Adalbert Stifter
Der Nachsommer
Adalbert Stifter

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Da wir einen Tag auf dieser Straße gefahren waren, ließ ich an einem Orte halten und beschloß, einen Tag an demselben zu bleiben; den Abend und die Nacht brachten wir in Ruhe zu. Am andern Tage gegen Mittag führte ich die Schwester auf einen mäßig hohen Hügel. Der Tag war ein sehr schöner Herbsttag, der Schleier, welcher im Vormittage so Hügel als Gründe zart umwebt hatte, war einer völligen Klarheit gewichen. Ich befestigte mittelst Schrauben mein Fernrohr an dem Stamme einer Eiche und richtete es. Dann hieß ich Klotilden durchsehen und fragte sie, was sie sähe.

»Ein hohes, dunkles Dach«, sagte sie, »aus welchem mehrere breite und mächtige Rauchfänge empor ragen. Unter dem Dache ist ein Gemäuer von ebenfalls dunkler Farbe, in welchem große Fenster in gemäßen Entfernungen stehen. Das Gebäude scheint ein Viereck zu sein.«

»Und was siehst du weiter, Klotilde, wenn du das Rohr in die Umgebungen des Gebäudes richtest?« fragte ich.

»Bäume, die hinter dem Hause stehen, gleichsam wie ein Garten«, antwortete sie. »Die Mauern des Gebäudes sind dort licht wie die unserer Häuser. Dann sehe ich Felder, in ihnen wieder Bäume, hie und da ein Haus und endlich wolkenartige Spitzen, die wie das Hochgebirge sind, das wir verlassen haben.«

»Es ist das Hochgebirge«, antwortete ich.

»Ist das etwa – –?« fragte sie, den Kopf von dem Fernrohre wegwendend und mich ansehend.

»Ja, Klotilde, das Gebäude ist der Sternenhof«, antwortete ich.

»Wo Natalie wohnt?« fragte sie.

»Wo Natalie wohnt, wo die edle Mathilde verweilt, wo so treffliche Menschen ein und aus gehen, wohin meine Gedanken sich mit Empfindung wenden, wo sanfte Gegenstände der Kunst thronen und wo ein liebes Land um all die Mauern herum liegt«, antwortete ich.

»Das ist der Sternenhof!« sagte Klotilde, blickte wieder in das Fernrohr und sah lange durch dasselbe.

»Ich habe dich mit Freude auf diesen Hügel geführt, Klotilde«, sagte ich, »um dir diesen Ort zu zeigen, in dem mein warmes Herz schlägt und ein tiefer Teil von meinem Wesen wohnt.«

»Ach lieber, teurer Bruder«, antwortete sie, »wie oft gehen meine Gedanken an den Ort und wie oft weilt mein Gemüt in seinen mir noch unbekannten Mauern!«

»Du begreifst aber«, sagte ich, »daß wir jetzt nicht hingehen können und daß die Angelegenheit ihre naturgemäße Entwickelung haben muß.«

»Ich begreife es«, antwortete sie.

»Du wirst sie sehen, an deinem Herzen halten und sie lieben«, sagte ich.

Klotilde sah wieder in das Rohr, sie sah sehr lange in dasselbe und betrachtete alles genau. Ich lenkte ihren Blick auf die Teile, die mir wichtig schienen, erklärte ihr alles und erzählte von dem Schlosse und von denen, die in demselben sind.

Es war indessen der Mittag gekommen, wir lösten das Fernrohr ab und gingen langsam unserer Wohnung zu.

»Kann man hier nicht auch das Rosenhaus deines Freundes sehen?« fragte sie im Heimgehen.

»Hier nicht«, erwiderte ich, »hier ist nicht einmal der höchste Teil der Rosenhausgegend zu erblicken, weil der Kronwald, den du gegen Norden siehst, sie deckt. Im Weiterfahren werden wir auf einen Hügel kommen, von dem aus ich dir die Anhöhe zeigen kann, auf welcher das Haus liegt und von dem aus du mit dem Fernrohre das Haus sehen kannst.«

Wir gingen in unsere Wohnung, und am nächsten Tage fuhren wir weiter. Als wir an die Stelle gekommen waren, von welcher man die Höhe des Asperhofes sehen konnte, ließ ich halten, wir stiegen aus, ich zeigte Klotilden den Hügel, auf welchem das Haus meines Gastfreundes liegt, richtete das Fernrohr und ließ sie durch dasselbe das Haus erblicken. Wir waren aber hier so weit von dem Asperhofe entfernt, daß man selbst durch das Fernrohr das Haus nur als ein weißes Sternchen sehen konnte. Nach dessen Betrachtung fuhren wir wieder weiter.

Als nach diesem Tage der dritte vergangen war, fuhren wir gegen Abend durch den Torweg des Vorstadthauses unserer Eltern ein.

»Mutter«, rief ich, da uns diese und der Vater, der unsere Ankunft gewußt hatte und daher zu Hause geblieben war, entgegen kamen, »ich bringe sie dir gesund und blühend zurück.«

Wirklich war Klotilde, wie es dem Vater auf seiner kleinen Reise ergangen war, durch die Luft und die Bewegung kräftiger, heiterer und in ihrem Angesichte reicher an Farbe geworden, als sie es je in der Stadt gewesen war.

Sie sprang von dem Wagen in die Arme der Mutter und begrüßte diese und dann auch den Vater freudenvoll; denn es war das erste Mal gewesen, daß sie die Eltern verlassen hatte und auf längere Zeit in ziemlicher Entfernung von ihnen gewesen war. Man führte sie die Treppe hinan und dann in ihr Zimmer. Dort mußte sie erzählen, erzählte gerne und unterbrach sich öfter, indem sie das inzwischen heraufgebrachte Gepäck aufschloß und die mannigfaltigen Dinge heraus nahm, die sie in den verschiedenen Ortschaften zu Geschenken und Erinnerungen gekauft oder an mancherlei Wanderstellen gesammelt hatte. Ich war ebenfalls mit in ihr Zimmer gegangen, und als wir geraume Weile bei ihr gewesen waren, entfernten wir uns und überließen sie einer notwendigen Ruhe.

Nun folgte für Klotilden fast eine Zeit der Betäubung, sie beschrieb, sie erzählte wieder, sie setzte sich vor Zeichnungen hin, blätterte in ihnen oder zeichnete selber und suchte in der Erinnerung Gesehenes nachzubilden.

Aber auch für mich war diese Reise nicht ohne Erfolg gewesen. Was ich halb im Scherze, halb im Ernste gesagt hatte, daß ich durch diese Reise zu einer größeren Ruhe kommen werde, ist in Wirklichkeit eingetroffen. Klotilde, welche alle die Gegenstände, die mir längst bekannt waren, mit neuen Augen angeschaut, welche alles so frisch, so klar und so tief in ihr Gemüt aufgenommen hatte, hatte meine Gedanken auf sich gelenkt, hatte mir selber etwas Frisches und Ursprüngliches gegeben und mir Freude über ihre Freude mitgeteilt, so daß ich gleichsam gestärkter und befestigter über meine Beziehungen nachdenken und sie mir gewissermaßen vor mir selber zurecht legen konnte.

Ich hatte mit Natalien keinen Briefwechsel verabredet, ich hatte nicht daran gedacht, sie wahrscheinlich auch nicht. Unser Verhältnis erschien mir so hoch, daß es mir kleiner vorgekommen wäre, wenn wir uns gegenseitig Briefe geschickt hätten. Wir mußten in der Festigkeit der Überzeugung der Liebe des Andern ruhen, durften uns nicht durch Ungeduld vermindern und mußten warten, wie sich alles entwickeln werde. So konnte ich mit dem Gefühle von Seligkeit von Natalien fern sein, konnte mich freuen, daß alles so ist, wie es ist, und konnte dessen harren, was meine Eltern und Nataliens Angehörige beginnen werden.

Klotilden, welche ihren Bergen, Lüften, Seen und Wäldern die Farbe geben wollte, die sie gesehen hatte, suchte ich beizustehen und zeigte ihr, worin sie fehle und wie sie es immer besser machen könne. Wir wußten es jetzt, daß man die zarte Kraft, wie sie uns in der Wesenheit der Hochgebirge entgegen tritt, nicht darstellen könne und die Kunst des großen Meisters nur in der besten Annäherung bestehe. Auch in ihrem Bestreben, die Art, wie sie im Gebirge die Zither spielen gehört hatte und die eigentümlichen Töne, die ihr dort vorgekommen waren, nachzuahmen, suchte ich ihr zu helfen. Wir konnten wohl beide unsere Vorbilder nicht völlig erreichen, freuten uns aber doch unserer Versuche.

Bei einigen Freunden machte ich gelegentlich zwei oder drei Besuche.

So war der Winter gekommen. Ich faßte, weil ich schon nach dem Rate des Vaters beschlossen hatte, im Winter meinen Gastfreund zu besuchen, zugleich auch den Entschluß, einmal im Winter in das Hochgebirge zu gehen und, wenn dies möglich sein sollte, einen hohen Berg zu besteigen und auf dem Eise eines Gletschers zu verweilen. Ich bestimmte hierzu den Januar als den beständigsten und meistens auch klarsten Monat des Winters. Gleich nach seinem Beginne fuhr ich von dem Hause meiner Eltern ab und fuhr in dem flimmernden Schnee und in der blendenden Hülle, die alle Fluren deckte, im Schlitten der Gegend zu, in welcher meine Freunde lebten. Das Wetter war schon durch zehn Tage beständig und mäßig kalt gewesen, der Schnee war reichlich, und auf der Bahn glitten die Fahrzeuge wie in den Lüften dahin. Wie ich sonst nie anders als im offenen Wagen fuhr, so fuhr ich auch jetzt, mit guten Pelzen versehen, im offenen Schlitten und freute mich der weichen Hülle, die um meinen Körper war, und auch der, die überall und allüberall lag, freute mich der schweigenden bereiften Wälder, der ruhenden Obstbäume, die ihre weißen Gitter ausstreckten, der Häuser, von denen der wohnliche Rauch aufstieg, und der Unzahl der Sterne, die Nachts in dem kalten und finsteren Himmel feuriger funkelten als je sonst im Sommer. Ich hatte vor, zuerst die Gebirge und dann meinen Gastfreund zu besuchen.

 

Ich fuhr bis in die Nähe des Lauterthales. Da ich die Straße verlassen sollte, mietete ich einen einspännigen Schlitten, weil in den Seitenwegen, auf denen man immer im Winter nur mit einem Pferde fährt, die Bahn zu enge ist, als daß zwei Pferde sicher neben einander gehen könnten, und fuhr in das Tal und in das Ahornwirtshaus. Die Ahorne streckten ungeheure, abenteuerlich gestaltete, entblätterte und mit feinen Zweigen wie mit Bärten versehene Arme der winterlichen Luft entgegen, das fensterreiche Wirtshaus war in seiner braunen Farbe gegen die Schneedecke auf seinem Dache und gegen den Schnee, der überall ringsum lag, noch brauner als sonst, und die Fichtentische vor dem Hause waren abgebrochen und in Aufbewahrung getan worden. Die Wirtin empfing mich mit Erstaunen und mit Freude, daß ich in einer solchen Jahreszeit komme, und gab mir das beste Versprechen, daß meine Stube so warm und heimlich sein solle, als wehe kein einziges Lüftchen hinein, und so licht, als schiene die Sonne, wenn sie überhaupt scheint, sonst nirgends hin als auf meine Fenster. Ich ließ meine Gerätschaften in die Stube bringen, und bald loderte auch ein lustiges Feuer in dem Ofen derselben, der ausnahmsweise, wie es sonst in den Gebirgen fast gar nicht vorkömmt, von Innen zu heizen war. Die Wirtin hatte es so einrichten lassen, weil von Außen der Zugang zu dem Ofen so schwer gewesen war. Als ich mich ein wenig erwärmt und meine Hauptsachen in Ordnung gebracht hatte, ging ich in die allgemeine Gaststube hinunter. In ihr waren verschiedene Leute anwesend, die der Weg vorbei führte oder die eine kleine Erquickung und ein Gespräch suchten. Bei den vielen und sehr nahe stehenden Fenstern drang ein reichliches Licht herein, so daß die Sonnenstrahlen des Wintertages um die Tische spielten, was um so wohltätiger war, da auch eine behagliche Wärme von den in dem großen Ofen brennenden Klötzen das Zimmer erfüllte. Ich fragte wieder um meinen Zitherspiellehrer, es hatte niemand etwas von ihm gehört. Ich fragte um den alten Kaspar, er war gesund, und es wurde auf meine Bitte um ihn gesendet. Ich sagte, daß ich im Sinne hätte, von dem Lautersee in die Eisfelder der Echern hinaufzusteigen. Ich hätte Anfangs Lust gehabt, das Simmieis an der Karspitze zu besuchen; aber der Zugang ins Kargrat sei mir im Winter sehr unangenehm, und wenn die Echern auch etwas tiefer liegen als die Simmen, so seien sie doch schöner und von unvergleichlich wohlgebildeten Felsen eingefaßt. Alle rieten mir von meinem Unternehmen ab, es sei im Winter nicht durchzudringen, und die Kälte sei auf den Bergen so groß, daß sie kein Mensch zu ertragen vermöge. Ich widerlegte die Einwürfe vorerst dadurch, daß ich sagte, es sei eben im Winter niemand auf den Echern gewesen, wie sie selber berichten, und daß man daher nichts Sicheres wissen könne.

»Aber man kann es sich denken«, erwiderten viele.

»Erfahrung ist noch besser«, sagte ich.

Indessen kam der alte Kaspar. Die Sache wurde ihm gleich von den Anwesenden erzählt, und er riet auch entschieden von dem Unternehmen ab. Ich sagte, daß viele Forscher in Naturdingen im Winter schon auf hohen Bergen gewesen seien, auf höheren als den Echern, daß sie dort Nächte und zuweilen auch eine Reihe von Tagen und Nächten zugebracht haben. Man wendete immer ein, das seien andere Berge gewesen, und in den hiesigen gehe es durchaus nicht. Der alte Kaspar verstand sich endlich ganz allein dazu, mich, wenn ich durchaus wolle, zu begleiten. Aber das Wetter, meinte er, müßten wir uns sorgsam dazu auslesen. Ich erwiderte ihm, daß ich Geräte bei mir hätte, die mir anzeigen, wenn eine schöne Zeit bevorstehe, daß ich mich auch ein wenig auf die Zeichen an dem Himmel verstehe und daß ich selber auf den Höhen nicht gar gerne in einen Schneesturm oder in einen langedauernden Nebel geraten möchte. Alle andern Leute, welche mir sonst gerne bei meinen Bergarbeiten geholfen hatten und welche ich ebenfalls ins Wirtshaus hatte rufen lassen, lehnten es durchaus ab, mich im Winter in die Echern zu begleiten. Dem Kaspar sagte ich, er müsse sich vorbereiten. Ich hätte selber verschiedene Dinge bei mir, von denen er sich die aussuchen könne, von welchen er glaube, daß er sie auf unserer Wanderung mitnehmen möge. Den Tag, an welchem wir zum See hinunter gehen werden, würde ich ihm dann schon sagen. Ich ging unter den lebhaftesten Gesprächen der Anwesenden über diesen Gegenstand in meine Stube zurück und brachte den Abend in derselben zu. Ich wußte, daß sie nun tief in die Nacht hinein über die Sache sprechen würden und daß in den nächsten Tagen für das ganze Tal diese Unternehmung den Stoff der Unterredungen bilden würde.

Es meldete sich nun auch wirklich keiner mehr, um mich und Kaspar zu begleiten.

Die Zeit bis zum Beginne unsers Unternehmens brachte ich damit zu, daß ich Wanderungen in der Umgegend machte. Ich betrachtete die Wälder, die in Ruhe und Pracht dastanden, ich betrachtete die Höhen, auf welchen die unermeßlichen Schneemengen lagen, ich betrachtete die Echernwand, von der eine Last von Eiszapfen niederhing, deren manche die Dicke von Bäumen hatten, zuweilen losbrachen und mit Krachen und Klingen in den Schnee niederstürzten, ich ging auf Berge und schaute in die stille, gleichsam verdichtete Winterluft und auf alle die weißen Gebilde, die durch dunkle Wälder, durch Felsen und durch das sanfte Blau der fernen Bergzüge geschnitten waren.


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