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VII.

Das schon mehrmal genannte Erl, am Innstrom das letzte Dorf auf tirolischem Boden, in einer geräumigen, baumreichen Fläche, am Fuße des fruchtbaren, mit schönen Höfen besetzten Erler Berges gelegen, ist ein alter Ort der Römer, der zu ihrer Zeit Aurelianum, später Orilan hieß, im Lauf der Zeiten zwar selten erwähnt wird, aber vor etwa fünfzig Jahren plötzlich aus der Dunkelheit hervortrat und eine namhafte Bedeutung gewann, weil damals Adolf von Pichler, der berühmte tirolische Dichter, dort das Licht der Welt erblickte.

Ferner ist dies Dorf der weiten Nachbarschaft seit alten Tagen wohl empfohlen, weil es auf seiner ländlichen Bühne nach etlichen Jahren, in welchen die Ritterstücke zum Zuge kommen, immer wieder die »Passion« aufführt, deren Anziehung auch jetzt noch in ziemliche Ferne wirkt.

Bei unsrer heutigen Bildung ist wohl anzunehmen, daß jeder Leser und jede Leserin wisse, was ein Passionsspiel sei. Jedenfalls hat er und sie von der Passion zu Ammergau gehört, welche bekanntlich alle zehn Jahre gespielt und mit stets wachsendem Besuche aus nahen und fernen Ländern beehrt wird. Dieselbe ist, was wir kaum zu sagen brauchten, ein Volksstück in großartigstem Zuschnitt. Der Mitwirkenden sind etliche Hunderte, die Schaubühne ist lang und breit genug, um dieses Histrionenheer zu fassen, und das Drama spielt mit kurzer Unterbrechung vom Morgen bis zum Abend. Es ist nämlich der Text allenthalben durch die sogenannten »lebenden Bilder« und durch Gesangsstücke unterbrochen, welche allerdings den Verlauf des Dramas dermaßen hinhalten, daß sie in Ländern, wo die Zeit mehr Wert hat, wahrscheinlich viele Gegner finden würden.

Neben diesem weltberühmten Spiele hatte sich jedoch da und dort im bayerisch-tirolischen Grenzlande auch noch eine anspruchslosere Gattung solcher Vorstellungen erhalten, welche auf kleineren Bühnen von einem kleineren Personale in kürzerer Zeit, d. h. in einem Nachmittage oder auch nur zwischen Vesper und Gebetläuten aufgeführt, aber aus der Nachbarschaft immerhin sehr gerne besucht wurden. Eigentlich dürfen dieselben auch jetzt noch nicht als aufgegeben gelten, obgleich sie im letzten Jahrzehnt vor den Ritterstücken, welche ungemein beliebt geworden, etwas in den Hintergrund getreten sind.

Der Text des Ammergauer Spiels ist von gebildeten Klerikern schon mehrmals überarbeitet und je nach dem Geschmacke der Zeiten erneuert worden; die Texte der anderen Passionen haben aber meist nur bäuerliche Autoren, und zwar nur für Bauern zusammengesetzt. Da nun in diesen Schichten der Fortschritt des Geschmackes sich nicht übereilt und für stilistische Reformen wenig Zeit erübrigt, so sind diese altfränkischen Dichtungen, wie sich von selbst versteht, viel naiver, aber mitunter auch viel roher, als das Ammergauer Stück. So pflegte z. B. auf einer dieser ländlichen Bühnen dem Judas, nachdem er sich an den Baum gehängt, jedesmal der Bauch zu platzen und sein sämtliches Gedärm sich in langem Quirl auf die Bühne zu ergießen, worauf dann ein halbes Dutzend kleiner schwarzer Teufelchen herbeisprang und es fröhlich auffraß – eine Szene, welche die Zuschauer nicht befremdete, da sie vorher schon wußten, daß die Gedärme lauter schmackhafte Würstchen und diese der einzige Lohn waren, der der männlichen Schuljugend für ihre Mitwirkung bei der heiligen Handlung versprochen worden.

Die Theater oder »Komödiehütten« von dieser Gattung sind, wenn sie ständig, so ziemlich der gleichen Bauart und sehen ganz und gar wie große hölzerne Scheunen aus. Sie sind von Wind und Wetter tief gebräunt, und da sie außen kein Wahrzeichen, kein Bild, keine Inschrift tragen, so geht der Wanderer leicht vorbei, ohne die Nähe des Musentempels auch nur zu ahnen. Die Einrichtung der Bühne war, so lange man nur das Leiden Christi spielte, überall die gleiche; im Proszenium stand auf der einen Seite der Palast des Pilatus, auf der anderen das Haus des Kaiphas; der Hintergrund wechselte, je nachdem das Abendmahl, der Ölberg oder anderes an die Reihe kam. Mit dem Übergang zu den Ritterspielen sind auch die Dekorationen etwas mannigfaltiger und wandelbarer geworden.

Eine Eigentümlichkeit, welche die Passionsspiele mit den Ritterstücken teilten, war der Genius, oder, wie ihn die Landleute nannten, der Schutzgeist. Dieser erschien in kurzem, weißen Flügelkleide, war mit langen blonden Locken behängt und trug als sein Symbol auf vergoldetem Stabe ein funkelndes Aug' Gottes. Er zeigte sich vor jedem Akte, ging in würdigen Schritten auf der Bühne hin und her und sang dabei unter schwacher Begleitung des Orchesters einige Strophen herunter, welche die bevorstehenden Ereignisse verkündeten und zu deuten suchten. War dies geschehen, so trat er mit einer Verbeugung wieder ab. Dieser Schutzgeist kommt jetzt wohl nicht mehr vor.

Die Einrichtung des Zuschauerraumes bietet nichts Besonderes und ist sicherlich immer dieselbe gewesen. Auf einem hölzernen, aufsteigenden Unterbau ruhen etwa fünfzehn oder zwanzig Reihen von hölzernen, mit Lehnen versehenen Bänken, welche in den ersten, zweiten und dritten Platz zerfallen. Die Haltung des Publikums ist ohne Ausnahme musterhaft. Es raucht zwar seine Zigarren, selbst während des Abendmahls und der Kreuzigung, vergißt auch nicht, sich durch duftende Würstchen und die landesüblichen Getränke bei guten Kräften zu erhalten, aber es zischt nie und erlaubt sich nur, wenn etwa eine kleine Ungeschicklichkeit vorkommt, milde zu lächeln. Es steht zwar in der Regel ganz zufrieden auf, aber es ist nicht gewohnt, seine Lieblinge durch lauten Beifall oder durch Hervorruf eitel zu machen.

So viel wir wissen, war aber die Bühne zu Erl damals gerade keine ständige. Man hatte vielmehr seit vielen Jahren nicht mehr gespielt, das alte Schauspielhaus in Verfall geraten lassen und kein Geld zurückgelegt, um ein neues zu bauen. Man wollte daher nur wieder einmal einen Versuch wagen, dafür aber möglichst wenig aufs Spiel setzen. Trotzdem war die Bühne, die man fleißig ausgebessert, so ziemlich so, wie sie sein sollte, aber im Zuschauerraum fanden sich auf einem Balkengerüste, das man einstweilen für ausreichend erachtete, statt der festgefügten Sitzreihen nur allerlei Bänke, Sessel und Stühle, welche aus allen Häusern, die sie herleihen wollten, zusammengetragen worden waren. Statt eines festen Daches, das man erst später aus den Erträgnissen dieses Sommers herzustellen gedachte, war zum Schutze gegen die Strahlen der Sonne nur eine, aus vielen Stücken zusammengenähte Blahe übergespannt. Endlich hatte man unter den bekannten Texten den kürzesten gewählt, so daß das bittere Leiden nach der Vesper, d. h. gegen vier Uhr anfangen und mit Gebetläuten endigen sollte.


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