Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

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Der Einblick

Ich fuhr bei sehr schlechtem Wetter, welches mit Wind, Regen und Schnee nach den hellen und sonnigen Tagen, die wir in dem Hochlande zugebracht hatten, gefolgt war, von dem Rosenhause ab. Die Pferde meines Gastfreundes brachten mich auf die erste Post, wo schon ein Platz für mich in dem in der Richtung nach meiner Heimat gehenden Postwagen bestellt war. Mathilde und Natalie waren zwei Tage vor mir abgereist, da sich schon die Zeichen an dem Himmel zeigten, daß die milden Tage für dieses Jahr zu Ende gehen würden. Roland war von seiner Wanderung in dem Asperhofe eingetroffen. Alles hatte auf stürmische Änderung in dem Luftraume hingedeutet. Ich weiß nicht, warum ich so lange geblieben war. Es erschien mir auch einerlei, ob das Wetter übel sei oder nicht. Ich war von meinen Wanderungen her an jedes Wetter gewohnt, um so mehr konnte mir dasselbe gleichgültig sein, wenn ich in einem vollkommen geschützten Wagen saß und auf einer wohlgebauten Hauptstraße dahin rollte.

Am dritten Tage Mittags nach meiner Abreise von dem Rosenhause traf ich bei den Meinigen ein. Die zweite Ankunft in diesem Jahre.

Sie hatten aus meinem Briefe die Verspätung meiner Ankunft entnommen, den Grund vollständig gebilligt und wären, wie ich ganz richtig vorausgesehen hatte, unwillig auf mich geworden, wenn ich anders gehandelt hätte. Ich erzählte nun alles, was sich nach meiner schnellen Abreise von Hause begeben hatte. Da bei meiner ersten Ankunft gleich die eine Ursache zur Wiederabreise vorgekommen war, so konnte ich auch jetzt erst nach und nach erzählen, was sich im vergangenen Sommer mit mir zugetragen habe. Der Vater kam sehr häufig auf die Zeichnungen zurück, die ihm mein Gastfreund gesendet hatte, und aus seinen Reden war zu entnehmen, wie sehr er die Geschicklichkeit des Mannes anerkannte, der die Zeichnungen gemacht hatte, und wie hoch in seiner Achtung der stehe, auf dessen Veranlassung sie entstanden waren. Er führte mich neuerdings zu dem Musikgerättische, zeigte mir noch einmal, warum er ihn gerade an diesen Platz gestellt habe, und fragte mich wieder, ob ich mit der Wahl des Ortes einverstanden sei. Mich wunderte Anfangs die Frage, da er sonst nicht gewohnt war, mich in solchen Dingen zu Rate zu ziehen. Nach meiner Ansicht war der Tisch in dem Altertumszimmer an dem Fensterpfeiler in passender Umgebung sehr gut gestellt und zeigte seine Eigenschaften in dem besten Lichte. Ich wiederholte daher meine vollkommene Billigung des Platzes, die ich schon vor meiner Abreise ausgesprochen hatte. Später aber sah ich wohl recht deutlich, daß es nur die Freude an diesem Stücke war, was den Vater zur Wiederholung der Frage über die Zweckmäßigkeit des Platzes und zum wiederholten Zurückkommen zu dem Tische veranlaßt hatte. Das freudige Wesen, welches ich bei meiner ersten Ankunft in seiner ganzen Gestalt ausgedrückt gesehen zu haben glaubte, erschien mir jetzt auch noch über ihn verbreitet. Selbst die Mutter und die Schwester schienen mir vergnügter zu sein als in andern Zeiten – ja mir war es, als liebten mich alle mehr als sonst, so gut, so freundlich, so hingebend waren sie. Wie sehr dieses Gefühl, von den Seinen geliebt zu sein, das Herz beseligt, ist mit Worten nicht auszusprechen.

Ich erzählte meinem Vater von dem Marmorbilde, welches auf der Treppe im Hause meines Gastfreundes steht, und suchte ihm eine Beschreibung von diesem Kunstwerke zu machen. Er sah mich sehr aufmerksam an, ja mir war es einige Male, als sähe er mich gewissermaßen betroffen an. Er fragte um Manches und veranlaßte mich neuerdings von dem Bilderwerke zu sprechen. Es schien ihn sehr angelegentlich zu berühren.

Ich erzählte ihm dann auch von der Brunnengestalt in dem Sternenhofe, verglich sie mit der Treppengestalt im Rosenhause, suchte den Unterschied hervorzuheben, und suchte für die Treppengestalt weit den Vorzug zu gewinnen, obgleich sie der älteren Zeit angehöre und die andere etwa erst im vergangenen Jahrhunderte verfertigt worden sei, und obgleich diese fast blendend reinen Marmor habe, die andere aber einen, dem man das hohe Alter schon ansehe. Er fragte auch hier noch um Vergleichungspunkte, und ich sah, daß er die Sache ergriff und Einsicht von ihr hatte. Ich erzählte ihm dann auch von den Gemälden meines Gastfreundes, ich nannte ihm die Meister, von denen Werke vorhanden wären, und bemühte mich, Beschreibungen von den Bildern zu geben, welche mich am meisten in Anspruch genommen hätten. Er tat auch in dieser Hinsicht zahlreiche Fragen und machte, daß ich mich über den Gegenstand weiter ausbreitete, als ich wohl ursprünglich im Sinne hatte.

Am zweiten Tage nach meiner Ankunft, da wir wieder von diesen Dingen gesprochen hatten, nahm er mich bei der Hand und führte mich in sein Bilderzimmer. Ich war absichtlich seit meiner Ankunft nicht in demselben gewesen und hatte mir dessen Besuch auf eine ruhigere Zeit aufgehoben. Ich hatte die zwei Tage in Gesprächen mit meinen Eltern hingebracht, zum Teile hatte ich sie auch benützt, die Dinge, welche ich ihnen und der Schwester gebracht hatte, zu übergeben. Darunter waren auch die kleineren Marmorgegenstände, welche im Rothmoore fertig geworden waren. Der Rest der Zeit war mit Auspacken, Einräumen und mit einigen Ankunftsbesuchen ausgefüllt worden. Da wir in das Zimmer getreten waren und die Mitte desselben erreicht hatten, ließ er meine Hand fahren, sagte aber nichts. Ich war im größten Erstaunen. Die Bilder, welche vorhanden waren und deren Zahl geringe war, weit geringer als bei meinem Gastfreunde, ja selbst im Sternenhofe, erschienen mir als außerordentlich schön, als ganz vollendete, zusammenstimmende Meisterwerke, wie sie, wenn ich dem ersten Eindrucke trauen durfte, bei meinem Gastfreunde in dieser gleich hohen und zusammengehörigen Schönheit nicht vorhanden waren. Es befand sich, wie ich bald entdeckte, kein Bild der neueren oder neusten Zeit darunter, sämmtlich gehörten sie der älteren Zeit an, wenigstens, wie ich wahrzunehmen glaubte, dem sechzehnten Jahrhunderte. Ein ganz tiefes, eigentümliches Gefühl kam in meine Seele. Das ist die große und nicht zu beschreibende Liebe des Vaters. Diese kostbaren Dinge besaß er, an diesen Dingen hing sein Herz, sein Sohn war vorüber gegangen, ohne sie zu beachten, und der Vater entzog dem Sohne doch kein Teilchen der Zuneigung, er opferte sich ihm, er opferte ihm fast sein Leben, er sorgte für ihn und suchte ihm nicht einmal zu beweisen, wie schön die Sachen wären. Ich erfuhr, wie sehr ich auch hier geschont worden war.

»Das sind ja herrliche Bilder«, rief ich in Rührung aus.

»Ich glaube, daß sie nicht unbedeutend sind«, erwiderte er mit einer durch Bewegung ergriffenen Stimme.

Dann gingen wir näher, um sie zu betrachten. Es waren in der Tat lauter alte Gemälde, keines von besonders großen Abmessungen, keines von kunstwidriger Kleinheit. Ich tat die Bemerkung, daß er keine neuen Bilder habe.

»Es hat sich so gefügt«, sagte er, »ich habe schon einige der hier befindlichen Stücke von deinem Großvater, der auch ein Freund von solchen Dingen war, geerbt, und anderes habe ich gelegentlich erworben.

Die mittelalterliche Kunst steht wohl höher als die neue. In ihr ist ein größerer Reichtum schöner Werke vorhanden als in der neuen, es ist daher leichter möglich, ein fehlerfreies altes Bild zu erwerben als ein neues. Wer Bilder unserer Zeiten liebt, gibt solche, die an Schönheit keinen Tadel verdienen, nicht zum Kaufe, sie sind daher nicht leicht zu erhalten. Bilder, die von Anfängern oder von solchen herrühren, die schwach in der Kunst sind, stehen leicht und an vielen Orten, teils von den Künstlern, teils von Händlern, wie es auch in früheren Zeiten gewesen sein wird, zum Kaufen. Zu diesen konnte ich nie eine Neigung fassen, daher ist es gekommen, daß ich lauter alte Bilder besitze. Es war ein kräftiges und gewaltiges Geschlecht, das damals wirkte. Dann kam eine schwächliche und entartetere Zeit. Sie meinte es besser zu machen, wenn sie die Gestalten reicher und verblasener bildete, wenn sie heftiger in der Farbe und weniger tief im Schatten würde. Sie lernte das Alte nach und nach mißachten, daher ließ sie dasselbe verfallen, ja die mit der Unkenntnis eintretende Rohheit zerstörte Manches, besonders wenn wilde und verworrene Zeitläufe eintraten. Man wendete dann wieder um und achtete allgemeiner wieder das Alte – von allen Seiten mißachtet war es niemals. – Man suchte sogar nachzuahmen, nicht bloß in der Malerkunst, sondern auch, und zwar noch mehr in der Baukunst; man konnte aber das Vorbild weder in der Grundeinheit noch in der Ausführung erreichen, so gut und treu die neuen Einzelnheiten auch gewesen sein mochten. Es ist langsam besser geworden, was sich eben in dem Zeichen kund tat, daß man alte Bauwerke wieder schätzte – ich selber weiß noch eine Zeit, in welcher Reisende und Schriftsteller, die man für gelehrt und spruchberechtigt achtete, die gothische Bauweise für barbarisch und veraltet erklärten -, daß man alte Bilder hervor zog, ja alte Geräte sammelte und in dem Schnitte der Kleider alte Gebilde und Wendungen teilweise einführte. Möge man auf diesem Wege zum Besseren fortfahren und nicht bloß das Alte wieder zu einer Mode machen, die den Geist nicht kennt, sondern nur die Veränderung liebt. Du kannst es noch erleben, wenn wieder eine Höhe eintritt; denn ein Schwellen von Tiefe in Höhe und ein Sinken aus der Höhe in die Tiefe war immer vorhanden. Wenn die Erkenntnis des Altertums, nicht bloß des unsern, sondern des noch schönern des Griechentums, wie es sich jetzt auszusprechen scheint, immer fortschreitet und nicht ermattet, so werden wir auch dahin kommen, daß wir eigene Werke werden ersinnen können, in denen die ernste Schönheitsmuse steht, nicht Leidenschaft oder Absicht oder ein äußerlicher Reiz oder ledigliche planlose Heftigkeit, Werke, die nicht nachgeahmt sind oder in denen nur ein älterer Stil ausgedrückt ist. Wenn wir dahin gekommen sind, dann dürften wir wohl auch gesellschaftlich auf einer Stufe stehen, daß nicht bloß Teile unseres Volkes nach Außen mächtig sind, sondern das ganze Volk, und daß es dann mit seinem Leben gelassen kräftig auf das Leben anderer Völker wirkt. Ich denke immer, die sind glücklich, die die Lerchen dieses Frühlings singen hören; aber diese werden den Zustand nicht so empfinden wie der, der andere gesehen hat, so wie der Unschuldige seine Unschuld nicht empfindet, der rechtliche Mann seine Rechtschaffenheit nicht hoch anschlägt und verdorbene Zeiten ihre Verdorbenheit nicht kennen.«

Ich dachte, da mein Vater so sprach, an meinen Gastfreund, der ähnlich fühlt und sich ähnlich ausspricht. Aber es ist ja kein Wunder, daß Männer, die ein ähnliches Streben haben, also auch ähnlichen Geist besitzen, auf ähnliche Gedanken kommen, besonders, wenn sie an Alter nicht zu verschieden sind.

Wir betrachteten nun das Einzelne.

Mein Vater hatte Bilder von Tizian, Guido Reni, Paul Veronese, Annibale Carracci, Dominichino, Salvator Rosa, Nikolaus Poussin, Claude Lorrain, Albrecht Dürer, den beiden Holbein, Lucas Cranach, Van Dyck, Rembrandt, Ostade, Potter, van der Neer, Wouvermann und Jakob Ruisdael. Wir gingen von dem einen zu dem andern, betrachteten ein jedes, taten manches Bild auf die Staffelei und redeten über ein jedes. Mein Herz war voll Freude. Es erschien mir jetzt immer deutlicher, was ich beim ersten Anblicke nur vermutet hatte, daß die Bilder in dem Gemäldezimmer meines Vaters lauter vorzügliche seien, und daß sie noch dazu an Wert so sehr zusammen stimmten, daß das Ganze eben den Eindruck eines Außerordentlichen machte. Ich hatte schon so viel Urteil gewonnen, daß ich dachte, nicht gar zu weit mehr in die Irre geraten zu können. Ich äußerte mich in dieser Beziehung gegen meinen Vater, und er versicherte in der Tat, daß er glaube, daß er nicht nur gute Meister besitze, sondern auch von diesen Meistern nach seiner Erfahrung, die er sich in vielen Jahren, in vielen Gemäldesammlungen und im Lesen vieler Werke über Kunst erworben habe, bessere von ihren Arbeiten. Ich gab mich den Bildern immer inniger hin und konnte mich von manchem kaum trennen. Das Köpfchen von einem jungen Mädchen, das ich mir einmal zu einem Zeichnungsmuster genommen hatte, stammte von Hans Holbein dem Jüngern her. Es war so zart, so lieb, daß es jetzt auch wieder einen Zauber auf mich ausübte, wie es wohl auch damals ausgeübt haben mußte; denn sonst hätte ich es ja nicht zum Vorbilde genommen. Kaum waren hier Mittel zu entdecken, mit denen der Künstler gewirkt hatte. Eine so einfache, so natürliche Färbung mit wenig Glanz und Vortreten der Farben, so gering scheinende harmlose Linien und doch eine solche Lieblichkeit, Reinheit, Bescheidenheit, daß man kaum weggehen konnte. Die blonden Haare, die sich von der Stirn gegen hinten zogen, waren fast mit keinem Aufwande gemacht, und doch konnte es kaum etwas Schöneres geben als diese blonden Locken. Der Vater erlaubte, daß ich mir das Bild zweimal auf die Staffelei stellen durfte.


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