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Wie eine Irrsinnige war sie durch Flure und Zimmer des Hotels gerast, solange noch Hoffnung war, die Verschwundenen im Haus zu finden, dann mit so furchtbarem Schreien mitten auf dem Treppenvorplatz zusammengestürzt, daß Gäste von allen Seiten liefen, Frauen in ihren Zimmern sich Ohren zuhielten, und ein junges Mädchen in hysterische Krämpfe fiel.
Dazu jagten, von Rank geschickt, Chasseure, Boten und Etagendiener nach allen Seiten auf Polizei und Telegraphenämter hin und zurück, hingen Portier, Telephonbeamtinnen am Apparat, kamen in Eilmärschen Ärzte, daß alle Hauptinsassen stundenlang an Euras Leid unvergeßliches Miterleben hatten.
Sie selbst, in schwerer Bewußtlosigkeit, hatte man zu Bett gebracht, in dem sie tagslang in Fiebern, ohne zu sich zu kommen, blieb.
Alle erneuten und verzweifelten Recherchen, die Rank inzwischen unternommen, und bei denen er jede öffentliche und geheime Hilfe beansprucht hatte, hatten nicht den geringsten Erfolg gehabt. Keine Spur war von den Entflohenen zu finden. Vom Erdboden schienen sie verweht, Abgrund sie geschluckt zu haben.
Während Euras Exzessen in Kissen hatte Rank wieder reichlich Gelegenheit, an eines Weibes Heimlichkeiten seiner Neigung gemäß, teilzuhaben. Der Einzige, der der hilflosen Kranken als eine Art Angehöriger beistehen konnte, war er auch der Nächste, den gequälten Pflegerinnen zu helfen oder sie zu vertreten, ruhten sie aus. Und als Eura stiller wurde, Gefahr für sie vorüber war, saß er Tage an ihrem Bett allein und fing erste auflebende Blicke. Ihren elementaren Schmerz genoß er durch alle Stationen mit, sah von dieser Frau ungeheure oft mystische Leidensfähigkeit in vielen Graden ein: fuhr sie in plötzlichem Begreifen sich mit Händen in Haar, krallte Finger in den hochgeworfenen Schoß, als wolle sie dort etwas zum Schweigen bringen oder sich auf langen Schenkeln von der Matratze hob, Fuß zum Bett hinausstellte und, Licht zwischen Beinen, verharrte, als wisse sie nicht, müsse sie den verlorenen Schatz in oder außer dem Lager suchen.
Er begann Eura, an der er immer mehr Intensität des Lebensdienstes bewunderte auf seine Weise zu lieben, weil er fühlte, inniger als durch sie könne er an heutiges Leben nicht angeschlossen sein, und mittelbares Sein durch sie bedeute seinen dichtesten Anschluß an Welt.
Noch einmal war sie in wüsten Anfall zurückgesunken, als sie beim ersten deutlichen Wiedererwachen in seinen Augen unabwendbare Wahrheit erkannt hatte; dann aber waren Erregungsquellen vom Hals über Brüste zu Schenkeln hinabstreichend, flacher geworden und blieben schließlich aus. Schon konnte er mit ihr lautlose Zwiegespräche über Geschehenes halten, Tränenströme folgten, Erröten und Erblassen. Es kamen Schweißausbrüche, Seufzer, und zu allen Schwächen litt sie wie Natürliches seine unterstützende Hand.
Als aber alles feststand, daß sie es zwar noch immer nicht ohne Erschütterung verstehen konnte, aber doch schon in ihm verbindenden Sinn zu neuem Leben suchte, begann sie den Gewaltakt als Scheiterhaufen zu begreifen, auf dem sie alles noch Formlose ihres Seins verbrennen müsse. Sie wollte sämtliche Bindungen zur Vergangenheit einäschern, nur noch der Gegenwart und Zukunft Wahrnehmung und enthusiastischen Anschluß an sie.
Mit Ranks Hilfe, der abreiste, liquidierte sie gesamten Pariser und Amsterdamer Besitz; in einer Versteigerung, die unvergleichliches Aufsehen machte, entäußerte sie sich auch seltenster Kunstschätze und stand mit Koffern und Depotauszug bald frei, allein. Fühlte sich, nachdem man sie ihrer höchsten Kostbarkeit beraubt hatte, so verhältnismäßig am geborgensten.
Jedem Aufruf zum Anschluß sofort entsprechen zu können, fühlte sie, müsse sie nach rückwärts ohne Fesseln sein, und ihrem sozialen Elan könne sie strikt nur aus Hotelzimmern folgen.
Rank machte sie als Leiter des Pariser Instituts mit vielfach erhöhtem Kapital selbständig und begab sich für den Augenblick jeder Begleitung, aber auch aller Bedienung. Auf ein Telegramm, einen Telephonruf, brachte er auch keine Nachricht von den Verlorenen, konnte sie jetzt woimmerhin fliegen und Probleme an Ort und Stelle prüfen. Zeit und Kraft zu sparen, müsse sie von einer Zentrale Europas aus Telegraphendrähte spielen lassen.
Das sei Berlin! Knotenpunkt von Ereignissen und Anschlüssen. Und in Berlin ein internationaler Gasthof Unter den Linden. Dort in kaiserlichen Quartiers Nähe müsse ihr eigenes sein, Zeitströmungen heiß und in besonderem Sinn aufzufangen. Aus Fenstern auf den Pariser Platz nähme sie gleich in Empfang, was durchs Brandenburger Tor offiziell in Berlin und Deutschland einzöge.
Auf dem Weg dorthin suchte sie in München den renommiertesten Detektiv, der sofort Unerhörtes in Szene zu setzen versprach, noch persönlich aber auch einen Anwalt auf, von dem sie erfahren hatte, er habe früher Carls Geschäfte geführt. Trotz ihrer rührenden Bitten und Tränen behauptete der, von seinem Klienten nicht das mindeste zu wissen.
Nachdem sie Ranks Nachricht empfangen hatte, ein Pariser Detektiv glaube, die Spur gefunden zu haben, sei nach Smyrna unterwegs, und alles scheine auf bestem Weg, hatte sie bei ihrem Eintreffen in Berlin, von brausendem Leben gepackt, das Gefühl, Erinnerung des Geschehenen sänke aus oberen in ihre unteren Schichten und werde sie nicht mehr als einziger Eindruck grauenhaft besitzen.
Was sie zuerst feststellte: Nicht nur in niederen, auch repräsentierenden Schichten, wo sie lebendig waren, schienen über einer die Funktionen von Mensch zu Mensch im Sinn stumpfsinniger Anpassung an ein kraftmeierisch verneinendes Schlagwort mechanisierenden Allgemeinheit, Kräfte am Werk, die treibender Gewalten Tendenz sicher erkannten und in klugen Sätzen festlegten.
Sie sah, reiner Instinkt, gierig, sich in mystischem Verein mit Essenz nächster Dinge zu vermählen, hatte schon über Carls Behauptung hinaus, es stände neben freizukämpfender Welt flüssiger Beziehungsinhalte noch die ergänzende fester Denkinhalte, für den Augenblick vollkommen mit dem gebrochen, was Idee der Dinge, ihre Abgrenzung und Existenz an sich in unserem Urteil ist und vielmehr gesamte Welt zum Gegenstand seiner Liebe und Inbrunst mit dem Wunsch gemacht, überhaupt nicht auf des Phänomens sich vor einem Bewußtsein vollendende Wirklichkeit zu warten, sondern es in seinem Werden, allen Phasen seiner Möglichkeiten, inneren Bewegung aufzusuchen, um ohne Spur eigener intellektueller Kraft: Symbolen, Synthesen, Analysen und Sprachsitten, wechselnden Rhythmus der Dinge aus ihnen selbst zu verstehen und sich ihm einzuordnen.
Es blieb ihr nicht verborgen, das heute die Allgemeinheit verzehrende Verlangen war ursprünglich Monopol der Frau gewesen: Fehlen allgemeiner Ideen, rasende, rein intuitive Sehnsucht, gesamten Lebensbesitz durch das einzige Gefühl ohne Rücksicht auf denkerische Scham zu erringen, während der Mann zu seinem Genuß immer erst um exaktes Urteil hatte kämpfen müssen.
Also begriff sie, Europas Eroberung durch das Weib hätte begonnen, bevor sie gleiche Witterung gehabt hatte, sah Ibsens Mission und Erfolg ein und war peinlich durch Strindbergs maniakalischen Gegenstoß berührt, dem aber Wirkung auch deshalb zu fehlen schien, weil zwischen Mann und Weib er keinen Ausgleich als des letzteren Ausstoßung aus dem Konzert des Lebens kannte.
Sie hatte hier vollkommen Sensation schon wirkender Revolution, ohne daß man sie offiziell so nannte oder sie überhaupt als solche erkannte und zwar einer Umwälzung durch Europa, wie sie sie so entscheidend geschichtlich nicht kannte.
So jähe, fanatische Hingabe an das Relative, Unbestimmte, an schöpferische Evolution, an die Idee der Unordnung gegenüber vergangenen Jahrhunderten, die dem Präzisen, denkerischen, primären Ansich gehuldigt hatten, schien sie sich nur als größeren Ziels umwälzende Vorstufe erklären zu können.
Nachdem man nämlich erkannt hatte, daß zum Beispiel bisheriges, präzises Maß vom Mitmenschen, seine Typenbildungen, nicht mehr annähernd, was Wirklichkeit täglich aufzeigte, erschöpfte, hatte man im Augenblick, als man das Symbol aufgab, sich entschlossen, den Einzelnen nun auch wirklich wieder bis in seine tiefste soziale Stufe zu kennen, solange Kult mit ihm zu treiben, bis man all seinem Wesentlichen nicht mit Erkenntnis doch aus des Gefühls Inbrunst nah war. Keinen Augenblick aber schien es Eura zweifelhaft, daß der Zustand der Überschätzung auch geringsten Augenblicksphänomens nur Übergang in des Sozialismus Entwicklung war, der zu späterer, regierungsfähiger Geistigkeit neue Begriffe erst so erweitern wollte, daß in ihnen auch unbedingt alles Zeitgenössische verankert war.
In diesem weiteren Sinn, nicht als Selbstzweck schätzte sie Nietzsches, des Vorkämpfers und seines Jüngers Bergsons Philosophien, Picassos Visionen. Im Geistigen sah sie schon eisernen Besen an der Arbeit, der Material aus allen Vorstellungsgebieten für spätere Formen zusammenkehrte.
Bis an Asiens Grenzen zum Ural war russische Intelligenz, waren Gogol und Dostojewsky dabeigewesen, die früher verschmähte Einzelseele aus anonymem Staub zu heben und ihre Züge des neuen Menschen Bild hinzuzufügen. Tolstoi hatte sogar begonnen, seinen Geschöpfen das Relief sie bindender neuer Ordnung zu geben. Zum erstenmal in der Geschichte sah man nicht aus physikalischen, sondern psychologischen Gesetzen, wie weit Europa reichte, ein.
Diese umfassende Bewegung der Auflösung europäischen Denkens zugunsten einer allgemeinen europäischen Vision schien Eura nicht gründlich genug sein zu können, weil sie fürchtete, trotz riesigen Elans könne in einem Winkel irgendein Sensatiönchen vergessen werden, dessen Geschmack dem neuen Geist fehlen und ihn wieder unzureichend machen müßte.
So nahm sie groteske Übertreibungen junger Lyriker in Kauf, in denen diese sich so weit vergaßen, daß sie Uhr, Lokomotive selbst zu sein wünschten, um bei ihrer Kommunion mit diesen Dingen nicht zu kurz zu kommen.
So begriff sie des Katholizismus Aufschwung und seine Verkünder Claudel, Jammes und andere, so Stottern und Lallen der Künste und Wissenschaften, weil sie wußte, durch Zittern und Schwanken, solche »palpitation«, sollte das All erst in Schwingung versetzt werden, bevor es in gültigere Formen für die Epoche erstarrte.
Als sie aber sah, mit geringster Andeutung an Zeitgenossen, sie sähe augenblicklichen Schwung als kein Resultat, wurde sie von diesen als Verlorene betrachtet und verstand, solche Einseitigkeit der begeistert Kämpfenden sei wieder als Furcht eines Intensitätsverlustes begreiflich und berechtigt, ließ sie höhere Einsicht ins Unterbewußtsein gleiten und anerkannte mit ihrem ganzen Kreis Geschehen als Leben selbst.
Wohnung hatte sie richtig gewählt. An ihren Fenstern raste offizielles Leben vorbei, die gewissermaßen falsche Repräsentation, äußere Aufmachung eines auch in bezug auf Besitz von Kapitalsgütern nicht scharftrennenden, skrupellosen Zeitalters. An seiner Spitze an bloße Vorstellungen verloren, ein impulsiver Hohenzoller, der in überanstrengten Automobilen mit wallendem Mantel, wehenden Federbüschen seiner Adjutanten und Kutscher unablässig hin und her vorbeiflatterte oder zu Pferd, Hand am Degenknauf drohenden Blicks vor dröhnenden Kompagnien herstampfte, als wolle er heute wuchtig vertreten, was ihm gestern nur vag geschwant hatte.
In ihre Zimmer aber schlug von früh bis spät der Epoche wirklicher Puls, der schließlich strikterer Form ansagte: Die (von Gott) ursprünglich gesetzte Welt, deren Objekt der Mensch ist, und die er mit ganzer Hingabe seines vernünftigen Denkens in befohlenem unentrinnbaren Sinn mit aller Menschheit gemeinsam abliest, macht ihn aus bewiesener Demut zum Zugreifen in die andere, augenblickliche Welt der Beziehungen stark, darf er sich im Anschluß an gerade erfahrene logische Zwänge nun auch verantwortungsvoll mit vorbestimmtem (moralischem) Sinn ins lebendige Leben mischen. Und, diese doppelte natürliche Bindung aller Menschen in mitmenschlichen Gesetzen und öffentlichen Einrichtungen immer wiederzufinden und unverdrossen durchzusetzen, sei aller sozialisierenden Tendenzen letzter Zweck.
Carls andere, von ihr jetzt völlig begriffene Erkenntnis verwarf sie mit vielen Erinnerungen an ihn endgültig: Es sei der zweite Prozeß nicht des ersten logische Fortsetzung sondern Wechselwirkung zu ihm: indem der eben noch an Gott verschenkt gewesene Mensch mit der aus Demut gefundenen Kraft sich zur Welt des Nächsten wende, dürfe er im Bewußtsein gerade erfahrener einseitiger Unfreiheit vor höherem Zwang, sich nun andererseits vor irdischen Verhältnissen völlig frei entscheiden. Daß es also zwar nur eine reine Vernunft aber immer soviel Morale als lebendige Menschen gäbe, und daß gerade diese gemeinsame moralische Freiheit und nichts anderes den erstrebten Sozialismus bedeute.
Wichtig aber glaube sie, sei vor allem, daß augenblickliche hartnäckige Abwendung von solange einseitig geschätzter primärer Vernunftswelt fortdauere, und die alles ergreifende, glühende Vision neu zu erforschender Beziehungswelt noch immer mächtiger würde. In dieser Überzeugung lag auch ihre letzte Gemeinschaft mit Carl.
Auf Menschenmassen, die nie über der Zeit geistige Einstellung nachgedacht hatten, wirkte innere Umwälzung gleich stark. Distanz von Mensch zu Mensch war schon aufgehoben, in jeder Beziehung griff man ungehemmter als in vergangenen Generationen in den Nächsten, vor allem in dessen persönliche Rechte und Besitze über und ließ sich auch von seiner etwaigen menschlichen Überlegenheit nicht imponieren. Immer schnellere Verkehrsmittel erlaubten, wie bessere Instrumente, Fernrohre, Mikroskope Einbruch in Natur, immer leichter unvorhergesehenen Eingriff in des anderen vielleicht angestrebte Einsamkeit.
In aller Unterhaltung fiel Scham, jeder Altersunterschied, und an Knaben und halbflügge Mädchen richtete man nachdrücklichste Worte ... Sexuell brach eine Schranke nach der andern, gesetzliche und elementare Hindernisse wurden spielend überwunden, und eins nur schien unbegreiflich: daß über so geänderter Lebenspraxis von einer regierenden Beamtenkaste graue und in Fugen krachende Theorie mit ernstem Antlitz noch gepflegt werden konnte.
Keine Strafbestimmung war mehr einer Wirklichkeit angepaßt, die über Stränge schlagen mußte, sollte sie allgemeiner Überzeugung entsprechen, und in meisten Fällen waren Richter und Vorgesetzte in einer von Welt und ihnen selbst gefühlten tiefen inneren Verlegenheit.
Besonders die Frau, von der den Mann im letzten hemmenden allgemeinen Wehrpflicht verschont, riskierte wenig, sah sie neuen Tendenzen furchtlos ins Gesicht und wagte alles. Unkeuschheit im Jungfrauenalter, vielfacher Ehebruch der Frau wurden kaum noch verübelt. Griff sie nicht zerstörend in die in ihr wachsende Frucht ein, an die das Bezirkskommando Anspruch hatte, war sie in Freiheit wenig beschränkt.
Es müsse viel leichter sein, dachte Eura, von dieser schon innerlich gewordenen Freiheit der Frau plötzlich Gebrauch nach außen zu machen und Männer einfach mitzureißen, als daß diese, bis zum fünfzigsten Jahr unter militärischer Fuchtel, Kraft aus sich selbst fänden.
Sie stellte aber fest, das Weib, immer mehr im wirklichen Besitz der Unabhängigkeit, bemühte sich aus geschlechtlichen Ursachen immer weniger, sie auch für den Mann zu fordern, den sie aus innerer Überlegenheit leichter beherrschte und im Gegenteil in seinen inneren und äußeren Abhängigkeiten bestärkte.
Hier schien ewigmenschliches Moment größte Gefahr für ein zeitgenössisches, und Eura sah ein, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften müsse die Frau, daß Lösung des Zeitproblems, Revolution auf dem Gebiet menschlicher Beziehungen im letzten überhaupt möglich sei, auf ein Biologisches zugunsten eines Politischen verzichten. Sie müsse soweit gebracht werden, schon fast gewonnene Freiheit des Weibes gegen die des Menschen in ihr zurückzustellen.
Insbesondere müsse die Proletarierin, an den Mann mehr durch gemeinsamen Kampf ums Dasein als Geschlecht gebunden, wie sie bereits begonnen habe, Frauenbewußtsein noch mehr ihrem Klassenbewußtsein unterordnen und soziale Knebelung früher als letzte Ketten des Weibtums sprengen. Hierzu sei noch stärkerer menschlicher Gemeinsamkeitswille in Beziehungsdingen, solidares Bewußtsein, Proletarier zu sein, nötig.
Umgang mit Frauen wohlhabender Gesellschaft widerte sie heftiger an. In diesen üppigen Kreisen hatte als sogenannter Ernährer der Familie der Mann wenigstens Daseinsvorwand. Für Weiber aber schien ausschließliche Besorgnis um ihrer diversen Wollustzentren Wohlsein zu schmale Lebensbasis. In folgendem Dialog, den sie als Paradigma aufzeichnete, rechnete Eura mit ihnen und ihrem vielfachen, raffinierten Decolleté ein für allemal ab:
Sie: Du liebst mich nicht!
Er: Aber ich beweise es jeden Tag mit Tat.
Sie: Nicht genug!
Er: Ich habe dazu noch Arbeit.
Sie: Ein Immertotes. Doch ich lebe!
Er: Und unsere Kinder?
Sie: Bin ich weniger?
Er: Aber ich tue wirklich, was ich kann.
Sie: Ich brauche mehr!
Und Eura setzte unterstrichen die Frage hinzu: Wofür?
Nein, in solchen Zeitumständen war eines Busens und Schoßes hübsches Vorhandensein allein nicht menschliche Daseinsbeglaubigung mehr. Damit fiel aber auch des Luxus' Berechtigung, der zur mittelbaren oder unmittelbaren Hervorhebung dieser weiblichen Prachtstücke diente, Plunder der Salons, Raffinement der Wohlgerüche, Puder und Seifen, weicher Haut, blanker Augen und Nägel, Unsinn von Polstern und Kissen, die zum Beischlaf aufforderten, gewürzter Speisen und Getränke, die für ihn starkmachten, fort, und von selbst nahm Leben einfachere Formen an.
Für sich zog Eura aus diesen Erkenntnissen strengste Konsequenz. Im Verlauf von Monaten und Jahren wurde sie selbst schlichter, unscheinbarer ihr Anzug. Zum obligaten Inventar des Hotels duldete sie keinen Schmuck.
Ihre Weiblichkeit, die von selbst immer weiter zurücktrat, gehörte Carls einzigem und ihres Kindes Andenken, von denen nie wieder annähernd sichere Nachricht gekommen war. Die so wenig aus vielen Gründen für ihre Gegenwart bedeuten konnten, hielten dennoch mit entzückenden Bildern ihre ganze Vergangenheit besetzt.
Inmitten für hohes Ziel restlos schaffenden Lebens, bei dem sie viel Frauennatur verlor, entwickelte Eura großen Bewußtseins den weiblichen Menschen in sich, an ihm ein zuverlässiges Vorbild für das Geschöpf zu haben, das, wie sie aus immer spannenderen und gespannteren Vorgängen fühlte, jeden Tag für das Wohl der Welt dringender notwendig wurde.