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XI.

Wie die Bienenschwärme hafteten die Arbeiterkolonnen an dem Gelände zwischen der Stadt und Walportshausen. Italienische Erdarbeiter, die den Eisenbahndamm aufzuwerfen, die Schwellen und die Schienen zu legen hatten.

Heribert XXIII. hatte die Sache in die Hand genommen, und Seligers Millionen, die in dem Tresor der Kommerzbank geschlummert und Zins auf Zinseszins gehäuft hatten, rollten. Das Glück war ihm wieder hold. Ein selten warmer, fast schnee- und frostfreier Winter begünstigte seinen großen Plan und ließ die Arbeiten im Freien fast ununterbrochen zu.

Die stille Zeit drückte die Löhne herunter, die Leute waren froh, überhaupt Arbeit zu finden und sich nicht gezwungen zu sehen, die kostspielige Heimfahrt über die Alpen anzutreten.

Es waren Hunderte und aber Hunderte, die Seligers Ingenieure an dem Riesenwerke beschäftigten. Denn Zeit war Geld, so billig wie in diesem Winter würde man die Arbeit so leicht nicht wieder bekommen, und spätestens um die Mitte des Sommers sollte der erste Zug von der Stadt nach Walportshausen fahren.

Das fahrende Material wurde in Auftrag gegeben, und unter der Hand wurden unzufriedene Angestellte der Staatseisenbahn mit königlichen Versprechungen in den Dienst des neuen Unternehmens gelockt. Überall war der unermüdliche Seliger, aber am meisten in Walportshausen, wo er ein fast täglicher Gast im Schlosse des regierenden Fürsten wurde.

Denn mit Heriberts Hilfe gelang eben alles. Die sonst endlosen Verhandlungen mit der Regierung und den in Betracht kommenden Stadtverwaltungen wurden durch den Einfluß des Fürsten im Fluge erledigt, die Weg-, die Bahn-, die Baupolizei komplimentierte in einem fort.

Und Seligers mit einem Schlage zurückgekehrte eiserne Tatkraft, sein zäher Wille, die ungeheuren Konventionalstrafen, die er für jede Verzögerung des Bahnbaus in den Verträgen erzwang, sein eigener unermüdlicher Fleiß und seine goldene Rücksichtslosigkeit machten, unterstützt von besonders glücklichen Begleitumständen, das Unglaubliche wahr, das unmöglich Erscheinende zur Tatsache.

Am ersten August des folgenden Jahres fuhr der erste mit Girlanden geschmückte Zug von Walportshausen in die Stadt. Das war ein Fest! Wie ein König stand Harry Seliger in der niedlichen, zierlich aus Holz gezimmerten Bahnhofshalle inmitten der Vivat schreienden Walportshausener, an der Seite seines hohen Gönners des Fürsten Heribert, der ihm zum Danke den höchsten Orden seines Hauses, das Brillantenkreuz von der weißen Lilie, verliehen hatte.

Das Ministerium von Walportshausen, die Spitzen der staatlichen und städtischen Behörden und Körperschaften nahmen an der Feier teil, und die Schulkinder des kleinen Fürstentums besangen in einer von dem Lehrer gedichteten und komponierten Ode Herrn Seliger als den Vater des Vaterlandes.

Schon in den ersten Monaten des Betriebes zeigte es sich, daß Seliger recht gehabt hatte. Die Bahn prosperierte, sie war ein Bedürfnis für die in Frage kommenden Ortschaften, für die kleine Residenz Walportshausen und für die große Stadt. Der Herbst war berückend schön. An jedem neuen Tage ergoß sich eine Flut von Ausflüglern in die Züge, welche die einzige Verbindung zwischen der volkreichen Stadt und dem nahen Gebirge herstellte. Nach vier Wochen, im September, wurde die Zahl der fahrplanmäßigen Züge der Kleinbahn verdoppelt, und man fuhr mit zehn, anstatt wie in den ersten Tagen mit vier Achsen.

Seliger träumte von schwereren Lokomotiven, die er für die nächste Sommersaison einzustellen beschloß.

Der Erfolg der ersten Monate war märchen-, war fabelhaft. Es schien, als habe die Erde ihren Schoß geöffnet, damit dieser Mann die offen vor seinen Augen daliegenden Schätze dieser Welt nur mit Händen zu greifen brauche.

Und als der stille Winter wiederkam, als die Züge weniger und weniger wurden, als nur noch an schönen Sonntagen infolge der das Gebirge stürmenden Schlitten und Schneeschuhfahrer hie und da eine Überfüllung eintrat, da wühlte das Heer der italienischen Arbeiter in dem um Walportshausen liegenden Gelände, das Seliger schon lange an sich gebracht hatte, und an der Börse ging die Mär, daß der schlaue Jude mit der Bahn und den ihm gehörenden wertlosen Feldern und Wiesen, die Eigentum der Gemeinde Walportshausen gewesen waren, einen Besitz an sich gebracht habe, gegen den die Schätze in Tausend und eine Nacht ein Kinderspiel sein sollten.

Und aus dem Boden von Walportshausen wuchs weithin leuchtend und alles überragend der erste Fabrikschornstein in die Höhe. Ihm folgten ein zweiter, ein dritter und ein vierter. Sie bezeichneten die Lage der Sudhäuser, in denen die kostbaren Kalisalze zu einem Dungmittel verarbeitet werden sollten, dessen Patent Seliger vor kurzem dem glücklichen Erfinder abgekauft hatte.

Langsam und stetig wuchs das Werk. In den Tiefen der Erde wühlten die Italiener Stollen und Gänge in den wasserreichen Boden, die durch gewaltige Gerüste und Bretter getragen und gestützt werden mußten. Und weiß, blendendweiß leuchtete es allüberall aus dem Gestein, die Salzkristalle, die in rollende Millionen verwandelt werden sollten.

Seliger hatte sich nicht getäuscht. Der Boden von Walportshausen barg unerschöpfliche Reichtümer, und er war auf die Welt gekommen, diesen Schatz zu heben. Die Qualität der Salze war vorzüglich, das neue Dungmittel mußte unter diesen Umständen den Weltmarkt erobern, es würde jede Konkurrenz, selbst die des chilenischen Salpeters, durch seinen beispiellos billigen Preis und seine Güte siegreich aus dem Felde schlagen.

Er war auf dem Wege. Nichts, nichts in der Welt hielt ihn mehr auf. Wie der Kanonenkönig im Tale des Rheines, so wollte er hier in der Gegend von Walportshausen ein König in deutschen Gauen werden, der Kalikönig, wie er sich schon in den Zeitungen vor den Ohren der Handels- und Industriewelt des Reiches nennen hörte.

Und während sich drunten im Tale Backstein zu Backstein fügte und so Sudhaus neben Sudhaus, Lagerraum neben Lagerraum, Versandstelle neben Versandstelle erstanden, während sich die Häuser für die Beamten und Angestellten der Kaliwerke, die Gebäude für die Bureaus und Verwaltungsräume langsam eines an das andere fügten, wuchs am Rande des Waldes, von dunkeln Tannen umsäumt, ein schloßähnlicher Bau in gothischem Stile, ein altertümliches und doch ganz neues Schloß, mit Ställen und Dienerschaftswohnungen fast über Nacht empor. Die Villa Berg, in der der König der Salze in unmittelbarer Berührung mit seinem großen Lebenswerke wohnen wollte, deren Prunkräume und Festsäle er mit Klotilde Marbach zu teilen entschlossen war.

Denn in die Stadt zog ihn nichts mehr. In der Erde von Walportshausen hatte er sein neues Arbeitsfeld, in dem Städtchen die Freundschaft des Fürsten gefunden, und dort verachtete er alle, alle die, die einst seinen großen Plan, um dessen Ausführung sie ihn nun beneideten, zu Fall gebracht hatten, und die anderen, seine Familie, die ihm zur Last und zum Ekel war. Mochten die Fäden zwischen dem Palaste des Prinzen Egon von Trachenstein und der Villa Seliger hin- und hergesponnen werden, er kümmerte sich nicht mehr um diese Bande, bei der ein alternder, schon zweimal vom Schlage gerührter Wüstling der Gatte der Tochter und der Liebhaber der Mutter war. Es ekelte ihn an, und er hatte hier sein neues Feld.

Er war wieder jung geworden, ein neuer, ein anderer, er fühlte sich glücklich mit Klotilde, er war ein König in seinem Reich.

Als die Fabrik eröffnet wurde, als die von Seliger in Salzburg und Berchtesgaden engagierten Leiter der Werke ihren Einzug hielten, trat halb Walportshausen in seine Dienste. Es war ein guter und, wie es schien, leicht zu erwerbender Verdienst, der sich der Bevölkerung hier mit der Verarbeitung der Kalisalze unter der Leitung sachkundiger Chemiker bot.

Nur die Arbeit drunten unter der Erde war nicht ungefährlich wegen der Grundwasser, die auch die sorgfältigst gebauten Stollen trotz aller Dampfpumpen immer wieder aufs neue zu überschwemmen drohten.

Aber die Jugend Walportshausens und der umliegenden Ortschaften, die einst zu Fuße Meilen zu durchwandern gehabt, um Arbeit zu finden, befreundete sich rasch mit der neuen Industrie. Von Monat zu Monat wuchs der Wohlstand der Gegend, aus deren Boden Seliger wie mit einer Wünschelrute Millionen um Millionen schlug.

Die weit hinab ins Tal grüßende Villa Berg, zu deren Besichtigung er weder Frau noch Kinder eingeladen hatte, die ganz allein ihm und Klotilde gehören sollte, war bezogen. Sie blickte stolzer drein, als das alte Residenzschloß von Walportshausen, in dem der verwitwete Heribert mit seiner gleichfalls verwitweten herzoglichen Schwester hauste. Villa Berg beherrschte das ganze Tal, in dessen Tiefen es jetzt dampfte und fauchte, rasselte und tobte von der Bahn und den Maschinen, die der Schöpfer dieser Villa wie der Zauberer im Märchen in diese Gegend gestellt hatte.

Das Dungmittel ging in die Welt. Es schlug ein. Es regnete Bestellungen, bis in die fernen Gaue Rußlands, bis hinüber nach Amerika wollte man es haben.

Sofort begann Seliger mit der lange geplanten Emission der Aktien »Kaliwerke Berg«. Fremdes Kapital sollte arbeiten, damit er das seine allmählich wieder herausziehen konnte ... Die ersten Tausend á 500 gingen an die Börse, man war vorsichtig, man kaufte langsam.

Da traf eine Bestellung von seiten der ungarischen Regierung ein, die das neue Dungmittel in den Staatsdomänen probieren wollte. Das schlug durch. Die Zahl der Arbeiter in den Kaliwerken mußte verdoppelt werden, damit man dieser Bestellung gerecht werden konnte. Die Aktien der »Kaliwerke Berg« stiegen an einem Tage auf 672.

Es war phänomenal, schwindelerregend, alle Hände schienen nach diesen Aktien zu greifen. An einem einzigen Tage, in zwei knappen Börsenstunden waren sie bis auf die letzte verkauft.

Und ungemessene Schätze, Millionen von Kubikmetern Kalisalze lagerten noch, wie die leitenden Ingenieure versicherten, in dem Boden von Walportshausen – wenn die Wasser nicht gewesen wären, die Grundwasser, die über Nacht einen Stollen überschwemmen und die Arbeit langer Wochen zunichte machen konnten, Maschinen und Gebälke für immer in dem Schoß der Erde vergrabend.

Tag und Nacht gingen jetzt die Dampfpumpen, die Wasser aus den Stollen an das Licht des Tages zu fördern und zu unschädlichen Abflüssen in die Wiesengründe unterhalb der Kalilager zu leiten. Das ächzte und stöhnte, das rasselte und rollte den ganzen Tag und die ganze Nacht wie ein maßlos gequälter organischer Körper, dem unter gewaltigen Schmerzen auch das letzte Tröpfchen Blut ausgepreßt werden soll!

Und droben in der Villa Berg oder drunten in dem Direktionsbureau der Kaliwerke saß der unermüdliche Seliger und berechnete die Millionen, die das unfaßbar große Unternehmen schon verschlungen hatte, und die Millionen, die es wieder einbringen würde.

Und während Seliger draußen in Walportshausen in rastloser, Million um Million zusammenschachernder Arbeit im Verein mit Klotilde seine Tage verbrachte und ganz im geheimen hin und her erwog, mit welchen Advokatenkniffen er eine Scheidung von Frau Hilde, der eine späte Ehe mit seinem Schatze folgen sollte, durchzusetzen vermöchte, ging das Leben in der Villa, drinnen in der Stadt und in dem Palaste des Prinzen Egon von Trachenstein seinen lustigen Gang.

Freilich, klug war auch Prinz Egon endlich mit den Tagen des zunehmenden Alters geworden, die Zeiten der Wechsel und der Schuldscheine, des Spieles und der Wetten waren auch bei ihm nun vorbei.

Bevor er sich in das neue Unternehmen gestürzt, hatte Harry Seliger zugunsten seiner Familie eine Teilung seines ungeheuren Vermögens vorgenommen. Ein Drittel seiner beweglichen Habe – es waren nicht ganz zwölf Millionen gewesen – hatte er in mündelsicheren, vierprozentigen Papieren fest angelegt. Die Nutznießung dieser imposanten Summe stand seiner Frau und seinen Kindern zu, und zwar so, daß je ein Viertel der Zinsen von der Bank nach Seligers Weisung an jedes der Beteiligten ausgezahlt wurde. Die Verfügung über das Kapital hatte er sich selber aber lebenslang vorbehalten.

Mit den übrigen zwei Dritteln, dem stattlichen Reste von rund fünfundzwanzig Millionen, arbeitete er.

Da war es denn kein Wunder, daß Frau Hilde zusammen mit Edith und ihrem Schwiegersohne bei einem gemeinschaftlichen Einkommen von einer Viertel Million jährlich zu leben verstand.

Es war ein Verhältnis, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte, ein Dreieck, wie es noch niemals dagewesen war. Die Mutter und die Tochter als Geliebte und Ehefrau des alternden Lebemannes, dessen physische und moralische Impotenz, wie man annahm, die feste Garantie für das gute Einvernehmen zwischen den beiden Frauen bot.

Wie an jenem Renntage, so sah man sie auch jetzt wieder in allen Straßen der Stadt und draußen auf den Promenadenwegen friedlich vereint in dem prächtigen Landauer, die Damen im Fond des Wagens gemütlich miteinander plaudernd, den Prinzen auf dem Rücksitze, seine Zigarette schmauchend, die unvermeidliche La France im Knopfloche.

In den ersten Monaten ihrer Ehe war es Edith schlecht gegangen. Die Ärzte hatten sogar für das Leben der jungen Frau gebangt. Als sie nach ihrer Rückkehr aus Venedig von dem furchtbaren Ende Davidchen Mandelbaums erfahren, hatte es sie gewaltig gepackt. Ein schweres Nervenfieber, von dem sie sich nur langsam erholte, war die Folge gewesen.

Nun hatte sie sich an alles gewöhnt und in alles hineingefunden. Wie eine orientalische Haremsdame verbrachte sie ihre Tage hin, sinnlosem und furchtbar gleichgültigem Genusse hingegeben, die Unsummen, die ihr mühelos zur Verfügung standen, für die Führung des fürstlichen Haushaltes, für Gesellschaften und wahnsinnig teure Toiletten nutzlos vergeudend.

Alles Gute, was einst in ihrem jungen Herzen gelebt, was ihr von seiten Etelkas und Leos den Kosenamen »das Schaf« eingetragen hatte, schien gänzlich ertötet, völlig erstickt unter dem Wust von Äußerlichkeiten und Oberflächlichkeiten, mit dem sie ihr Leben auszufüllen hatte.

Wenn sie sich des Vormittags gegen elf Uhr aus den seidenen Kissen ihres Lagers erhoben und das warme, nach Eau de mille fleurs duftende Bad genommen hatte, dann erschien der Friseur, der allerhand Intimitäten aus anderen Häusern, wo er beschäftigt war, zu erzählen wußte, dann kam die Maniküre und schwatzte von den neuesten Modellhüten, die Madame Labouchère aus Paris mitgebracht hatte, und von den Kostümen, die in dem Erker der Firma Haas & Sohn ausgestellt waren. Waren die gegangen, dann erschien der Diener, der ihr das Menü des Küchenchefs für das um drei Uhr stattfindende Mittagsmahl zur Begutachtung vorzulegen hatte.

Dann fuhr sie aus. Vormittags immer allein, Besorgungen zu machen, Neuheiten anzusehen. Kurz vor drei Uhr war sie zurück. Das fast an jedem Tage gemeinschaftlich mit dem Gemahl und der Mutter eingenommene Diner verlief in den meisten Fällen sehr ruhig, da Trachenstein die üble Gewohnheit hatte, während des Essens die Sportzeitung zu lesen, und in dieser wichtigen Beschäftigung nicht gestört sein wollte.

Dann schlief sie zwei Stunden und trank gewöhnlich, einer alten Mädchengewohnheit folgend, den five o'clock in einer vornehmen Konditorei in der Stadt.

Über die Abende bestimmte der Prinz. War man nicht eingeladen oder hatte man kein Abonnement in der Oper oder im Schauspiel, dann war es gewöhnlich ein fashionables Restaurant, das er mit den Damen aufsuchte, eine alte Liebhaberei, eine holde Erinnerung an die schönen Junggesellentage, die er nicht gerne missen mochte.

So ging es einen Tag wie den anderen im dolce far niente, dessen furchtbare Einförmigkeit sie nicht einmal mehr empfand.

Aber seit einigen Monaten war eine große Veränderung in ihrem Zustand und ihrem ganzen Wesen eingetreten. So unglaublich die Tatsache klingen mochte, sie bestand doch. Edith war schwanger. Das fürstliche Haus Seiner Hoheit des Prinzen Egon von Trachenstein erwartete einen Erben.

Es war geradezu lächerlich, mit welch rührender Sorgfalt der Prinz seit dem Tage dieser erhebenden Erkenntnis seine junge Frau umgab. An jedem Tage zweimal erschien der Hausarzt und vermerkte gewissenhaft den Fortschritt ihres Zustandes, verschrieb seine Mittelchen gegen die eintretenden Kopfschmerzen und Übelkeiten und ließ die junge Frau, deren Körper ja allerdings infolge der während der ersten Monate ihrer Ehe überstandenen schweren Erkrankung der Schonung bedurfte, von dem Bette auf die Chaiselongue und von der Chaiselongue ins Bett tragen.

Bei ihrem immer noch hier und da sehr gereizten Wesen, bei der Schwäche ihrer Nerven und Muskeln, mochte der erfahrene Kliniker am Ende nicht ohne Grund eine durch irgendeine Unvorsichtigkeit herbeigeführte Fehlgeburt befürchten.

Aber es schien unter seiner sorgfältigen Behandlung alles gut zu gehen, die kritischen Monate waren beinahe vorüber, Edith fühlte sich wohler, sie selber bestand darauf, auszufahren und sich in Haus und Park bewegen zu dürfen.

Prinz Egons Brust schwoll im Hochgefühl seiner bevorstehenden Vaterschaft. Wenn es ein Knabe wäre, ein Prinz, ein neuer Egon von Trachenstein, Hoheit, der infolge der Seligerschen Millionen von vornherein zu den höchsten Stellen der Armee und des Staates berufen war!!

Schwärmend von dem Sohn, der da kommen sollte – ein Mädchen durfte, konnte es gar nicht werden, da er sich in seinem Alter noch einmal bemüht hatte – saß Seine Hoheit auch heute wieder beim Mittagsmahle zur Seite seiner jungen Frau. Sie waren allein. Halb Witwer, wie er sich im Scherze auszudrücken beliebte. Die Geburt war frühestens in acht Wochen zu erwarten. So hatte Frau Hilde, die denn auch noch andere Pflichten hatte, endlich dem Drängen ihres Leo nachgegeben und war für ein paar Tage, nur für ein paar Tage, nach Berlin gefahren.

Man sollte sie an jedem Tage telegraphisch über Ediths Befinden benachrichtigen, hatte sie vor ihrer Abreise angeordnet.

Der Diener hatte gerade den Fisch serviert. Er war in die Küche gegangen, um sich den Braten anrichten zu lassen, da sah Edith zu ihrem Entsetzen, wie die Weinflasche, aus der der Prinz eben eingießen wollte, diesem aus den Händen fiel.

»Egon!« schrie sie und sprang auf, »was ist dir, Egon?«

Keine Antwort.

Reglos saß Seine Hoheit auf dem Stuhle, den Kopf vornübergeneigt, die Arme schlaff herniederhängen lassend.

»Egon!« schrie sie noch einmal. Sie rüttelte ihn, sie schüttete kaltes Wasser auf ihre Serviette und netzte ihm die Stirn. Keine Bewegung.

Da sah sie die völlige Verzerrung seiner einen Gesichtshälfte. Das Auge war halb geschlossen, der Mund hing tief herab, und da sie jetzt seinen linken Arm berührte, sank dieser wie eine leblose Masse aus Blei in die vorige Stellung zurück.

»Egon, Egon, was ist dir?« jammerte sie wieder.

Aber der Prinz kam nicht zu sich, er lag in einer tiefen Betäubung, in die ihn der schwere, so unerwartet bei Tische eingetretene Schlaganfall versenkt hatte.

Sie stürzte nach der Tür und klingelte dem Diener.

Die Schüssel mit dem köstlichen englischen Roastbeaf fiel diesem beinahe aus der Hand.

Zusammen mit seiner Herrin bettete er den Reglosen auf dem Diwan des Speisesaales.

»Zum Arzt, schnell zum Arzt!« ordnete Edith an.

Der Diener lief, so rasch ihn seine Füße tragen konnten, und alarmierte das ganze Haus.

Sie war allein, allein mit dem Bewußtlosen, an dessen Lager vielleicht schon, ohne daß sie eine Ahnung davon hatte, der Tod treten konnte.

Ein Schauer durchrieselte ihren jungen Körper bei dem Gedanken an den Tod. Sie allein mit dem Tod!

Da trat ihre Kammerzofe zusammen mit dem Verwalter des Schlosses ein.

»Seiner Hoheit ist ein Unglück zugestoßen, ich weiß nicht, was es war,« stotterte sie in namenloser Angst. »Haben Sie den Arzt benachrichtigt? Ist denn niemand hier in der Nähe, der helfen kann?«

Und plötzlich fiel ihr die Krankenschwester ein, die drüben in der Villa, nur über die Straße zu laufen, den Dienst bei Urgroßmutter Rosenbusch zu versehen hatte.

Ohne jemandem ein Wort zu sagen, instinktiv, als ob nur sie allein die Krankenschwester benachrichtigen und herbeirufen könnte, stürzte sie hinaus. Ein Tuch um den Kopf und hinüber über die Straße in die väterliche Villa, hinauf zu der Urgroßmutter. Ein Grauen hatte sie gepackt, eine wahnsinnige Angst, sie konnte den Anblick des Bewußtlosen und Verzerrten nicht mehr ertragen, es war ihr, als stürzten die Mauern und Balken des Palastes Trachenstein über ihr zusammen. Sie mußte hinaus.

Die Tür der Villa Seliger war nur angelehnt. Niemand auf dem Flur, kein Mensch in den Gängen. Was war denn hier passiert? Sie stürmte die ihr wohlbekannten Treppen hinauf, atemlos kam sie droben an und betrat Frau Rosenbuschs trautes Zimmer.

Im Lehnstuhl am Fenster saß die jetzt Fünfundneunzigjährige still und friedlich, reglos, wie sie Edith seit Jahren reglos zu sehen gewohnt war.

Die Krankenschwester war nicht da. Edith öffnete die Tür zu dem nebenanliegenden Schlafzimmer. Auch hier war Schwester Brigitte, wie Frau Rosenbuschs neue Pflegerin hieß, nicht zu entdecken.

Und mit einem Male, ganz von dem Gefühle, welchen Glückes sie einst in diesem trauten Zimmer teilhaftig geworden, überwältigt, warf sich Edith schluchzend vor dem Lehnsessel der Urgroßmutter nieder, und ihr vergeblich in Äußerlichkeiten, Reichtum und Luxus ersticktes besseres Ich brach sich mit einem Schlage in elementarem Ausbruch Bahn.

»Ach Urgroßmutter, Urgroßmutter,« jammerte sie. »Ich bin gemein, ich bin schlecht geworden, wie ich es damals gefürchtet habe. Davidchen ist tot. Ich kann ihn nimmer zurückrufen in dieses Leben, und mein Mann« – sie schauerte zusammen – »du weißt es doch, Urgroßmutter, daß ich den Prinzen Trachenstein geheiratet habe? O, es ist schrecklich, Urgroßmutter, du sollst, du mußt alles wissen: hörst du, wie sich der Untergang deines Hauses vollzieht, arme Urgroßmutter, das sollst du wissen. Vater weilt schon lange nicht mehr hier im Hause, in der Ferne ist er mit einer fremden Frau, und die Mutter ist die Geliebte meines Mannes gewesen, verstehst du, Urgroßmutter, die Geliebte meines Mannes, und ich, ich habe es gewußt und habe es zugegeben und habe mich schlecht und gemein mit den anderen gemacht.«

Ein Zittern lief durch ihre zusammengekauerte Gestalt.

»Und der, den ich liebte, hörst du, Urgroßmutter, den haben sie totgefahren an meinem Hochzeitsabend mit meinem Brautwagen, und die Hufe meiner Pferde und die Räder meiner Equipage gingen über ihn weg. Verstehst du mich, Urgroßmutter, o, verstehe mich doch noch einmal in diesem Leben, sag' mir ein Wort des Trostes und der Rettung, Urgroßmutter!«

Reglos und stumm blieb Frau Rosenbusch.

Nicht einmal mit den Augen machte sie eine Bewegung.

Und Edith fuhr fort:

»Aber das Schrecklichste muß ich dir noch sagen, Urgroßmutter, dir allein. Ich werde ein Kind bekommen« – wieder schauerte sie zusammen – »ein Kind von dem alten Prinzen Trachenstein, den ich immer Onkel genannt habe. Weißt du, was ich gelitten habe, Urgroßmutter, als ich mit ihm so gemein geworden, daß ich jetzt ein Kind von ihm bekommen muß, weißt du das? Und er ist zusammengebrochen, er regt sich nicht. Da bin ich herübergekommen, Hilfe zu holen. Wo ist denn Schwester Brigitte, Urgroßmutter, wo ist sie denn?«

Flehend schlug Edith die Augen zu Frau Rosenbusch empor und faßte deren Hand.

Es war ein herzzerreißender Schrei, den sie jetzt ausstieß. Die Hand, die sie da immer noch in der ihren hielt, war eiskalt. Frau Rosenbusch rührte sich nicht. Und nun sah sie es mit den furchtbar geöffneten Augen einer entsetzlichen Erkenntnis: Sie hatte einer Toten gebeichtet!

Der Boden wankte unter ihren Füßen. Sie hielt sich an der Lehne des Stuhles, in dem der Leichnam ruhte, und schrie: »Zu Hilfe, zu Hilfe!«

Ein schneidender, furchtbarer, noch niemals gefühlter Schmerz zerriß ihren Leib. Sie rollte nieder auf den Teppich des Zimmers und riß sich in einem letzten vernünftigen Gedanken das enge Fischbeinkorsett, das sie trotz der Warnung des Arztes noch trug, vom Leibe! Sie heulte wie ein verwundetes Tier. Es war ihr unmöglich, sich zu erheben, wie schneidende Schwerter, wie haarscharf geschliffene Messer fuhr es durch ihren Leib. Sie krallte die Finger in den, wolligen Teppich, sie faßte ein von dem Sofa herabgeglittenes Kissen und zerbiß es mit den Zähnen. Der wahnsinnige, der furchtbare Schmerz, der nun, von den Hüften ausgehend, bis hinab zu den Schenkeln verlief! Da riß sie sich den Rock von den Beinen und schrie: »Zu Hilfe, ich sterbe, zu Hilfe, zu Hilfe!«

Aber niemand schien sie zu hören, Frau Rosenbusch regte sich nicht. Furchtbar starrte ihr in dieser unseligen Stunde ihrer vorzeitigen Niederkunft, wie sie endlich schaudernd ahnte, das entstellte Antlitz der Toten entgegen. Wie häßlich war diese Alte jetzt im Tode!

»Brigitte, Brigitte,« schrie sie mit gellender Stimme, und im ganzen Hause regte sich nichts;

Sie fürchtete sich. Allein mit der Toten. Sie wollte, sie mußte hinaus. Mit aller Anstrengung versuchte sie sich zu erheben. Vergeblich! Das Kind, das sich aus ihrem Leibe dem Lichte entgegenringen wollte, riß sie nieder auf den Boden, hinab an die Stelle, von der sie immer in das gräßliche Antlitz der Toten sah!

Sie schloß die Augen, sie konnte es nicht mehr ertragen. Und aufs neue packte sie der rasende Schmerz, der nun unaufhaltsam in mächtigen Stößen vom Rücken beginnend durch den Unterleib fuhr. Sie verlor das Bewußtsein. Sie sah nichts mehr von dem Zimmer, nichts mehr von Frau Rosenbusch, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, und nur ganz leise glaubte sie zu empfinden, wie ein warmer Strom unaufhaltsam von ihren Beinen auf den Teppich des Zimmers rann. War das Blut??

Die Schmerzen ließen ein wenig nach. Aber schon wieder nahte eine tiefe Ohnmacht, alles wurde schwarz vor ihren Augen, sie wußte nicht mehr, was mit ihr vorging, und wo sie war.

Nach einer halben Stunde fand sie die Krankenschwester, die infolge des plötzlichen Ablebens der Frau Rosenbusch den Kopf verloren, die die ganze Dienerschaft nach einem Arzt fortgeschickt hatte und schließlich selber zu einem solchen gelaufen war, noch immer bewußtlos auf dem Teppich des Zimmers. Sie war blutüberströmt, wie tot.

Auf dem Fußboden lag der blutbesudelte Prinz, dem sie das Leben hatte schenken sollen, ein leise wimmernder, halbfertiger Embryo, dem der mit Schwester Brigitte herbeigeeilte Arzt nur wenige Stunden der Daseinsmöglichkeit gab.

Drunten in der Villa, in ihrem einstigen Mädchenzimmer bettete man die junge Frau. Nach dem Vorgefallenen gab der Arzt wenig Hoffnung. Und er behielt recht.

Am Morgen des folgenden Tages starb sie an dem ungeheuren Blutverluste, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben wie Davidchen Mandelbaum.


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