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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Ende Juli neunzehnhundertvierzehn kabelte Carl aus Niederländisch-Indien: Wie Flügel sie trügen, sollte sie nach Surabaja kommen. Dort erwarte er sie mit einem beinahe schon jungen Mädchen, dessen geglückte Aufzucht ihn entlaste und sie für Entbehrungen prachtvoll entschädigen sollte.

Trotz kurzen Texts hallte im Telegramm solcher Alarm, daß sie, sich einzuschiffen, nach Antwerpen flog. Dort überraschten sie die ersten Kriegserklärungen.

Wie alle Menschheit war sie trotz besseren Vorherwissens erschlagen, unfähig sich zu rühren. Atemlos wartete sie in neutralem Land am Rand des großen Teichs auf ein Wunder, das die Katastrophe strich oder eindämmte.

Sie glaubte, sich kurze Wartezeit in Belgien, das in Furcht und Entsetzen stand, gönnen zu dürfen, nachdem Bevölkerung und sie durch diese Mitteilung des meistgelesenen Brüsseler »Soir« vom Montag, den dritten August, beruhigt waren.

»Deutschland wird Belgiens Neutralität achten!

Beruhigende Worte des deutschen Gesandten in Brüssel.

Heute morgen begaben wir uns zur deutschen Gesandtschaft, wo wir von Herrn von Below Saleske, außerordentlichem Gesandten und bevollmächtigtem Minister empfangen wurden.

Wir fragten: ›Ist es wahr, Herr Minister, daß Ihre Regierung Sie ermächtigt hat, unserem Minister des Auswärtigen die beruhigende Erklärung abzugeben, belgisches Gebiet werde respektiert werden?‹

›Ich habe diese Erklärung nicht abgegebene‹, antwortete der Minister, ›und glaube persönlich, ich brauchte sie als unnötig nicht abzugeben. Stets hat bei uns die Ansicht vorgeherrscht, Belgiens Neutralität wird nicht verletzt. Hat der französische Gesandte solche Erklärungen abgegeben, wollte er zweifellos zu konstatierten Tatsachen einige beruhigende Worte sagen. Deutsche Truppen werden belgisches Gebiet nicht passieren. Schwere Ereignisse werden sich abspielen. Ihr werdet Eures Nachbarn Dach vielleicht brennen sehen – Euer Haus wird das Feuer verschonen.‹«

Durch die eindeutige Erklärung – der erwähnte Nachbar war Luxemburg – mit aller Welt in Sicherheit, erstarrte sie, als deutsche Truppen unmittelbar darauf in das neutrale Land einfielen.

Denn aus des Kriegs Vorgeschichte wußte sie, was dieser Bruch von Abmachungen seitens Deutschlands über vielleicht entsprechenden militärischen Erfolg hinaus für bis an Zähne gewaffnetes Europa und alle Welt bedeutete: das lang erhoffte völkerrechtliche Verbrechen endlich; für England, das auch nach Österreichs Vorgehen gegen Serbien noch gezögert hatte, Gewißheit, in Kartellen, Syndikaten und Trusts durch Verträge verbundene kapitalistische Welt müsse gegen das Scheusal, das die Basis kapitalistischer Wirtschaft, den Vertrag mißachtete, mit Abscheu sich wie ein Mann erheben und versuchen, den Verbrecher, der erstes weithin sichtbares Beispiel einer Anarchie gab, mit allen möglichen Mitteln zu vernichten.

Aus dieser Gewißheit wertete sie sich überstürzendes Geschehen der ersten Tage und hoffte nur noch flammenden Aufschrei der zweiten sozialistischen Internationale, die am vierten August 1914 in Bern tagte; war gewiß, hier würden Freunde, Thomas, Scheidemann, Henderson, Branting des gemeuchelten Jaurès Tod riesig rächen, die Mörder entlarven und Protest europäischen Proletariats gegen gewollten Mord von Millionen so auf den Tisch hauen, daß sämtlichen Regierungen Lust und Luft ausging. Panische Angst, die wegen des Kongresses in völkischer und bürgerlicher Presse heulte, machte sie sicherer.

Doch was geschah? Staatsbürgerliches Pathos plapperte aus sozialistischer Phraseologie, patriotischer, opportunistischer Schleim kochte aus Begriffen, die plötzlich kein Zeitgemäßes und Atem der Freiheit mehr hatten, sondern zu Urteilen gleich ursprünglichen Denkinhalten erstarrt waren. Man sprach kein Wort Gegenwart, doch Bücher toter, gerichteter Vergangenheit. Himmelte zu frisierten Klischees auf Postamenten, kotzte nicht des Augenblicks gigantisch Gemeines mit Ekel heraus, sondern bügelte es zu glanzgeplätteten Metaphern schlüpfrig. Plötzlich war kein Schimpf und Getöse, sondern alle diese Internationalen wurden nationale Barden, die mit Hand aufs Herz im Vollbart teilweise zur Zukunft kein Vertrauen, aber für völkische Vergangenheit Bewunderung hatten. Da wurden Mumien frisch, ragten Leonidas, Barbarossa, Jungfrau von Orléans, Napoleon und Bismarck mit der Bulldogge, dröhnte von Hekatomben und Thermopylen Gleichnis; man sprach nicht wie 1848 aber wie 1813 miteinander; Winkelried und Tell waren Trumpf, weil alle Welt vom stärkeren Nachbarn überrumpelt sein wollte. Es glänzten Schiller und Béranger. Anstatt daß diese zur rechten Zeit berufene Vertretung friedlicher europäischer Arbeiterschaft Verbot gegen kapitalistischen Terror donnerte, Fazit fast hundertjähriger Anstrengung zog, gab sie Ton für alles, was in nächster Zukunft wurde, an, lieh Regierungen Vorbild und Schein, es geschähe jede Unmenschlichkeit mit arbeitender Massen Zustimmung.

Zwar war nicht vorauszusehen, bis zu welcher Höhe öffentliche Meinung und Generalstäbe des »Heroischen«, »Grausam Notwendigen« Klischee hinauffüttern würden, aber weil auf einmal beschrittenem Weg des Irrsinns, freie Beziehungsinhalte unter Mitmenschen auf Formeln abstrakter denkerischer Notwendigkeiten zu bringen, Überraschung nicht mehr möglich war, schien Eura Krieg mit korrekten Greueln uninteressant und vermochte sie zu keiner Teilnahme mehr zu bewegen.

Nachdem gegen den Ausbeuter im historischen Moment der Arbeiter versagt, Befehlen seiner Repräsentanten sich begeistert gefügt hatte, am Boden kroch, Arsch leckte und Gewehr schulterte, schrie, in Stunde der Gefahr lasse er das Vaterland nicht im Stich, als sechsunddreißig Millionen mobilisierte Proletarier, die man im Weigerungsfall nicht hätte an die Wand knallen können, auf Parlamentsbefehle marschierten, war Eura nicht überrascht, daß auch die Frauen gegen solchen Ausbruch ursprünglicher Barbarei nichts mehr vermochten oder nichts unternehmen wollten.

Nur noch Gipfel der Gemeinheit und Verblödung bei Herrschenden, Tiefen des Versagens bei Beherrschten interessierten sie.

Worte der Alldeutschen notierte sie:

»Wer den ersten Kriegstag bewußt erlebt hat, der weiß, daß ihm nichts Größeres auf Erden mehr begegnen kann.«

»Der Name des Kaisers war am Anfang und wird sein am Ende unseres Volks.«

»Der gallische Hahn hat schon viel zu lange mit lautem Geschrei den armseligen Chor noch schwächerer Geschöpfe eingeschüchtert. Sie werden sich wundern, wie ihm das gelingen konnte, wenn er seines Gefieders beraubt mit seinem elenden Balg im Staub liegt. Wer hieß auch den unsteten Gebieter des Hühnerhofs seine Kraft mit den Fängen des Adlers messen?«

Im vierundvierzigsten Tausend einer Broschüre las sie des deutschen Kriegers eiserne zehn Gebote:

»Ehret Euren Kaiser und obersten Kriegsherrn!« »Liebet Eure Feldherrn!« »Seid gehorsam!« »Seid hart gegen den Feind!«

»Im Krieg ist nur der ›gut‹, welcher dem Feind mit allen Mitteln zu schaden trachtet, Mitleid mit dem Feind ist Sünde. Es ist besser, daß hundert Weiber und Kinder des Feindes verhungern, als daß ein deutscher Musketier Not leidet.«

»Denn nachgerade hat sich langsam im deutschen Volk die feste Meinung gebildet, daß dieser Krieg uns mehr einbringen müsse, als die bloße Wahrung unserer früheren Machtstellung.«

Hatte internationaler Geist europäischer Arbeiterschaft völkische Hetzer bisher in allen Ländern und in Deutschland besonders verhindert, angeborener und zum Zweck ihrer Lebensmöglichkeiten in gewissen Kreisen gesteigerter Dummheit Zügel schießen zu lassen, war jetzt für sie freie Bahn, und der entfesselte Blödsinn raste gegen die noch weit entfernte Mauer, sich an ihr den Schädel einzuschlagen.

Deutschlands oberster Dichter dichtete im Alter von über fünfzig Jahren:

»Komm, wir wollen sterben gehen
in das Feld, wo Rosse stampfen,
wo die Donnerbüchsen stehen
und sich tote Fäuste krampfen.

Lebe wohl mein junges Weib
und du Säugling in der Wiegen,
denn ich darf mit trägem Leib
nicht daheim bei Euch verliegen.

Diesen Leib den halt ich hin
Flintenkugeln und Granaten;
eh ich nicht durchlöchert bin,
kann der Feldzug nicht geraten.«

Dichtete wie ein anderer Begeisterter, der alter Kracher selbst in den Krieg zog, oder wie des Haßgesangs gegen England Verfasser oder englische, französische, russische Kameraden.

Immerhin ließ sich Deutschland schon gleich zu Kriegsbeginn im Wettkampf um der Dummheit Palme nicht schlagen, wie es auch im übrigen überall siegreich war. Nachdem ein Germane erklärt hatte:

»Darfst nicht für dich sterben, mußt zu Glanz zerfliegen
überm Vaterland. Du bist nicht dein!

Friede darf nicht sein,
Friede darf nicht sein,
bis wir mit dem Licht die Welt besiegen!«

Der Marinemitarbeiter eines Weltblatts zum Untergang der Lusitania, bei dem fünfzehnhundert Passagiere ersoffen waren, öffentlich hatte sagen dürfen: »Jedenfalls bedeutet die Leistung unseres Unterseeboots ein Glanzstück erster Ordnung«, verkündeten in einem Aufruf dreiundneunzig deutsche Intellektuelle: »Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegsführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit.« Wozu ein nationaler Lyriker harfte:

»O du Deutschland, jetzt hasse mit eisigem Blut.
Hinschlachte Millionen der teuflischen Brut.
Und türmten sich berghoch in Wolken hinein
das rauchende Fleisch und das Menschengebein.

O du Deutschland, jetzt hasse geharnischt in Erz
jedem Feind einen Bajonettstoß ins Herz.
Nimm keinen gefangen: mach jeden gleich stumm,
Schaff zur Wüste den Gürtel der Länder ringsum.«

Und ein alldeutscher Tondichter trompetete:

»All ihr Schweine, welche Deutschland mästet
D'Annunzio, Verhaeren, Hodler, Shaw,
Maeterlinck, Dalcroze, et cetera,
die zum Dank durch stinkende Verleumdung
Deutschlands Ruf in aller Welt verpestet.«

Sie staunte ganz und gar nicht, unter diesen dreiundneunzig führende katholische und protestantische Theologen, Hochschullehrer aller Disziplinen, Vorstände von Kunstverbänden und vor allem repräsentierende Künstlerschaft mit berühmten Namen, den gefeierten Theaterdirektor zu finden. Sie ließ vom Aufruf und seinen Unterzeichnern Druck in hundert Exemplaren auf Büttenpapier abziehen, den sie wenigen Geistern in aller Welt, die sich noch nicht bis auf die Knochen blamiert hatten, zum Andenken an große Zeit schickte.

 

Sie konstatierte Hungerblockade, verschärften Unterseebootkrieg; den Fall »King Stephen« und Baralong, wo englische Seeleute deutschen Matrosen begeistert beim Sichzutodewettschwimmen zusahen.

Konstatierte: Juden waren überall die ersten, die infolge offiziell für sie beibehaltener »Verachtung«, von Hemmungen und Vorurteilen frei, Raubs und der Vergewaltigung Moral akzeptiert und aus ihr Vorteil gezogen hatten; was ihnen verübelt wurde, als nach Überwindung seelischer Widerstände auch übrige leitende Kreise auf dem wirtschaftlichen Kampfplatz ankamen und größtes Geschäft gemacht fanden.

Auch in Heldentods leichter Verschmerzung waren Juden voraus und mußten sich der Feigheit zeihen lassen, als Adel und Großbürger bald darauf sich auch entschlossen, Posten in der Heimat und Etappe denen in Schützengräben vorzuziehen.

Der wirtschaftlichen Ausbeuter Mobilisierung war in allen Kulturstaaten mit gleicher Schnelligkeit wie die der Heere erfolgt. Ihren Armeen erlagen nicht weniger Opfer als horizontblau und feldgrau Eingekleideten.

Sie konstatierte: ganz Europa stahl plötzlich wie ein Rabe.

Ohne den sie Erwartenden Nachricht geben zu können, blieb sie in der Flut, die Belgien überschwemmt, verwüstet hatte und bis ins Mark unterwarf, anschauend, weil, ohne Hoffnung auf Unvorhergesehenes sie auch hier Kadaverstatistik treiben, logischen Ablauf von Unmenschlichkeiten besehen konnte.

Konstatierte: Weinreisende und Versicherungsagenten, die vorher in Provinzstädten reichlich Rotwein vertilgt hatten, wurden zu Garnisonkommandanten, Kreischefs und Zivilkommissaren ernannt, Bestien, die Bezirke zittern ließen. Amtmänner und Assessoren, die in Büros Fliegen gejagt, verurteilten nicht weniger leicht Menschen massenweis zum Tod.

Konstatierte: Pflegerinnen und Schreibmaschinenfräulein taten, ohne noch im geringsten eigenes inneres Schicksal zu denken, herdenweis so gut reglementierte weibliche Pflicht wie die zu Haus sich prachtvoll amüsierenden Ehefrauen.

Konstatierte: Los deutscher Zivilgefangener hinter englischen und französischen Stacheldrähten, notierte bei Miß Cavells Erschießung in Brüssel einen Grausamkeitsgipfel.

Legte Listen der Scheusäler an, die auf Schlachtfeldern, in Schützengräben, Lazaretten, bei Musterungen, Gerichtsverhandlungen, in Parlamenten und Redaktionen hervorragten, schnitt die Zeit aus, wunderte sich nicht, ließ Irrsinnigstes drucken, verbreiten, entlarvte Gouverneure, Armeepfarrer, Chefredakteure, Abgeordnete und immer wieder Künstler. Freute sich, machte sie besonders saftigen Fang.

Konstatierte: das barbarische System der Geiseln, der Massendeportationen, der Entführung junger Mädchen zu gemeinsamer »Arbeit«, gegen die einer Einzelnen Vergewaltigung lyrisches Gedicht war. Häßliche Sitte des gleichzeitigen Aufhängens in Gruppen durch die Österreicher, damit Alleen zustande kämen. Aber nach hingebender Arbeit über einen Zeitraum von zwei Jahren verlor das Ausloten menschlicher Dummheit, Faulheit und Gemeinheit auch als kritischer Triumph jeden Reiz. Sie lebte stumpf, sah und hörte geraume Weile nichts mehr, bis aus Ruhe sich Gewißheit des Lebens der Menschen über den Krieg hinaus erhob.

Sie sah, es gab Fahnenflüchtige, die sich härtestem Griff mörderischer Staatsfaust entzogen hatten, in neutralen Ländern ihre Stunde erwarteten; kannte einen Kavallerieoffizier, der sich das mit Riemen an Türklinke gefesselte Handgelenk ausgerenkt hatte, Selbstverstümmelte; begrüßte »Verrückte«, die hinter Anstaltsmauern Kriegszeit verbrachten.

Zahl der am Gemetzel innerlich Unbeteiligten wuchs. Mancher, von Sieg und Niederlage schwatzend, grinste schon schadenfroh.

Deutschland, das sich in hundert Schlachten in Ost und West zu Tod gesiegt hatte, von Trophäen troff, wurde wie ein Autor langweilig, der in fünf Akten seines Trauerspiels keine Entwicklung hat; die Entente, deren Maul in Paradegeklapper erstarrt war, weckte heimlichen Ekel. Und selbst Frage nach des Ringens Ausgang bewegte sie nicht, weil auf beiden kriegführenden Seiten gleicher von besserer Menschheit immer abgelehnter Geist kapitalistischer Besessenheit herrschte, und es für Europas Unglück belanglos war, welcher Sieger es nach giftigen Rezepten weiter mißhandelte.

Als im März 1917 der Zarismus, unter lauter Schuldigen Schuldigster besiegt schien, und Kerenski sich an russischer Regierung Spitze gestellt hatte, machte Eura Entzücken, das die wenigen freiheitlichen Brüste schwellte, nicht mit. Gegen seit siebenzehnhundertneunundachtzig revolutionär gegründete Republiken hatte sie historischen Argwohn genug, sich noch nicht hinreißen zu lassen. Welchen mitmenschlichen Geist hatten häufige französische Revolutionen durchgesetzt? Für all das mußte in Europa kein Stein vom andern gerückt werden, geschweige maßloses Kräfte- und Blutvergießen sein, daß endlich alles entschlossener beim alten blieb. Das bewies nur, Aufschwung, Ruck, seelische Sehnsucht und Not im Abendland war seit mehr als einem Jahrhundert immer zu leicht zufrieden, zu zaghaft gewesen. Nur Rindenschicht der Völker, keine Kernschicht war vom Mitmenschlichen berührt; bei Männern und Weibern Nerven erregt, keine Gewissen geweckt worden.

Sie dachte Selbstmord, prüfte Gifte, dachte an Carl, was er fühle, hoffe und etwa schon wisse. Las mit Entzücken Stücke von ihm, die plötzlich erschienen, gespielt wurden und gesellschaftlichen und völkischen Abscheu weckten, weil in ihnen ungemessenes Recht auf Leben auch des im bürgerlichen Sinn wertlosesten Individuums behauptet wurde.

Sie glaubte zu begreifen, sehnte sich maßlos und wünschte Kriegsende als Privatsache herbei: Nicht aus Sklaven, wie sie als Bewohner Europas doch der Krieg gezeigt hatte, aber erst aus dem Selbstbewußtsein zu eigenen Beziehungsinhalten Entschlossener könne des Mitmenschen Zeitalter beginnen, und alles käme auf den immer noch zu weckenden Willen und Stolz der Massen an, als Summe Einzelner jeder für sich diese über alles wesentliche Freiheit zu besitzen.

 

Neunzehnhundertsiebzehn sah sie unter Lenins Führung in Rußland ungeheuer Neues öffentlich anbrechen, für das sie wie alle westliche Welt, vor seiner Entschlossenheit verwirrt, lange keinen Namen hatte.

Erst durch den Frieden von Brest Litowsk, den russische Vertreter neunzehnhundertachtzehn von den siegreichen Deutschen und ihren traurigen Repräsentanten mit historisch unbekannter blendender Geste annahmen, begriff sie, was die Bewegung wollte, und das unerhört war: für dilettierende Verantwortungslosigkeit zufällig in Regierungen und Parlamente Gewählter wirklich eines Volks bewußte Verantwortung auch für Fehler, Verbrechen, schlimmste Sünden.

Da lehnte keine Kohorte politischer Schieber Fiasko, Zusammenbrüche ab, verhüllte Haupt und heulte Lügen, da wollte Gewissen von Massen sich endlich beruhigen, indem es Menschlichkeiten, Irrtümer, Unterlassungen erkannte, vor allem die bisher mangelnde allgemeiner politischer Besonnenheit. Hier war riesiger Gemeinschaft Schrei Europa ins Gesicht, in Zukunft herrschte kein unverantwortlicher Geist von Führern mehr aber Volkswillen in Rußland.

Da verstand sie, was über von der Gegenseite zu ihrer radikalen Bekämpfung schnell geblasenen Moral und Wirtschaftsalarmen aus der neuen Bewegung aller westlichen Welt faulen Atem stocken ließ: Angst, jahrtausendalter Führerwirtschaft sollte ein Ende gemacht werden, Advokaten, Journalisten und Intellektuelle, des lang Erprobten, das am Schnürchen geht, gerissene Anwälte müßten in Versenkung verschwinden, aus der einzige Menschheit, des zeitgemäß Möglichen neben dem Ewignotwendigen Behaupterin aufträte. Eigenes Schicksal wollte dies Volk, hatte vor abschnurrender Mechanik der Beziehungsinhalte keinen Respekt mehr. Fort von nationalökonomischen Tatsachen schien es sich nach Tat zu sehnen, endlich bereit zu sein, dem Wahnsinn letzten europäischen Jahrhunderts, das auch seiner Moral Gesetze unterlegt hatte, zu entsagen. Wollte nicht auch im Umgang mit Mitmenschen nach noch so süßem Schema durch unverantwortliche Führer bevormundet sein, sondern selbstverständlich leben, nicht schon in Gegenwart und Zukunft geworden sein, sondern unselig oder selig werden!

Eura brannte, Taten zu sehen, die aus so eigenen Bewußtseins Überfülle mit ungezählten Überraschungen und Wundern folgen mußten. Von letzten mechanischen Reflexen des Kriegs, erdachten Geschehnissen fort, wandte sie Andacht so ganz Ereignissen in Rußland zu, daß sie Deutschlands gigantischen Absturz und Sieg der Alliierten zu Jahresende teilnahmslos konstatierte, die ihr beide vor dem im Osten tagenden Licht belanglos schienen.

 


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