Ludwig Storch
Der Diplomat
Ludwig Storch

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8.

Der Postbote hatte Briefe an Herrn von Müllersdorf gebracht. Sie verursachten ihm die größte Unruhe, und lange lief er in seinem Zimmer auf und ab, wie einer, der vergebens nach einem Entschluß ringt. Hierauf setzte er sich nieder und schrieb, aber bald sprang er auf, zerriß das beschriebene Blatt und steckte es mechanisch in die Tasche. Tausenderlei wunderliche Gedanken durchkreuzten des jungen Mannes Kopf, und, auf das endlose Meer der Vermuthungen hinausgeschleudert, vom Sturme der Sehnsucht und der bangen Erwartung umhergetrieben, verlor er Anker und Segel, Steuer und Kompaß, und gab sich der muthlosen Verzweiflung einer Lage hin, die freilich verwickelter und bedrängter war, als nur irgend Jemand ahnen konnte, und die leider! noch verwickelter und bedrängter werden sollte. Um sich die schwerbelastete Brust in etwas zu erleichtern, beschloß 117 er, noch einen einsamen Spaziergang zu machen, und sogleich eilte er in wilder Hast aus Zimmer und Haus. Er lenkte seine raschen Schritte nach dem düstern Platze hin, welcher seiner Stimmung am angemessensten war, aber im Erdfall stieß er auf mehre mit fröhlichen Leuten besetzte Tische, deren Kreise durch helle Ampeln, deren Köpfe aber vom feurigen Weingeiste erleuchtet waren. Er wollte sich schnell, ohne sie weiter in Augenschein zu nehmen, an ihnen vorbei drücken, als er sich plötzlich am Rocke festgehalten fühlte und beim Namen gerufen hörte. Aergerlich wandte er sich um, und gewahrte die Familie von Hochmannsdorf am nächsten Tische versammelt.

»Nein, so kommen Sie mir nicht vorüber, Freundchen,« schmunzelte der alte Baron in seligster Laune, indem er ihm einen Stuhl zwischen den seinigen und den seines Luischen schob. »Hier ist gut seyn und besser als irgend anderswo. Lassen Sie sich nieder! Wo auch wollen Sie noch in der Nacht umherlaufen? Was?«

»Ein nothwendiger Gang zur Erholung – Bewegung, die mein körperlicher Zustand verlangt 118 – frische Luft – die Schönheit des Abends,« stammelte Müllersdorf, ohne den Stuhl anzunehmen, sondern stets im Begriffe, davon zu rennen.

»Hier bei einer Flasche Elfer können Sie sich besser erholen, als auf jedwedem Spaziergang,« versetzte der Baron, blind für Müllersdorfs Verlegenheit, taub für den ängstlichen Ton desselben, »und in der Nacht geht man nicht spazieren, man müßte denn mit einem heimlichen Liebchen selbander laufen. Hätten Sie etwa so ein edles Wild auf dem Rohre? Was?« Und damit zog er den jungen Mann auf den Stuhl.

»Herr von Müllersdorf eine Geliebte? Hier im Bade?« fragte Luise mit jener unbeholfenen Albernheit, die Grund und Absicht der Frage sogleich verräth.

»Und wer könnte die Glückliche seyn?« zirpte Charlotte mit süßer Koketterie.

»Hol' euch der Satan!« fuhr der Lieutenant Wittenbach dazwischen. »Hat ein ehrlicher Kerl, vorzüglich ein Soldat, gleich eine Geliebte, eine glückliche Geliebte, wenn er sich Abends einen 119 galanten Scherz auf einer Promenade erlaubt? Tolles Zeug! Nicht wahr, Herr Kamrad?«

»Bei mir ist weder das Eine, noch das Andre der Fall« versetzte Müllersdorf, und suchte sich, ein Mal gefangen, in seine Lage so gut als möglich zu schicken.

»Freuet euch mit den Fröhlichen!« krähete der alte Baron, und hielt dem Festgehaltnen ein volles Glas Wein hin. »Sehen Sie, Freundchen, Sie sollen auch den Grund erfahren, warum ich heute Abend so seelenvergnügt bin. Heute Nachmittag ist nämlich eine innig geliebte Freundin unsres Hauses, die meine Kinder lange nicht gesehen hatten, weil sie weit von uns im Baierschen lebte, hier eingetroffen und hat uns allen die größte Freude mit der Erklärung gemacht, daß sie ferner mit uns haushalten will. Ich habe die Ehre, sie Ihnen hier vorzustellen. Madame Bergmann, dieser junge Herr ist Herr Lieutenant von Müllersdorf, ein sehr guter Freund unsrer Familie. Was?«

Eine schöne, bleiche Frau in Trauerkleidern, nicht älter als höchstens achtundzwanzig Jahre, 120 die der zerstreute Müllersdorf erst jetzt sich gegenübersitzend bemerkte, verneigte sich stumm. Sein Blick flog über sie hin, kehrte aber auch sogleich frappirt zu ihr zurück und blieb mit einem dem Jünglinge anfangs selbst unerklärlichen Staunen, das eine unheimliche Beimischung von Grauen hatte, an ihren Zügen hängen, die keineswegs etwas so Außerordentliches, Seltsames und Staunenswerthes in sich trugen. Madame Bergmann war eines von den Gesichtern, welche reizend sind, ohne schön zu seyn, die aber stark markirte und von den gewaltigen Trieben der Seele scharf ausgeprägte Züge haben, und die man, ein Mal gesehen, nie wieder vergessen kann. Ihre hervortretenden Augen sprachen von viel feiner Sinnlichkeit der Besitzerin und die aufgeworfnen Partieen an den Mundwinkeln bestätigten diese Aussage. Der Mund selbst war herrlich geschnitten und vom zartesten frischen Roth, die Lippen glichen kleinen weichen Kissen, vom Liebesdrange geschwellt, eine Reihe weißer Zähne dahinter war wie der kostbare Marmorzaun um einen blühenden üppigen Rosengarten zu schauen, ihr 121 Wuchs hob sich entzückend schlank und regelrecht, und die Hand, welche auf dem Tische ruhete, hätte jeder Bildhauer zum Modell benutzt. Und doch waren es all die Reize nicht, welche Müllersdorfs Blicke so gewaltig fesselten, wie hätte auch er, jetzt, diesen Abend, Sinn für weibliche Reize haben können, und wenn es die vollendetsten gewesen wären! Es war der plötzlich als grauenhafte Wirklichkeit in's Leben gesprungene Traum der Erinnrungen, deren Gegenstand lang schon im Grabe moderte, und nun ihm doch gegenüber saß, blaß und geisterhaft, aber von Fleisch und Blut. In höchster Aufgeregtheit, worein ihn der unerwartete und furchtbare Anblick der Fremden versetzt hatte, stürzte er ein Glas Wein um's andre hinab, und antwortete auf alle Fragen Luischens verkehrt, so daß das gute Kind immer besorgter wurde, Herr von Müllersdorf möchte sich stehenden Fußes in Madame Bergmann verliebt haben, weil er sie unverwandt mit glühenden Augen anblickte. In halber Verzweiflung goß sie sich ein Glas Wein auf den Schoos, indem sie Müllersdorf den 122 Teller präsentirte, und gab ihm auf den Kopf schuld, er habe es umgeworfen, um nur seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Müllersdorf fuhr wie aus einem Traume auf, griff hastig in eine Rocktasche, dann in eine andre und endlich in eine dritte, aus welcher er sein Tuch hervorzog und damit das nasse Kleid des Fräuleins abtrocknete, unzählige Entschuldigungen hervorstammelnd. Luise, glücklich von seiner Hand berührt zu werden und bei diesen Berührungen in heimlichen sinnlichen Genüssen schwelgend, ließ ihn ruhig gewähren, und fühlte ein noch nie empfundenes wollüstiges Vergnügen durch alle Nerven beben, als er ihre Hand faßte und fest und glühend preßte, und wie in Verwirrung ein halbes Dutzend Küsse darauf drückte. Wer war seliger als die liebe Unschuld! wie segnete sie den herrlichen Einfall mit dem Weine, der ihrem Geschicke, wie sie meinte, plötzlich eine andre Wendung gegeben hatte! Und – wie höchst wunderbar sind meist die Fügungen des Himmels! – gerade dieser plumpe Einfall des verliebten und nach Liebesgenuß und Liebeständelei schmachtenden Kindes 123 gaben einem Geschicke von weit größerer Bedeutung eine andre Wendung, löste den verworrenen Knoten in Müllersdorfs Leben und zertheilte die furchtbaren Wetterwolken, die sich, mit fast unabweisbarem Unheil geschwängert, über seinem Haupte zusammengezogen hatten, und jeden Augenblick loszubrechen und ihn zu vernichten droheten. Als er nämlich in der höchsten Verwirrung nach seinem Taschentuche suchte, zog er in unvorsichtiger Hast unvermerkt das vorhin beschriebene und durchrissene Papier heraus; das zusammengedrückte Blättchen flog empor und fiel zu den Füßen der Madame Bergmann nieder. Sie allein bemerkte es, hob es auf, und steckte es, außer Stand, der Erbsünde des schönen Geschlechts, der Neugierde, zu widerstehen, in ihr Etui.

Müllersdorf gewann es endlich über sich, Madame Bergmann anzureden und sie zu fragen, ob sie sich bereits Einiges von den Schönheiten des Badeorts betrachtet habe, aber kaum hatte sie die ersten Worte gesprochen, als der junge Mann zusammenfuhr und halb laut zu Luischens 124 Verwundrung mit zitternden Lauten sagte. »Großer Gott, auch ihre Stimme ist es! Ich werde wahnsinnig.« Scheu rückte Luischen ab und flüsterte ihrer Schwester etwas in's Ohr; diese lachte aber herzlich und meinte, es werde so schlimm nicht seyn.

Zum Glück für den seltsam befangenen jungen Mann enthoben ihn die Geschwätzigkeit des alten Barons und die reichlich strömende Fluth von Flüchen und ungezognen Redensarten des Lieutenants der Verbindlichkeit, selbst viel zu reden, und er hatte fast nichts weiter zu thun, als Luischens naive Zudringlichkeit abzuwehren, was ihm indessen nur zur Hälfte gelang; denn eh' er sich's versah, fühlte er ihre Hand wieder in der seinigen, und wußte nicht, wie er dazu gekommen war. Desto aufmerksamer horchte er auf jedes Wort, was Madame Bergmann sprach, desto schärfer betrachtete er ihre Züge, obgleich ein Schauer um den andern seine Gebeine durchrieselte. Von den seltsamsten Gefühlen gefoltert, konnte er endlich die Frage an die Fremde nicht unterdrücken, woher sie gebürtig und wer ihre 125 Eltern gewesen, und mit freundlicher Gefälligkeit erzählte sie ihm, daß sie eine geborne B–erin, ihr Vater der vor dritthalb Jahren verstorbene Hofrath Ritter gewesen sey, daß sie die Mutter zu früh verloren habe, um sich ihrer erinnern zu können. Nach ihres Vaters Tode habe sie einen weitläufigen Verwandten, einen Regierungsassessor in A–ch, geheirathet, dessen Vater noch zur Zeit des p–ischen Besitzthums dieses Ländchens von B. dorthin versetzt worden sey; vor einigen Monaten sey aber ihr Gatte gestorben und daher die Trauerkleider, die sie trage.

Müllersdorf fühlte sich der Fremden durch diese Mittheilungen zwar menschlich näher gebracht, aber er konnte seine Verstimmung trotz dem in Fülle aufgenöthigten Wein nicht besiegen, und Müdigkeit vorschützend, beurlaubte er sich von der Gesellschaft, alle Flüche Wittenbachs über sein baldiges Entfernen, alle Bitten des Barons und alle einladenden Blicke Luischens unbeachtend lassend, und rannte noch eine Zeit lang, von den widerstrebendsten Gefühlen durchstürmt, in der sternhellen Nacht umher. 126

 


 


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