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Der Abend dieses schweren Tages kam früher als sonst und überraschte die beiden, die Hebamme und das Mädchen, die in der ganzen Zeit wortlos dagesessen hatten und nach der Unruhe gegenseitig die Sicherheit ihres Bestehens genossen. Jedes war erfüllt von dem Schicksal dieses einsamen Hauses, und keines sprach darüber, karge Worte über das Vieh, das Wetter und Begebenheiten der Gemeinde und des Umkreises, achtlos hin und wider geschoben, füllten den Raum zwischen diesen einwärtsgekehrten, einfachen Seelen aus. Dann erhoben sie sich wohl und sahen nach Mutter und Kind, und wenn sie beide schlafend fanden, so traten sie wieder vorsichtig über die Schwelle und gingen an ihren Platz.
Dann verfielen beide in Sinnen, das in Schlaf überging.
Erst am andern Morgen erwachte Kathe und fand sich, ein Bündel Kleider unter dem Kopfe, neben der Ofenbank liegen.
Die Klessen kauerte noch schlafend auf der Bank am Tische. Drinnen in der Kammer wimmerte es leise.
Das Mädchen weckte die Hebamme, und beide gingen hinein.
Der blasse Glanz des ersten Lichtes lag auf dem blassen Gesichte Maries, das heraufgekehrt in den Kissen lag, die Lider geschlossen.
»'s war doch hinne«, sprach Kathe, die einen Laut gehört zu haben glaubte, mit einem Blick auf das leblose Antlitz, und zögernd legte sie ihre Hand auf die weiße Stirn.
Da begann die Kranke kraftlos zu schluchzen. Kathe warf sich über sie und sprach ihr unter Tränen Trost ein. Sie redete noch in Liebe, als Marie schon wieder in Ohnmacht lag.
Nach einer langen Weile schlug das arme Weib die Augen auf.
»Is vorbei?« hauchte sie furchtsam.
Die Klessen nickte, beugte sich lächelnd nieder und strich der jungen Mutter die blonden Haare aus dem Gesicht: »Alls, alls, mei herzes Weib.«
»Was is'n?«
»A Jüngla.«
Maries Antlitz sank in schmerzvoller Enttäuschung noch mehr ein. Dann wandte sie es schweigend gegen die Wand. Als sie es den beiden wieder zukehrte, standen ihre schönen blauen Augen voller Tränen.
»Is'n richtig?« fragte sie dann.
»Ja. Aber jetze darfst du'n nich sehn. Du bist noch zu schwach.«
»Gott sei Dank!«
Erschöpft schloß sie die Augen, und während die Lippen sich im stummen Gebete eilig rührten, kam eine immer tiefere Seligkeit in ihr Gesicht.
Lange lächelte sie so, lange.
Derweil erfüllte sich der Tag. Alle Dinge wurden nach und nach genau sichtbar, als schwebten sie aus Fernen herbei. Und mit ihnen lief alles in die Seele des geprüften Weibes, was vor den Schrecken der Geburt gewichen war, stand an ihrem Bett, sah sie an, begann zu reden und fragte: »Was nun?«
Da ward Marie sehr angst. Sie betete; es wich nicht. Sie schloß die Augen, da wurde es größer. Weil sie sich keinen Rat wußte, rief sie nach Kathe. Als diese aber in der Stube erschien, erkannte Marie, daß sie nicht imstande sei, nach ihrem Manne und den Folgen der Auffindung des Schusters zu fragen. Sie sah ihre Schwägerin tief an und bemerkte verhaltenes Glück in ihrem Auge.
»Lacht er'n schon etwa?« fragte sie endlich.
»Ach, freilich lacht er schon, und wie«, antwortete Kathe und stand und kämpfte mit sich. Dann wurde sie übermannt, warf sich auf die Knie an das Bett, nahm den Kopf Maries in die Hände und bedeckte das blasse Gesicht mit heißen Küssen.
Als das Mädchen von ihr gelassen hatte und wieder an dem Türpfosten lehnte, fragte die Kranke gramvoll: »Kathe? ...«, aber es würgte sie, und die Worte konnten nicht über die Lippen. Verzweifelt schaute sie zur Decke.
»Nee, nee«, sagte sie dann, sich fassend, »ich nehm' dir's nich üvel. Gell, es is a scheener Tag?«
»Wie meenst'n das?«
Das Mädchen blickte bekümmert auf Marie. Diese sah sie noch einmal lange an und nickte unter Tränen. Da wurde Kathe rot und weinte, weil die Kranke die Freude ihres Herzens erkannt hatte.
»Gell, es is schlecht vo mir?« stotterte sie.
Marie langte aus dem Bett, drückte ihre Hand und entließ sie mit den Augen. Ehe sich die Tür hinter ihr schließen konnte, bat sie noch, man möge den Eingang zur Schlafkammer angelweit offenlassen und das Körblein mit dem Kinde auf die Ofenbank setzen, wo sie es vom Bett aus sehen könnte. Das Mädchen tat alles und nahm sich unter ehrlichem Kummer über ihre Sündhaftigkeit vor, nichts mehr von ihrer Liebe merken zu lassen, sondern sie zu unterdrücken.
Marie aber lag in ihrem Bett und erkannte, wie einsam sie in ihrem Unglück sei. Es ward ihr schwarz vor den Augen, und wenn sie zu sich kam, suchte ihr erster klarer Blick immer den kleinen Korb. Dann nahm sie sich vor, stark zu sein, um sich ihrem Kinde zu erhalten, und aß tapfer und schlief, tat alles, was die Hebamme angeordnet hatte.
Am zweiten Tage klang Schellengeläut in den Hof. Kathe trat ans Fenster, wischte den Schweiß von den Scheiben und sah hinaus.
Jesus Maria! Im Schlitten saß ihr Bruder, neben ihm der Gendarm, das Gewehr in den Händen. Der Lahme, die Unterlippe eingekniffen, blaß, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Augen starr hin, die Hände gefesselt. Ein zweiter Schlitten folgte mit Geklingel. Eine Anzahl fein gekleideter Männer stiegen daraus. Voran ein Geduckter, ein einziges Glas in das zuckende Auge geklemmt. Kathe sank auf die Bank, riß sich aber im nächsten Augenblick auf und schloß die Tür zur Schlafkammer, die schwachen Worte Maries überhörend. Dann lief sie einigemal in der Stube auf und nieder. Als Schritte in die Hausflur kamen, kauerte sie sich aufs Geratewohl auf die Bank und drückte sich an den Seegerkasten. Gleich darauf traten die Herren schon ein... Der hastig Fahrende voran. Hinter ihm ein Hinkender mit einem gelben, ausgetrockneten Gesicht, der über die angelaufene Brille die Augen prüfend durch den Raum gleiten ließ und beim Anblick des großen Tisches befriedigt nickte und mit seinem großen blauen Bogen gleich daran Platz nahm. Während der Amtsvorsteher von Erlengrund, Major Hoffmann, und ein Mann mit einem zweiteiligen langen Barte eintraten, hatte der Geduckte, der offenbar der Oberste von allen war, den Raum gemustert und sagte zu dem weißbärtigen Herrn:
»Macht einen guten Eindruck, was, Herr Sanitätsrat?«
»Sehr propper, vollkommen einverstanden, Herr Staatsanwalt«, erwiderte dieser mit tiefer dienerischer Verbeugung.
Der Hinkende am Tische aber entgegnete:
»Eine loyale Wohnung, durchaus loyal«, und tauchte dann verlegen ins Tintenfaß, weil ihn der Staatsanwalt deswegen fest ansah.
»Steindorf, den 5. Dezember 1893«, sprach er dann eintönig und ließ die Feder übers Papier fliegen.
»Ach was, Denzel!« unterbrach ihn der Staatsanwalt, drehte sich um und sah das verängstigte Mädchen am Seegerkasten.
»Wer sind Sie?« fragte er milde in das verzweifelte Gesicht Kathes, die glaubte, man werde sie einsperren, und über die unvermutete Freundlichkeit so glücklich war, daß sie auf die Antwort vergaß und unter Tränen lachte. Herr Hoffmann gab an ihrer Statt Bescheid, und dann entstand ein erregtes Gespräch unter den Männern, das in abgebrochenen Sätzen, mitunter im Flüstertone geführt wurde und von dem Staatsanwalt mit den Worten geschlossen wurde:
»Also, bitte, meine Herren!«
Dann eilten alle hinaus. Sie hörte die Leiter in den Brunnen schüttern, entrüstete Ausrufe, die Schuppentür knarren; die schwachen Hilferufe Maries. Alles war ganz weit fort von ihr; sie vermochte sich nicht zu rühren, alles flog um sie. Wie lange es dauerte, wußte sie nicht. Nun kamen alle wieder herein. Der Sanitätsrat im eifrigen Gespräch mit dem Staatsanwalt.
»Bei der vorgeschrittenen Verwesung«, sagte er, »läßt sich leider nichts anderes konstatieren. Sechs Wochen, wie gesagt.«
Und in der Mitte der Stube hielt er eine lange »Rede«, wobei er sich den Bart strich, während der Hinkende eifrig am Tisch alles niederschrieb. Auch der Amtsvorsteher wurde gefragt. Dann war es ihr, als schliefe sie ein. Es ging noch allerhand um sie vor, aber sie begriff keine Gebärde, kein Wort mehr. Einmal glaubte sie, gewaltsam an den Augen reißend, ihren Bruder vor dem Tisch stehen zu sehen und wollte schreien, vermochte es aber nicht. Sie saß in einem lethargischen Zustande, wie wir im Schlaf einen grausen Traum erleben und nicht genau wissen, ob wir wach seien.
Da riß man sie am Arme. Sie kam zu einer krankhaft scharfen Besinnung und erkannte in den Gesichtern aller, die sie umringten, eine drohende Entschlossenheit.
»Wo ist Ihre Schwester?« fragte der Staatsanwalt verdutzt über den Ausdruck der Feindseligkeit in ihrem Gesichte.
»Herr Staatsmann oder wie Se heeßen«, antwortete sie fest, »da drinne. Aber gehn Sie nich nei. Die sterbt, ich kann Ihn sagen, die sterbt.«
Drohend vertrat sie ihm den Weg in die Schlafkammer.
Man drängte sie zur Seite. Aber entschlossen, zur Hilfe Maries das äußerste zu wagen, folgte sie den Hineinschreitenden auf dem Fuße.
Von den polternden Schritten war Marie aufgewacht. Sie öffnete die Augen unnatürlich weit und versuchte zu lächeln.
Man fragte sie viel.
Ihr Gesicht wurde starrer, blasser. Die Hände auf dem Bett schlössen sich. Ihr Mund schwieg.
Da kniff sich der Staatsanwalt das Glas fester ins Auge, beugte sich nahe an ihr Ohr und fragte ganz laut und langsam:
»Haben Sie mit dem Schuster Klose in einem unerlaubten Verhältnis gestanden?«
Die Kranke rührte sich nicht. Endlich, lange danach, stöhnte sie fast unhörbar: »Dr Schuster... d... e...r Schus...«, ihre Augensterne hingen schreckhaft in den Höhlen. Dann sanken die langen Wimpern langsam darüber hin, das Elend barmherzig bedeckend. Denzel strich sich mit zitternder Hand durch den Bart.
Der Amtsvorsteher schüttelte sich die Kopfschuppen vom Rockkragen und wandte sich bleichen Gesichts der Türe zu. Der Sanitätsrat bemühte sich um die Arme und erklärte, daß nichts zu machen sei. Die Frau habe aus Schwäche und wegen Blutverlustes einen tiefen Ohnmachtsanfall; Gefahr für ihr Leben sei indes nicht »vorliegend«.
Darauf traten alle wieder über die Schwelle in die Stube, und der Staatsanwalt rief Kathe an den Tisch.
»Wissen Sie, ob Ihre Schwägerin in verbotenem Verkehr mit dem Schuhmacher August Klose aus Steindorf gestanden hat?« fragte er sie, ein beschmutztes Papier auf dem Tische entfaltend und vorsichtig die unzähligen Knitter desselben niederstreichend.
Kathe hatte sich indessen von ihrem Schrecken erholt und verneinte.
Ob sie die Schrift des Schuhmachers zufällig kenne, drang der Staatsanwalt weiter in sie, und als sie erwiderte, daß ihr außer einer Rechnung nichts von seiner Hand zu Gesicht gekommen sei, schob er ihr den verdrückten Fetzen hin und forderte sie auf zu lesen, was auf diesem Papier stehe, das man in der Westentasche des Toten gefunden habe.
Sie wollte es näher an sich ziehen, aber die weißen Hände des Beamten ließen nicht los. Der vergriffene Zettel war mit lauter großen Buchstaben bedeckt, die zum großen Teile verlaufen waren. Mit vieler Mühe entzifferte sie endlich die Worte: »... lerliebste Marie – mein Leben... gehe zugrunde... Liebe zu dir... doch... Aug... Klose.« Als sie das gelesen hatte, fühlte sie den Boden unter ihren Füßen wogen. Sie stützte sich, um nicht umzufallen, mit steifen Armen auf den Tisch.
»Das is nich wahr!« schrie sie dann überlaut, und da der Staatsanwalt milde noch weiter in sie drang, doch ja der Wahrheit die Ehre zu geben, erwiderte sie ein paarmal dumpf: »Nischt... Nischt... Nischt«, und verharrte mit starren, gebannten Augen, vornübergestützt wie einer, der mit Grausen in eine schwindelnde Tiefe blickt.
Die Männer erhoben sich unter erregter Unterhaltung und verließen die Stube. Kathe ging, ihrer Grüße nicht achtend, und ließ sich auf die Bank fallen.
Das beißende Weißlicht der Wintersonne fiel durch das Fenster neben ihr.
Sie erhob die Augen gegen den Glast.
Da sah sie ihren Bruder davonfahren, den Kopf tief in die Brust geduckt, zusammengekauert.
Bis das Wispern des entfernten Schellengeklingels in der Stille untergegangen war, starrte sie in das kalte Licht. Dann erhob sie sich unter gewaltsamem Auffahren und trat in die Schlafkammer.
Marie lag mit offenen Augen da, achtete ihrer nicht, sondern fuhr in Versunkenheit fort, mit dem Zeigefinger der Rechten die Knöchel der andern Hand zu betupfen, als gelte es, Unfaßbares zusammenzuzählen. Endlich winkte sie Kathe zu sich und gab ihr einen langen Kuß auf die Stirn, dann bat sie mit erschöpfter Stimme, ihren Knaben wieder so zu stellen, daß sie ihn durch die offne Tür sehen könne, und lag da und verwandte kein Auge von dem Körbchen.