sind immer das Beste,
Kartoffelkomödie, Puppenspiel,
Und der Seiten nicht allzuviel.
Was auch deine Fehler sind,
Finde Nachsicht, armes Kind!

so spricht er aus demselben Ton, mit dem Goethe etwa »die physiko-mathematische Gilde« bedenkt: 287

Siebenfarbig statt weiß, oval statt rund.
Glaube hierbei des Lehrers Mund:
Was sich hier aus einander reckt,
Das hat alles in einem gesteckt.
Und dir, wie manchem seit hundert Jahr,
Wächst darüber kein graues Haar.

Immer noch übt Fontane die alte Weise der Aufzählung und Aneinanderreihung, so wenn er, wie auf einer Wanderung durch Tiergarten und Zoologischen Garten, schildert, was ihm noch gefällt, oder wenn er in »Arm oder Reich« die Möglichkeiten bourgeoisen Reichtums mit denen eines wirklichen Lebens im großen Stile vergleicht, dort:

Der Grünkramhändler, der Weißbierbudiker,
Der Tantenbecourer, der Erbschaftsschlieker,
Der Züchter von Southdownhammelherden,
Hoppegartenbarone mit Rennstallpferden;

hier:

Mein Interesse für Gold und derlei Stoff
Beginnt erst beim Fürsten Demidoff,
Bei Pussupoff und bei Dolgorucky,
Bei Sklavenhaltern aus Süd-Kentucky,
Bei Mackay und Gould, bei Bennet und Astor,
– Hierlandes schmeckt alles nach Hungerpastor. –

Und nur in seltener, stillster Stunde ringt sich aus dem Innersten ein Vers los, der in jähem Überlichten, tragisch aushauchend, das Hell-Dunkel des großen Balladendichters als immer noch lebendige Eigenkraft zeigt:

Halte dich still, halte dich stumm,
Nur nicht forschen, warum? warum? 288

Nur nicht bittre Fragen tauschen,
Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen.

Wie's dich auch aufzuhorchen treibt,
Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt.

Alle diese Altersgedichte streben nicht mehr zu objektiver Fassung, sie sind Ich-Spiegelung in unmittelbarer Form:

Und während mir Scheuheit und Demut entschlummern,
Zähl ich mich zu den »besseren Nummern«.

*

Was mir fehlte, war Sinn für Feierlichkeit.

*

                                All derlei Sachen,
Ich lasse sie längst durch andere machen.

*

Immer klingt es noch daneben:
Ja, das möcht ich noch erleben.

Das Berliner Leben taucht in solchen Versen immer wieder auf, aber auch nicht in objektiver Gestaltung, sondern im Ich-Bezug, je nach Stimmung und Laune dessen, der jetzt mehr nur sein Betrachter, nur halb sein Teilnehmer war.

Aber zu dieser Selbstbezeugung im Vers und im autobiographischen Aufriß kam noch eine dritte, gleichnishafte, im Roman, im »Stechlin«, dessen Buchausgabe erst nach des Dichters Tode hervortrat. Keines seiner Werke hat eine so wechselvolle Vorgeschichte wie dies. Julius Petersen hat in 289 meisterhafter Analyse aufgehellt, wie sich aus dem Plan eines hanseatischen Romans über Störtebecker und die kommunistischen Vitalienbrüder von 1400 allmählich die innere Drehung zum Gegenwartsbilde herauslöste, wie der Plan einer politischen Novelle »Storch von Adebar«, die alte pietistisch-konservative Bethanien-Eindrücke verwerten wollte, im »Stechlin« unterging, wie schließlich dieser selbst aus einem politischen Roman ein märkischer, unter Festhaltung der allgemeinen Linien aus einem Zeitbild doch zugleich ein Spätbild der eigenen Persönlichkeit wurde.

Der Kuß der Muse
Nach einer Bleistiftzeichnung A. von Menzels zu Fontanes 70. Geburtstage (30. Dez. 1889).

Der oft gezogene und besonders von Conrad Wandrey durchgeführte Vergleich des »Stechlins« mit »Vor dem Sturm« drängt sich ohne weiteres auf; er beruht auf der gleichmäßigen Breite, mit der dort und hier Lebenszustände auf einem märkischen Adelssitz und in Berlin geschildert werden, auf dem in beiden Büchern zur Einkleidung benutzten Wanderungenstil, auf der Mittelstellung eines alten preußischen Offiziers und Gutsbesitzers, auf der gesellschaftlichen Erstreckung in ganz verschiedene städtische und ländliche Kreise. Aber der Rückgriff geht noch weiter, faßt noch tiefer. Gewisse Gestalten des ersten Romans werden in dem letzten noch einmal aufgenommen und entweder höherer Vollendung oder charakteristischer Wandlung zugeführt. Pastor Lorenzen ist der verjüngte, mit dem Auftrieb der neuen, christlich-sozialen Bewegung versetzte Seidentopf, gleich weltunabhängig und in der gleichen familienhaften Vereinzelung gleich menschenzugetan, die letzte der feinen und tief angelegten Pfarrererscheinungen Theodor Fontanes. Daß die alte Buschen in naher Verwandtschaft zu Hoppenmarieken steht, ist nebensächlich, aber von um so größerer Bedeutung, daß Fontane erst hier in Armgard Barby den Frauentypus der Renate wiederaufnimmt und in lichter Zeichnung vollendet. Weder die 290 nervösen Hauptgestalten von »Grete Minde« und »Ellernklipp« noch die »irritablen« Erscheinungen von Cécile St. Arnaud und Victoire Carayon, noch die gescheute Corinna Schmidt, die einfachen Mädchen aus dem Volke Stine und Lene – sie alle besitzen nicht gerade jenen Reiz der Mischung von Festigkeit und Wärme, Liebenswürdigkeit und Klugheit, den Renate Vitzewitz ausstrahlt und der hier in Armgard wiederkehrt. Ein Effi-Schicksal ist für sie unausdenkbar, denn im Gegensatz auch zu dieser vollendeten Fontanischen Gestalt weiß sie genau, was sie will, aber – sie weiß es aus dem Herzen heraus. Nach einem durch Fontanes englisch-schottische Erinnerungen balladisch gefärbten Gespräch über die feindlichen Königinnen Elisabeth und Maria wird Armgard gefragt, für welche von den beiden sie sich entschiede.

»Nicht für die eine und nicht für die andere. Nicht einmal für beide. Gewiß sind es Typen. Aber es gibt andre, die mir mehr bedeuten, und, um es kurz zu sagen, Elisabeth von Thüringen ist mir lieber als Elisabeth von England. Andern leben und der Armut das Brot geben – darin allein ruht das Glück. Ich möchte, daß ich mir das erringen könnte. Aber man erringt sich nichts. Alles ist Gnade.«

Armgard ist eine der am wenigst gesprächigen Personen des gesprächigen Buchs, in dem der Neubeginn: »Unter solchem Gespräch . . .« immer wiederkehrt; aber keines gerade ihrer Worte läuft einen Nebenweg, und indem sie hier in aller Bescheidenheit und erst auf Anruf ein Stück vom eigenen Selbst enthüllt, hat sie zugleich die Aufgabe, ein letztes Wort ihres Dichters zu sagen.

Sonst fällt dies Geschäft dem Major Dubslav von Stechlin zu; in ihm, der zwar noch gerne »was erlebt«, aber sich ins Getriebe der Öffentlichkeit nur eben zwingen läßt, zeichnet Theodor 291 Fontane noch einmal sein eigenes Altersbild. Freude am Kleinen, Offenheit für jeden neuen Eindruck, Anschauung der Dinge aufs Einfache, aufs Menschliche hin, Geniertheit gegenüber allem Feierlichen, lächelndes Hinweggehn über die Phrase, Geltenlassen alles dessen, was nicht zwei meistgehaßte Eigenschaften birgt: Voreingenommenheit und Überheblichkeit – aus diesen Zügen erbaut sich das Bild des alten Stechlin und damit des alten Fontane, nicht des ganzen, der ja doch zu alledem noch ein Künstler war, sondern etwa so, wie Fontane sich selbst erschien, wenn er den Versuch machte, sich unter Abzug des dichterischen Elements auf die letzten menschlichen Linien zu bringen.

Wie in den Jahren seiner ersten Epik verliebte sich Fontane hier noch einmal in eine seiner weiblichen Gestalten, nicht in Armgard, sondern in ihre Schwester, der er nicht umsonst den Namen Melusine gab; und diesem Halbnixennamen fügte er aus Florentiner Erinnerung den großen Künstlernamen Ghiberti hinzu. Die also Klangbegnadete hat in dem Roman kaum mehr künstlerisches Anrecht als das des Räsoneurs, eines pikanten Gegensatzes zu ihrer Schwester Armgard und eines äußersten Widerbildes zu Dubslavs Schwester, der aufgesteiften, märkisch-engen Stiftsdomina. Aber mit hundert kleinen Zügen wird ihr Bild so lange grundiert und ausgepinselt, bis Dubslav-Fontane »still in seinem alten Herzen« das letzte Wort über sie sagen darf: »Das ist eine Dame und ein Frauenzimmer dazu. So müssen Weiber sein.«

Wie Melusine, so hat eine lange Reihe teils einmaliger, teils wiederkehrender Gestalten im »Stechlin« zum äußeren Verlauf geringe oder gar keine Beziehungen. Denn bei aller Nähe zu dem großen geschichtlichen Roman von 1812 liegt auch wieder ein ebenso weiter Abstand zwischen den beiden Werken. Hier 292 erreicht der keine Anekdote sparende, jeden reizvollen Nebenweg einschlagende Stil der Spätromane seine letzte Ausformung – man kann von einem Zerplaudern der Vorgänge zugunsten der Nuancierung sprechen – und die Fähigkeit, mit der Anspielung allein auszukommen, ihre höchste Verfeinerung. Nach jenem Gespräch über die beiden Königinnen geleitet Armgard den jungen Stechlin hinaus. Sie wechseln in einer noch unüberwundenen Verlegenheit vier Sätze.

Stechlin: »Welche liebenswürdige Schwester Sie haben?«

Armgard errötete. »Sie werden mich eifersüchtig machen.«

»Wirklich, Komtesse?«

»Vielleicht . . . Gute Nacht.«

Das aber ist, wie Armgard empfindet und der Schwester ausspricht – ihre Verlobung.

Es ist zugleich eine der wenigen Stellen des Romans, an der von wirklicher Handlung die Rede sein kann. Wir erleben Wasser- und Wagenfahrten, Ausritte und Gesellschaften, eine Reichstagswahl und ihre Vorbereitung, Hochzeit und Begräbnis, aber das alles rundet sich nicht zum Kreise, es bleibt bei aller Ziselierung der einzelnen in Wort und Gebärde, auf das Ganze angesehen, flächenhaft; vielleicht hatte die Wahl des Namens Ghiberti doch, bewußt oder unbewußt, noch eine künstlerische Nebenbedeutung: wie der große Italiener Bild nach Bild auf die Pforten des Florentiner Doms trieb und in der zugehörigen Umrahmung sich und seinen Sohn mit in die religiöse Darstellung setzte, wie er nicht ein rund in sich geschlossenes Kunstwerk, sondern einen von Rechteck zu Rechteck neu ergreifenden Zug von Eindrücken schuf, so gab Fontane im Stechlin ein mit Köpfen aller Art, auch mit nur hineinlugenden, gefülltes Bild einer ganzen Zeit, der nachbismarckschen Jahre des Kaiserreichs, aber weder seine sich anbahnende Tragödie noch eine solche 293 der »Vordergrundsgestalten« innerhalb dieser Umwelt. Der »große Moment«, der in einfache Lebenskreise eintritt, ist nicht vorhanden.

*

Fontanes Werk war getan. Er sammelte sogar noch unter dem eigenwilligen Titel »Von vor und nach der Reise« mehr als ein rundes Dutzend Plaudereien und jener kleinen Geschichten aus über zwanzig Jahren ein, deren besonderen Stil als short stories er bei den Engländern selbst und bei Rudolf Lindau so liebte. Es sind fein und zum guten Teil humoristisch gerundete Stücke, vor allem aus dem geliebten Riesengebirge und aus dem oft gescholtenen und doch geliebten Berlin. Und dieser Gegensatz: geliebt und gescholten – wenn er denn einer ist – beherrscht in des alten Fontane Vers und Brief weithin Stimmung und Ausdruck. Glaubt man der einen Stunde, so ist alles »Unsinn«, glaubt man der andern, so ist alles, wie Armgard sagt, Gnade. Dieses, zumal in gewissen Räsonniergedichten hervortretende Gegeneinander war zum Teil ein spätes Ergebnis seiner verschiedenen Erbtümer. War gerade Muttertag, so hieß es:

Andre regierten (regieren noch),
Ich stand unten und ging durchs Joch.

*

Von hundert geliebt, von tausend mißacht't,
So hab ich meine Tage verbracht.

Brach aber nach den Cevennen Gascogne wieder durch, so klang es bei Louis Henri Fontanes Sohn: 294

Und doch, wär's in die Wahl mir gegeben,
Ich führte noch einmal dasselbe Leben.
Und sollt ich noch einmal die Tage beginnen,
Ich würde denselben Faden spinnen.

Vor allem aber tönte es, ihm selbst unüberhörbar, aus Fontanes Seele:

Eigen war mein Weg und Ziel.

Denn, wie er es in der Selbstbiographie ausspricht: es war ihm im Grunde immer sehr gut gegangen. Nach den knappen Anfängen des jungen Hausstandes hatte er, von einer im Rückblick erstaunlich vielfältigen und energischen Arbeit, nicht nur auskömmlich, sondern im ganzen sorgenfrei gelebt, die Länder, nach denen seine Sehnsucht ging, kennenlernen und jedes Jahr am Meer oder im Gebirge neue Frische schöpfen dürfen. Wilhelm Raabe wäre ohne die regelmäßige Hilfe der Schillerstiftung in schwere Not gekommen – Fontane hat die Stiftung, deren Berliner Zweig einst mit Menzel, Merckel und Eggers in seiner Wohnung gegründet wurde, nur einmal, während seiner Kriegsgefangenschaft, zu beanspruchen brauchen.

Und über dies hinaus: in seinem Hause war ihm dauerndes Glück beschieden, das nur Georges Tod einmal mit jähem Einschnitt unterbrach. Nach jungen Ruhmesjahren galt er lange Zeit nur als Journalist und sah sein größtes Werk ohne Nachhall hinausziehen; dafür lohnte ihn im Alter ein Ruhm und eine wärmende Liebe, wie sie wenigen eben noch rechtzeitig zuteil werden. Und seine häufige Klage über Unterschätzung galt zum guten Teil weniger dem eigenen Werke als der, zumal im Vergleich mit Künstlern anderen Metiers, »miserabeln« Stellung des Schriftstellers im Leben der Nation.

Freilich hatte sich der Lebenskreis, der Theodor Fontanes 295 Werk als sich besonders zugehörig empfand, in fast fünfzig Jahren sehr verändert. Nicht nur die Sessel der Freunde um ihn herum waren allgemach vom Tode geleert worden, auch jener Adel, dem ein Teil seiner Preußenlyrik und seiner Prosa galt, und der ihm bei den »Wanderungen« hilfreich gewesen war, hatte sich von ihm abgekehrt; bei späten Besuchen auf märkischen Landsitzen fühlte er sich mit Unbehaglichkeit nicht am Platze. Ihm kam nicht zum Bewußtsein, daß er hier nur das Opfer einer allgemeineren soziologischen Erscheinung war, mit der auch die einst Storm gegenüber gerühmte gesellschaftliche Verträglichkeit Berlins gleichzeitig ins Wanken gekommen war. Der preußische Adel war in der Romantik als Stand ein Mitträger der künstlerischen und wissenschaftlichen Entwicklung gewesen; seither hatte er zwar noch hervorragende Künstler und Gelehrte hervorgebracht, aber als Klasse sich von diesen Gebieten weit abgewendet. Wie Fontane, der Sänger der preußischen Helden und Darsteller märkischer Adelsgeschichte, so haben das sogar die Standesgenossen Ernst von Wildenbruch und Detlev von Liliencron bitter zu spüren bekommen. Dafür aber war die in der romantischen Zeit, zum Teil mit dem Adel im Bunde, zum Teil neben ihm oder gegen ihn, in Literatur und Kunst hervorgetretene jüdische Oberschicht solcher Neigung treu geblieben, und gerade in Fontanes dichterischem und menschlichem Schicksal hatte sich dieser Wandel deutlich abgezeichnet. Und so war seine Stellung zum Judentum nicht ohne Zwiespältigkeit. »Dem geistigen Menschen kam bei uns, so war Fontanes Eindruck, ›alles Heil und wahre Stütze‹ nur von der Judenschaft und jedenfalls nicht ›von dem Adel deutscher Nation‹. ›Freiheit und feinere Kultur‹, zwei Dinge, zu denen wir nicht erzogen waren, hatten dort ihre Stätten und wurden uns von da aus vermittelt. Aber nicht nur der Instinkt für ästhetische und intellektuelle Werte, sondern, was 296 vielleicht noch schwerer wog, die sonst in der Mark so schmerzlich entbehrten ›urbanen‹ Tugenden der ›Menschenfreundlichkeit, der Teilnahme, des Wohltuns‹ wurden dort gepflegt, und wenn der gütige und feine Geist, der das Haus seines Freundes Lazarus auszeichnete, sich dem Dichter wieder einmal in einer liebenswürdigen Aufmerksamkeit offenbart hatte, brach er in das Bekenntnis aus, daß ›der gesamte märkische Adel‹ – mit Ausnahme etwa seiner ›alten Rohr‹ – derartiger Leistungen nicht fähig sei. – So beredt und warm aber auch Fontane die kulturelle Bedeutung des Judentums und seine notwendige und erwünschte Funktion als Teil der geistig führenden Oberschicht anerkannt hat, so war doch diese Anerkennung bei ihm mit einer entschiedenen rassenmäßigen Abneigung gepaart und fand an ihr ihre Schranken. Er hat sich« – gelegentlich der Försterschen Petition an den Reichskanzler um den Ausschluß der Juden von obrigkeitlichen Ämtern –»mit Energie dagegen gewehrt, ›von Juden regiert zu werden‹, und so sehr er auch den Antisemitismus als dumm und roh abgelehnt und immer gefunden hat, daß diese Bewegung durch das Verhalten ihrer Führer und Anhänger nur diskreditiert werde, so hat ihn doch das ständige Überhandnehmen des jüdischen Elements in den späteren Jahren seines Lebens wiederholt bedenklich gestimmt.«

Während Fontane im Roman an die Judenfrage kaum streift – »Storch von Adebar«, wo ihre Gestaltung im Plane lag, kam ja nicht zur Durchführung –, findet das von Mario Krammer so schlüssig gezeichnete Bild seiner Neigung und Abneigung in Spätgedichten seinen Ort. In einem Gegenstück zur Semnonenvision, »Veränderungen in der Mark«, hat er in Versen, die von fern, ob auch mit humoristischer Ausdeutung, an Walther Rathenaus »Höre, Israel!« erinnern, die jüdische Besiedelung der Mark und Berlins von Bentschen bis zur 297 Tiergartenstraße spitzig geschildert, und in seinem letzten großen Aufzählgedicht, dem im »Pan« erschienenen »An meinem Fünfundsiebzigsten« die beiden Sphären, die seiner märkischen Geschichts- und Gedichtszeit und die seiner Altersbewunderer, halb resigniert, halb guter Laune, einander gegenübergestellt. Zuerst:

Du fandst in der Welt nichts so zu rühmen,
Als Oppen und Groeben und Kracht und Thümen;
An der Schlachten und meiner Begeisterung Spitze
Marschierten die Pfuels und Itzenplitze,
Marschierten aus Uckermark, Havelland, Barnim,
Die Ribbecks und Kattes, die Bülow und Arnim,
Marschierten die Treskows und Schlieffen und Schlieben –
Und über alle hab ich geschrieben.

Aber niemand aus diesem Kreise ließ zum Jubeltag etwas von sich sehen oder hören, dafür traten andre ein,

Auch »sans peur et reproche«, ohne Furcht und Tadel,
Aber fast schon von prähistorischem Adel:
Die auf »berg« und auf »heim« sind gar nicht zu fassen,
Sie stürmen ein in ganzen Massen,
Meyers kommen in Bataillonen,
Auch Pollacks und die noch östlicher wohnen;
Abram, Isack, Israel,
Alle Patriarchen sind zur Stell,
Stellen mich freundlich an ihre Spitze,
Was sollen mir da noch die Itzenplitze!
Jedem bin ich was gewesen,
Alle haben sie mich gelesen,
Alle kannten mich lange schon,
Und das ist die Hauptsache . . . »kommen Sie, Cohn«. 298

Auch der größte aller märkischen und deutschen Adligen, auch Bismarck, der Helfer in Kriegsnöten, hat von Fontanes Werk keine Notiz genommen; Stindes »Familie Buchholz« rühmte er, die Familie Vitzewitz wird er kaum kennengelernt haben. Man denkt an den Bericht des Zwanglosen Hertz, der Moltke um seine Unterschrift unter eine Adresse an Gottfried Keller anging und erst sozusagen ehrenwörtlich versichern mußte, daß Keller ein großer Dichter sei. Aber nicht dies Verhalten hat Fontanes Stellung zu dem Gründer des neuen Reiches irgendwie bestimmt. Der Gefühls- und Urteilszwiespalt, aus dem Fontane Bismarck gegenüber nie ganz herauskam, entstammte tieferen Quellen. Die Gestalt des Helden, der mit der Naivität des Genius (nach Treitschkes Ausdruck) ins deutsche Leben eintrat und, die gewaltige und doch feine Hand am Steuer, dies deutsche Leben nach seinem Willen lenkte, mußte den Dichter der preußischen Helden ergreifen. Die Ballade »Jung-Bismarck« zeigt nicht den von Franz Krüger gemalten reizenden märkischen Jungen, sondern den erst durch seine Jugendbriefe enthüllten werdenden Mann, der im reisigen Querfeldein schon die Leidenschaft künftigen großen Geschickes trägt:

In Lockenfülle das blonde Haar,
Allzeit im Sattel und neunzehn Jahr,
Im Fluge weltein und nie zurück –
Wer ist der Reiter nach dem Glück?
        Jung-Bismarck.

Und dieses Glück heißt:

Leben und Sterben dem Vaterland.

Ein andermal hat Fontane Bismarck in dem Tone, mit dem er den Sanspareil Menzel feierte, als den nach und für 299 Deutschland entsandten Retter-Zeus dargestellt. Und durch alle Anspielungen in Gedicht und Roman zieht sich Bewunderung und Neigung vor allem für das Quillende, das Überraschende, die große Linie, das ausgesprochen Antiphiliströse in Bismarck. Die Bismarck-Frondeure sind samt und sonders vergnatzte oder halbkomische, der letzte, der Hofrat Gottgetreu in »Von vor und nach der Reise« ist eine subalterne Figur. Und vollends im Brief kann Fontane gegenüber Bismarcks Reden, die ihm »der reine Zucker« sind, den weiten Abstand von den Gegnern des Kanzlers gar nicht weit genug bestimmen.

Dazwischen aber stehen fortwährend und im Alter mit gesteigerter Heftigkeit Äußerungen über Bismarck, die das Schärfste, was diese Gegner, etwa Windthorst, Bebel, Eugen Richter, sagten und schrieben, noch hinter sich lassen. Will man den Kern von Fontanes Stellung zu Bismarck erfassen, so muß man den Dichter als Kind seiner Generation begreifen; auch Freytag und Raabe kamen bei gleicher Bewunderung mit Bismarck niemals ganz ins reine. Nicht die oft flüchtiger Stunde entflossene, in der Freude am gefeilten Briefwort zugespitzte Aussage mag das letzte Recht haben. Aber Fontane hat sich mehrmals zu dem bekannt, was der polnische Dichter Henrik Sienkiewicz zum achtzigsten Geburtstage über Bismarck schrieb. Sienkiewicz nennt Bismarck denjenigen, ohne den die Einigung Deutschlands ein Traum geblieben wäre; er findet ihn unvergleichlich in der Ausnutzung der Menschen, der Dinge und der Verhältnisse, nennt ihn »unbesonnen mit der größten Vorsicht, gleichzeitig aufrichtig und hinterlistig . . . Ein Verehrer der Kraft, hat er die Kraft ausgebildet«. Aber so sehr Bismarck für den Polen die Verkörperung des deutschen Ruhmes ist, so scharf merkt er an, daß Bismarck nicht zu begreifen imstande war, »daß die Kraft eine Seele besitzen muß, und zwar eine reine und moralische Seele . . . 300 Dort gerade, wo diese Pflichten anfangen, endete der Genius Bismarcks.«

Es war nötig, diese geschichtliche Umrißzeichnung des polnischen Dichters wenigstens nach den Hauptlinien wiederzugeben, weil Fontane ihr gegenüber öffentlich zugesteht: »Ich habe so was von großem historischen Sinn (trotzdem er nur ein Romanschriftsteller ist), so was von Packen und Treffen überhaupt noch nicht erlebt und stelle es über alles, was ich in Essays und Charakterbildern unserer englischen, französischen und deutschen Historiker gelesen habe.«

Diese Anschauung von Bismarck und seiner Wirkung scheint auch durch den »Stechlin« deutlich hindurch. Sie beruht bei Fontane wie bei Freytag und Raabe auf einer inneren Abkehr von dem seit 1870 unter Bismarcks Förderung aufgekommenen deutschen Lebensstile des »Stramm, stramm, Alles über einen Kamm«. Deshalb im »Stechlin« die betonte Rückwendung zum Geiste von 1813, dem Geiste der großen Freiwilligkeit von »Vor dem Sturm«. Und diese immer stärkere Neigung zum Volksmäßigen brach in Fontanes eigener politischer Entwicklung immer entschiedener durch; seine »allerdings zu allen Zeiten etwas wackligen« politischen Anschauungen waren »eigentlich nationalliberal«, wenn er auch schließlich nichts »Öderes« kannte als: Partei, Partei! Im Alter aber war er nach eigenem Gefühl und Zeugnis immer demokratischer geworden. »Wohin wir sehen, stehen wir im Zeichen einer demokratischen Weltanschauung,« läßt Fontane seinen letzten Pfarrer – fühlbar mit innerer Zustimmung und aus eigener Empfindung heraus – sagen, und der Graf Barby, der im Politischen viel unbedingter als der alte Stechlin seinen Dichter selbst vertritt, meint: »Das moderne Leben räumt erbarmungslos mit all dem Überkommenen auf. Ob es glückt, ein Nilreich aufzurichten, ob Japan ein 301 England im Stillen Ozean wird, ob China mit seinen vierhundert Millionen aus dem Schlaf erwacht und, seine Hand erhebend, uns und der Welt zuruft: ›Hier bin ich‹, allem vorauf aber, ob sich der vierte Stand etabliert und stabiliert (denn darauf läuft doch in ihrem vernünftigen Kern die ganze Sache hinaus) – das fällt ins Gewicht.« – Mit so sicherem Fernblick spricht Fontane, der oft schwarze Ahnungen über die Dauer der politischen Zustände des Reiches hatte, über seine Zeit hinaus in die Zukunft hinein.

Ein Letztes aber, was Fontane von Bismarck trennte, wurzelt in den Tiefen seiner Natur und seines religiösen Bekenntnisses. Als Bismarck gehen mußte, da traten zwei deutsche Dichter unumwunden auf die Seite des Kaisers und fanden das Geschehene berechtigt und, mehr, gerecht, Fontane und Conrad Ferdinand Meyer. Gegenüber dem Helden, der nie das Wort unda fert nec regitur für sich und sein Werk hätte gelten lassen, stand ihr gemeinsames kalvinisches Gefühl auf. Fontane läßt am Sarge Dubslav Stechlins wiederum Lorenzen auch sein eigenes christliches Lebenswort aussprechen: »Er hatte davon« – vom Bekenntnis – »weniger das Wort als das Tun. Er hielt es mit den guten Werken und war recht eigentlich das, was wir überhaupt einen Christen nennen sollten. Denn er hatte die Liebe. Nichts Menschliches war ihm fremd, weil er sich selbst als Mensch empfand und sich eigener menschlicher Schwäche jederzeit bewußt war. Alles, was unser Herr und Heiland gepredigt und gerühmt, und an das er die Segensverheißung geknüpft hat – all das war sein: Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und die Lauterkeit des Herzens.«

Das war jenes Christentum, das als wiederkehrende Macht gegenüber dem Abfall der Dichter des vollendeten »Vor dem Sturm« als in seinem Werke mächtig empfunden hatte. Aber 302 noch eine besondere Färbung von Fontanes Christentum geht unablenkbar durch all sein Werk und Leben und faßt sich in den dem Sinne nach immer wiederholten Vers:

Was ist, ist durch Vorherbestimmen

zusammen. Von dieser dichterischen Erschließung der kalvinischen Prädestinationslehre her fällt ein letztes und ein gemeinsames Licht auf sein ganzes Werk, auf seine Beurteilung des Geschickes, das den »Mogler und Vorteilsjäger« Bismarck ereilt habe, auf seine ganze Stellung zur Gesellschaft, ja zu seinen Nächsten. Sie, seine unwandelbare innerste religiöse Haltung erklärt auch seinen Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit der Metaphysik seiner Zeit. Weder zu den Berliner Hegelianern seiner Frühzeit noch zu Schopenhauer, Hartmann oder Nietzsche hat Fontane eine bewußte Beziehung. Keller ist in seinem Kern ohne Ludwig Feuerbach, Raabe ohne Feuerbach und Schopenhauer nicht zu erfassen – bei Fontane können wir solcher Deutung entraten. Aber eben weil Hinnahme und nicht Kampf das Geheimnis seines Glaubens war, pflügt auch seine feine Hand nicht so tief wie die Raabes, gelangt sein Eisen nicht bis in jene Bezirke, aus denen der Dampf der frisch gebrochenen Scholle aufsteigt, gehört er nicht in die Reihe der großen Philister aus »Abu Telfan«; aber die visionäre Schau seiner Ballade flicht ihnen in erhöhter Stunde einen Kranz, lüftet für den fruchtbaren Augenblick einmal den Schleier ihres Wesens, wie es Fontane noch einmal nach Bismarcks Tode über alle Wesensscheidungen hin in seinem Sachsenwaldgedichte gelang.

*

Der Fontane des großen geschichtlichen Romans hat bis heute keine Nachfolge gefunden; am nächsten steht ihm noch Hans 303 Hoffmanns humoristisch überglänzter historischer Erzählerstil. Fontanes Spätwerk aber wurde mannigfach zum Stilvorbilde. Ernst Heilborn versucht die Deutung des deutschen und besonders des Berliner Lebens ganz in seiner Spur, Georg Hermann ist in seinen Romanen aus dem jüdischen Berliner Bürgertum zumal ein Gesprächsschüler Fontanes, der humoristische Berliner Roman der Alice Berend zeigt im Beplaudern der Dinge seine Schule, und diesseits des Weltkrieges ist Paul Fechter auf dem Wege, ein neues Berliner Bild zu entwerfen, in dem er die von Theodor Fontane festgehaltenen währenden Grundlagen des heimischen Volkstums mit ganz verwandtem Tone spürbar macht. Wie weit Fontanes Stil über den märkischen Boden hinauswies, lehrt das Werk Thomas Manns.

Weit wuchtiger freilich ist Fontanes Wirkung auf die Entwicklung unserer Ballade. Als ihm der Hardesvogt Detlev von Liliencron schüchtern seine ersten Gedichte sandte, empfand Fontane alsbald die neue Kunst und das Artverwandte, auch bevor er in den »Adjutantenritten« das ausdrückliche Bekenntnis zu dem Empfänger als einem der Standartenhalter der Ballade lesen konnte. Hier schrieb Liliencron neben Fontanes Namen den des damals vergessenen Strachwitz, von beiden kam er her, und wie Fontane einst den Strachwitzschen Stil, so hatte der Schleswig-Holsteiner die Fontanische Weise wiederum impressionistisch aufgelockert. Gleich ihm bekannte sich der junge Göttinger Kreis, Börries von Münchhausen voran, zu Strachwitz, aber auch er zeigte die unüberhörbare Melodie, die mit »Douglas« und »Monmouth« aufgeklungen war, in jugendlich zudrängender Tönung. Und vollends in der wie ein Wunder jäh emportauchenden Kunst von Agnes Miegel wurde nicht nur der englische Stoffkreis neu gefüllt, in weiblicher Wendung nahm diese geniale halbhugenottische Künstlerin die geheimnisvolle Verflechtung helldunkler 304 Stimmung mit strömender Melodie und jener Erfassung geschichtlicher »Essenz« wieder auf. Während Theodor Fontanes eigenes Lied unüberhörbar weitertönt, vernehmen wir es zugleich fugenhaft in der Dichtung der Folgezeit.

*

Mein Leben, ein Leben ist es kaum,
Ich gehe dahin, als wie im Traum.

Wie Schatten huschen die Menschen hin,
Ein Schatten dazwischen ich selber bin.

Und im Herzen tiefe Müdigkeit –
Alles sagt mir: Es ist Zeit.

Diese Verse lagen auf Theodor Fontanes Schreibtisch, als er in der neunten Abendstunde des 20. September 1898, ohne Kampf und Schmerz, in die Ewigkeit abberufen wurde. Sein Sterbliches ruht auf dem Französischen Friedhof, in märkischer Erde, im Norden Berlins, an dem Straßenzuge, daran auch Schinkel und Rauch gebettet sind.

 


 


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