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Viertes Kapitel

Auf der Flucht im Eisenbahnabteil ist sie innerlich noch vom Täter besessen. Noch wirkt der Axtschlag in ihres Wesens Kern. Aber über das Ganze als lückenlos Geschlossenes hat sie schon keine richtende Verfügung mehr, sondern glatt, nirgends zu ergänzen, liegt es vor ihr.

Sie begreift, innerhalb einer Kette Notwendigkeiten habe der Mann gehandelt, dem sie kein anderes Muß entschlossen genug entgegengesetzt habe. Auch sie sei innerlich in seine, nicht in eigene Mechanik gestellt gewesen und habe weder mit Worten noch Gesten energisch genug Willen verkündet.

Was sie feindlich gegen ihn unternehme, müsse darum Lüge bleiben, weil nach bestem Gewissen sie ihm Schuld nicht beweisen könne.

Und je ruhiger sie wurde, gestand sie sich offener, so große neue Wahrheit über sich selbst, in handelnder Wirklichkeit sei sie zum größten sozialen Opfer des Weibes nicht fähig, hätte sie anders nicht erfahren können. Und aus bald eintretender, vollkommener Gelassenheit merkte sie weiter, ein in sich organisch Abgelaufenes habe unter keinen Umständen Stachel für sie.

Das aber rechnete sie sich aus der Gewißheit, das soziale Gesetz, auch ohne eigene vollständige Unterwerfung unter es, anzuerkennen, hoch an. Denn richtig sagte sie sich, bejahe sie im Grund des Ganzen Sinn, schließe Widerwille gegen Einzelnes sie aus neuer Gemeinschaft nicht aus.

So wurde das Ereignis nicht Beginn veränderter geistiger Haltung. Sondern wie der siegreich bestandene Kampf mit Carl brachte auch diese Niederlage sie dem Sozialismus näher.

Nach der Rückkehr begann sie in Berlin regelmäßig Versammlungen zu besuchen, in denen Führer deutscher Sozialdemokratie die Massen über das, was in der Arbeiterbewegung wirkte, aufzuklären suchten. Sie merkte, noch stand auch in Grundzügen die neue Lehre nicht so fest, daß nicht jeder, der mitarbeiten wollte, auf ihre schließliche Fassung Einfluß hatte.

Vor allem sah sie jetzt deutlich, wieviel zu früh es für neue Sprachbildung war, weil selbst im geistigen Zentrum der Inhalt dessen, wovon neue Begriffe plastische Form bilden sollten, noch nicht prägnant war. Wohl blieb ihre Überzeugung, im Unterbewußtsein kenne Menge sogar schon das endliche Ziel und Resultat und werde von ihm mittelbar in allem Handeln gelenkt, fest, je mehr sie aber in die Praxis des Sozialismus sah, um so mehr erhellte, die Führer selbst suchten überall noch geistige Zusammenhänge der Bewegung, in der sie standen, und waren über Elementares in ihr nicht nur nicht einig, sondern ihrer Kräfte bestes Teil wurde mehr durch Kampf mit anders meinenden Genossen als mit Klassengegnern verbraucht.

Obwohl sie Feuer daran setzte, Herz, Puls und Adern der nun schon in allen Teilen Europas wirkenden gesellschaftlichen Umbildung freizulegen, brauchte sie Zeit, den Motor zu finden, von dem aus das Schaltwerk bewegt wurde. Denn wo sie anfangs in geistigen Akkumulatoren der Nation suchte, in der aufgeschriebenen Geschichte ihrer Kriege, Erkenntnistheorien und vor allem in der Dichtung, fand sich kein Fingerzeig, geschweige winzigste Darstellung dessen, was, wie sie bis ins letzte Atom überzeugt war, nicht nur Deutschlands Schicksal im Jahrhundert ausmachte: weder des praktischen Klassenkampfs noch des auf soziale Reform gerichteten ideologischen Denkens. Sondern Kunstwerk, Philosophie und Geschichte schilderten durchaus Privatverhältnisse herrschender Stände, so daß der Krieg von 1870/71 zum Beispiel sich als Duell zwischen Bismarck und Napoleon III. um eine dynastische Frage darstellte.

Sie spürte, wie auf dem Weg zur Ermittlung historischer und augenblicklicher Wahrhaftigkeit erhaltene Schulbildung nicht nur überflüssig, sondern lästig war, weil sie aus nichtigster gemachter Feststellung und allem gelernten Ereignis immer erst bürgerliche Absicht mit ihm sorgfältig entfernen mußte, bis sein unkompromittierter Sinn klar wurde.

Aber je mehr sich des Systems Fäden vor ihr entwirrten, um so mehr durfte sie sich zu Schlüssen beglückwünschen, die sie, bevor sie wirkliche Einsicht besessen, aus wenig Urteil und viel Instinkt für sich festgestellt hatte. Auch nach endlicher Klarheit blieb die Behauptung stehen: germanischer Geist in Darwin, mächtiger in Karl Marx hatte die Führung der Welt in dem Sinn an sich gerissen, daß er erkannte: Unter Menschen wie überall sonst geschieht Leben nicht nach ewigen und absoluten Gesetzen (die aber vom Willen irgendeiner herrschenden Gruppe » a priori« aufgestellt werden), sondern zu allen Zeiten aus naturwissenschaftlichen, ökonomischen Entwicklungen, denen Veränderungen, Klassenkämpfe, in der Gesellschaft entsprechen.

Oder auf ihrer früheren Jugend naives Programm zurückgebracht: Auch des Einzelmenschen besondere Idee, sein Wille, springt aus gesellschaftlichem Verhältnis und Notwendigkeit. Ist erst ein Zweites auf dem früheren Zweck mitmenschlicher Zugehörigkeit.

Sie fand es immer lächerlicher, da in seinem wirklichen Sein doch kein Mensch vom Gesetz ausgenommen sei, wie er sich wenig mit ihm und viel mit Überflüssigem und Unwirklichem beschäftigte, das in Büchern, auf dem Theater und ausschließlich in Zeitungen behandelt wurde. Erst später sah sie den Zweck der Presse geradezu als den des öffentlichen Organs, durch das zu jeder Zeit eine herrschende Klasse die allgemeine Aufmerksamkeit dauernd von dem, was ist und wird, hinlenkt auf das, was an und für sich unwirklich, in der Herrschenden Interesse sein und bleiben soll.

Ihr fiel ein, wie in Blättern die Namen Überflüssiger und Vielzuvieler ihr immer wieder begegnet seien, wie tagtäglich die Firmen der Spaßmacher und Verklärer jeweiliger Machthaber in Politik, Literatur und Wissenschaften ihren Blick von denjenigen abgezogen hatten, die seit einem Menschenalter in Deutschland die wirklichen und einzigen Beweger waren: Marx, Engels, Bebel und Liebknecht.

Das Andenken eines Tags fiel ihr ein, an dem sie kleines Mädchen mit dem Vater in Amsterdam an großem Menschenhaufen vorbeigekommen war, der einem Mann laut zuschrie. Auf ihre Frage, wer der Bejubelte sei, hatte der Vater geantwortet: »Ein Teufel« und sie fortgezogen.

Sie aber hatte den gejauchzten Namen gemerkt: Marx! und sah den Mann heut noch, schloß sie die Augen: untersetzt, mit einem Kranz schwefelgelber Haare um Kopf und Kinn, aus dem überirdisch Augen strahlten.

Und sie schämte sich, den Tod blöder Versemacher, platter Potentaten aus der Chronik der Zeit gemerkt zu haben und jetzt erst aus Büchern zu erfahren, Marx in körperlicher und materieller Not sei 1883 in London gestorben und liege auf dem Highgate-Kirchhof begraben. Traurig war sie, als Zwölfjährige des Zeitsinns nicht so bewußt gewesen zu sein, um dem alten Mann ein Briefchen geschrieben zu haben, in dem sie ihn der Liebe eines Kindes rührend versicherte.

Um aber bürgerlicher Lügen und verwirrender Absichten Bild stets vor sich zu behalten, ließ sie dies Stück aus dem Diktierbuch des Schulrats Kleinschmidt, für Schüler deutscher Mittelschulen bestimmt und viel gebraucht, unter Glas rahmen und hängte es, wo sie auch war, über ihrem Bett auf:

»Der bekehrte Unzufriedene.

Der Fabrikarbeiter Wenzel war in einer Lackfabrik tätig, aber die Löhne der darin tätigen Leute erschienen ihm immer zu niedrig. Im Zorne darüber log er solchen Leuten, die mit den Verhältnissen unbekannt waren, oft genug etwas über die Lohnfrage vor. Seine Mitarbeiter konnten allerdings den Widerspruch nicht lösen, der sich zwischen seinem Tun und seinen Worten zeigte; zur Befriedigung seiner Lüste hatte er nämlich immer Geld. ›Er lügt‹, sagten sie zu den leutseligen Menschen, die sich mit dem Unzufriedenen einließen. Manche derbe Lehre hatte der immer unzufriedene Mann schon erhalten, vielmal hatte er sich von verständigen Männern den Text lesen lassen müssen. Aber immer wiederließ er sich durch das leere Geschwätz boshafter Aufwiegler betören. ›Laßt mich in Ruhe‹ rief er darum mit höhnischem Lachen, wenn ihn jemand von seinem gefährlichen Irrtume losmachen wollte. ›Leihe der Verführung dein Ohr nicht länger!‹ mahnten seine Freunde. ›Denke doch, was werden sollte, wenn das Geschäft lahm gelegt würde! Heute hast du immer einen Laib Brot im Hause, und wenn ihr zuweilen auch Linsen und Erbsen ohne Fleisch eßt, so fehlt es doch zu anderen Zeiten auch nicht an besseren Sachen. Lade nicht so schwere Schuld durch deine Unzufriedenheit auf dich!‹ Er aber rief: ›Immer das alte Lied! Laßt mich in Ruhe!‹ Da nahte mit leisen Schritten das Verhängnis, das ihn läutern sollte. Ein Krieg brach aus, der nicht mit Lettern in Zeitungen, sondern mit Einsetzung von Leib und Leben in Feindesland geführt wurde. Der Fabrikherr mußte die Arbeit ruhen lassen, und die Arbeiter hatten nun keinen Verdienst mehr. Mit geschlossenen Lidern sah Wenzel dem Unheil trotzig ins Gesicht; seine Kameraden lasen ihm täglich den Text über seine sündliche Unzufriedenheit, und trauerten über die schwere Last, die der unheilvolle Kampf allen Menschen auferlegte. Da wurde Wenzel durch Not und Sorge allgemach zahm wie ein Lämmchen, und das Licht einer besseren Erkenntnis ging ihm auf. Er ließ sich später niemals wieder irreleiten, sondern lernte erkennen, daß der Mensch sich geduldig in die göttliche Weltordnung fügen muß.«

Fritz Führing, den sie in Versammlungen traf, sprach ihr von seinem Buch: »Bürgerliche Geschichte«. In der er beschrieb, nach welchen Grundsätzen die 1871 im Frieden von Versailles fett gewordene Bourgeoisie sich Helden gemacht, und mit welchen Mitteln sie sie verherrlicht hatte. Nach dem Vorwort, in dem er andeutete, wahrscheinlich seien schon seit und mit Luther, dem sanft lebenden Fleisch in Wittenberg, alle führenden deutschen Persönlichkeiten Pfahlbürger und irgendwie Täuscher, las er die Kapitel: Bismarck, Wagner und Gustav Freytag; und Eura, die manches Wort in ihnen stark fand, lachte sich über die durchgeführte radikale Respektlosigkeit halb tot, um so mehr, als sie Führings Standpunkt teilte: es sei nun genug gewartet, man habe auf Marx's Kommando schon zu viel Achtung vor der schleichenden historischen Notwendigkeit gehabt, jetzt müsse man eiligst handeln. Jeder auf eigene Faust. Er, indem er bürgerliche Bonzen stäupe.

Nicht warten dürfe man, bis Unheil, das er nicht strikt bezeichnen könne, dessen Witterung er aber bis in die Knochen spüre, in beispielloser Katastrophe gipfle. Belichten, säuren und entlarven müsse man im größten und kleinsten, dem offiziellen Deutschen die gewölbte Gummibrust und Röllchen abreißen und ihn dem vertrauensseligen Volk in drohendem Jägerhemd und Schnurrbartbinde zeigen.

Klipp und klar sagen, in der Schicht, die man seit langem repräsentieren lasse, sei Nation nicht nur politisch, sondern auch menschlich völlig verludert. Ursachen und Weg zur Rettung zeigen; die Sozialismus hieße.

Er habe auf sie keine männlichen Absichten, aber wenn Eura auf seinem Umgang bestehe, möge sie nicht weiter mit Überzeugungen spaßen. Es gälte Mut. Wie jeder, der Wahrheit wisse, müsse sie endlich bekennen.

Sie solle in die Partei eintreten.

Das tat sie; wußte sie auch, die Eltern verurteilten ihre Entwicklung in Berlin. Vom Vater, dem man über ihr Leben berichtet hatte, war sie mehrmals gebeten worden, heimzukommen. Und als sie unter Vorwänden nicht gehorcht hatte, war ihr Zuschuß auf ein Minimum, mit dem sie kaum noch leben konnte, herabgesetzt worden.

Doch da es sie freute, Führing zu beweisen, sie bringe ihrer Überzeugung Opfer, vernachlässigte sie ihr Aussehen noch mehr, als sie gemußt hätte. Hatte sie früher ihrer männlichen Bekannten schmutzige Wäsche verspottet, legte sie keinen Wert mehr darauf, durch gepflegte Erscheinung sich von ihnen zu unterscheiden.

En bande lebte sie und wie der Wassertropfen, der selbst nichts wirkt, doch als Strahl und Fall Gewalt hat. In einer Gruppe schwang sie zu Erfolgen und Siegen noch mehr zu Enttäuschungen und Niederlagen mit. Ihr eigenes Los in Erschütterungen der Partei war nicht mehr sichtbar. Dringendere Rufe des Vaters wurden nicht gehört. Morgens ein Blick in verlogene Berichte der Zeitungen, der Gegner Drohungen betäubten sie so, daß Schrei von Haus verhallte.

Innerhalb nicht mehr zu erschütternder Gesinnung kämpfte mit den Genossen auch sie schon die Frage nach deren bester Durchsetzung in Tat durch. Ihre politische Farbe, in der rotes Blut kochte, wurde greller. Mit Führing, der nach Warnungen der Bedächtigen dem Walten der Zeit nicht vorzugreifen, vor Zorn kollerte und mit Terror schwoll, war sie zu offener Rebellion entschlossen.

Der Kameraden Einflüsterung, bei längerem Warten drohe der Masse Schwung und kämpferischer Impuls zu versickern, widerstand sie nicht mehr. Sie gab zu, auch grimmigste Empörung der Unterdrückten, müsse, nur mit Sirup betropft, wie in einer Spinne Netzen verkommen und verstand, ohne Gegenstoß von unten, müsse enormer Druck von oben und die Fata Morgana allgemeinen Wohlstands und metallischen Glücks den Plebejer endlich zermürben und seinen dröhnenden Aufmarsch zur politischen Macht zum Taumel entstellen.

Sie ließ sich mit Rede hören. Und obwohl sie nicht wußte, was sie sprach, tobte Beifall im Saal. Wie Flamme habe sie vom Pult geleckt und alles Blut um sie entzündet, sagte Führing.

Sie aber hatte zum erstenmal jene selige Entladung und war in ihr entrückt worden, die bei Zusammenkünften mit Carl in süßen Ohnmächten und Wanken der Knie sich angekündigt hatte. Drei Tage später fand sie zu Haus eine Vorladung zur Polizei.

Führing frohlockte: nun sei sie heilig und reif! Es rühre sich der preußische Aar.

Er selbst aber, von ihr hingerissen, biete ihr seinen Geist und sein Fleisch.

Aber sie wollte nur noch Sache und nichts für sich.

Auch mit preußischer Polizei sich nicht messen. Und sie ließ Berlin und Deutschland in romantischer Flucht, um am Tag ihres sechsundzwanzigsten Geburtstages bei den Eltern in Amsterdam zu sein.

 


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