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Unter der, nach der Eröffnung des Thores von St. Antoine in die zum Schlachtfelde gewordene Vorstadt hinausströmenden Volksmenge war auch Nannon, die mit angsterfülltem Herzen ihrer Herrin auf dem Fuß gefolgt war. Nun aber überließ sie sich dem Zuge ihres Herzens. Ihr kleiner niedlicher Fuß, der auf der Bühne so oft bewundert worden war, hüpfte jetzt mit unbewußter Grazie über Leichen und Sterbende, und obgleich von mancher kräftigen Männerstimme zurück ermahnt, langte sie doch bald am Hause ihres Ruhmes und Glückes an. Sie schauderte zurück. Blut färbte die Schwelle des Musentempels und seine ohnedies düstern Hallen waren mit Leichen angefüllt. Doch der quälende Gedanke, was aus dem alten guten Mann, der Vaterstelle an ihr versehen, geworden sein möchte, ließ sie das Grausen überwinden, das ihre Seele erfaßt hatte. Hier wurde ein bärtiger Krieger von Todeszuckungen gemartert, dort flehete sie ein junger verwundeter 117 Mann um einen Trunk Wasser, weiter strauchelte ihr Fuß über mehre Todte, aber unaufhaltsam trieb es sie fort, die wohlbekannten Gänge hindurch, über die blutige Bühne, die ja auch ihr Blut getrunken hatte, überall vom Tod in seiner scheuslichsten Gestalt angegrinst, die defecte Steige hinauf bis zum Verschlag. Mit hochklopfendem Herzen, mit angstgepreßtem Athem horchte sie an dem Vorhang; nichts regte sich. Leise schob sie ihn zurück und stand erstaunt vor drei Männern, die schlafend umher lagen und saßen. In dem Einen hatte sie sogleich auf dem ersten Blick Benoit Poupard erkannt, und ein lauter Schrei, vom heftigsten Schrecken erzeugt, entfloh unwillkührlich ihrer Brust. Benoit war im Nu auf den Füßen, hatte seinen Säbel gefaßt und starrte schlaftrunknen Augs auf das blasse Mädchen. Auch St. Romain und Debarques waren munter geworden, und der Letztere wimmerte aus Furcht, Poupard möchte Nannon ermorden und flehete den Jüngling fast fußfällig, dem guten Kinde kein Leid zu thun. Es hätte der Bitte nicht bedurft; denn Benoit hatte seinen blanken 118 Säbel bereits gesenkt und hinter seinen Schenkel versteckt, und blickte scheu und verlegen, ohne einen Laut hervorzubringen, zu Boden. Nannon warf ihn einen einzigen Blick zu, in welchem sich aber Stolz, weibliche Würde, Trotz und Liebe vereinigten, und wandte sich dann mit der Frage an Debarques: »Wie geht es Ihnen, mein Vater? Die Angst um Ihr Wohl hat mich herausgetrieben, aber zu meiner Freude sehe ich, daß Sie eine gute Sauvegarde haben.«
»O mein herzgutes Kind!« weinte der Exdirector, »wie bist Du denn aus der Stadt gekommen? Wie hast Du Dich in das Gemetzel herauswagen können?«
»Die Prinzessin von Montpensier, meine gnädigste Gebieterin hat das Thor öffnen lassen. – Ich habe Ihretwegen mit ihr gesprochen, mein Vater. Sie hat mir Schutz und Unterhalt für Sie zugesagt. O sie ist eine hochedle treffliche Fürstin, wie Frankreich keine weiter hat. Und der Abbé Bertault will Sie bis zu Ihrer Genesung bei sich aufnehmen.«
119 »Solche Güte habe ich nicht um Dich verdient, Nannon.«
»Lassen Sie das! – Leben Sie wohl bis diesen Abend! Ich werde mit einer Sänfte kommen, um Sie abzuholen.« Sie wendete sich, um zu gehen. Benoit trat ihr in den Weg. »Du wirst hingehen und uns der Prinzessin verrathen,« sagte er mit affectirter Kälte, »denn wir sind Soldaten des Königs, wie Du wohl gesehen hast. Und ich kann es nicht anders erwarten. Du hast zu Condé's Fahne geschworen.«
»Ach, pfui!« rief sie entrüstet und das tiefverwundete Gefühl brach, gleich einer Explosion, aus, Thränen und Schluchzen hinderten sie am Weitersprechen, ihre Brust arbeitete convulsivisch. Doch sie ermannte sich, erhob sich mit Würde und sagte stolz: »Können Sie nichts anders von mir erwarten, mein Herr? Nun sehr wohl, dann haben wir uns nie gekannt, und ich habe mir ferner Ihretwegen keine Vorwürfe mehr zu machen. Wenn ich Ihnen auch ein Mal Gelegenheit gab, mich für leichtsinnig zu halten: mich als eine Ehrlose, Niederträchtige anzusehen, gab ich Ihnen keine.«
120 »Nannon, Du hast mich falsch verstanden,« redete Benoit kleinlaut, »ich wollte sagen, ich hätte es nicht besser um Dich verdient. Ich könnte ja nicht ein Mal über Dich zürnen, wenn Du uns dem Condé verriethest. Geh hin und verrathe mich, ich bitte Dich jetzt darum, ein einziges liebes Wörtchen von Dir und der Prinz läßt mich todtschießen, und das ist mir eben recht. Ich will sterben; ich will todtgeschossen sein.«
»Geh, Benoit,« sagte sie mit Abscheu, »ich verachte Dich.«
»Verachten!« schrie er auf. »Nein, verachten laß ich mich nicht von Dir. Da will ich mich lieber selbst todtschießen.«
»Du bist ein Narr!« rief sie gutmüthiger.
Jetzt nahm St. Romain das Wort: »Sagen Sie immerhin der Herzogin von Montpensier, daß wir hier sind, ich ersuche Sie darum; sagen Sie ihr aber auch zugleich, daß ich Roger von St. Romain heiße, und des Königs Page war, der das Glück hatte, bei ihr in Gunst zu stehen. Sagen Sie ihr, daß ich wünschte, ihr Gefangner zu sein.«
121 »Sind Sie derselbe, der den König in dieses Haus führte, als die unglückliche Vorstellung des Orestes stattfand?«
Benoit zuckte bei dem Worte: »Orestes« zusammen.
»Ich bin's!« versetzte St. Romain.
»So erlauben Sie mir, der Prinzessin nichts von Ihnen zu sagen. Jede Erinnerung an jenen Abend ist ihr ein Stich ins Herz, und der Name Orestes darf nie in ihren Ohren klingen, nie in einem Buche stehen, das sie liest, oder ihre Laune ist verdorben. Ich selbst bin ihr leider Erinnrung genug an jenes unselige Stück, das ihr so vielen Kummer bereitet, das den Bürgerkrieg in Frankreich angeblasen hat. Und als ich ihr von meines Vaters Elend erzählte, ihre Hülfe anflehete, verfinsterte sich ihre sonst so klare edle Stirn, und nur deshalb. weil sie dadurch an den Orestes erinnert wurde.«
»Wir bedürfen der Gnade der Prinzessin nicht, mein Offizier,« wandte sich Benoit an den Verwundeten. »Ertragen Sie Ihren Schmerz nur bis zum Abend. Dann gestatten Sie mir, für 122 Sie zu sorgen. Ich selbst übernehme Ihre Pflege, und ein guter Wundarzt soll Ihnen nicht fehlen.«
»Kann ich Ihnen behülflich sein, Sie ohne Aufsehen aus diesem Hause zu entfernen,« sagte Nannon, »so biete ich mit Freuden die Hand. Glauben Sie nicht, was Benoit spricht, ich hätte zu Condé's Fahne geschworen und haßte die königlichen Krieger. Es gibt keine beßre Gelegenheit, Sie unbemerkt fort zu bringen, als in derselben Sänfte, die meinen Vater abholt. Ich sorge für andre Kleider, damit Sie die königliche Farbe nicht verrathe. Dann belieben Sie nur zu bestimmen, wohin man Sie bringen soll.«
Nach diesen Worten entfernte sie sich, ohne auf St. Romains Dankworte zu hören, oder auf Benoits Blicke zu achten, und ließ das wunderliche Kleeblatt in einer ziemlich verdrießlichen Stimmung zurück. 123