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Dieser Abschied von Salzburg bedeutete gleichzeitig den Eintritt in ein selbständiges Leben. Die ganze Art, wie der Abschied aus dem erzbischöflichen Dienste sich vollzog, wirkt auch wie ein äußerer Abschluß der Jünglingsjahre. Zum erstenmal zieht Wolfgang ohne den Vater hinaus in die Welt. Zwar begleitet ihn die Mutter, aber sie konnte doch höchstens auf seine äußere Wohlfahrt achten. Wolfgang tritt jetzt selbständig der Welt gegenüber. Die Zeit ist vorbei, in der er mit den Wirkungen des Eindrucks seiner außerordentlichen Frühreife rechnen konnte. Die Welt, die so leicht durch eine oft künstlich gezüchtete Wunderkindschaft sich blenden läßt, hat kein Auge für die wunderbar harmonische Schönheit eines Wundermannes. Ja Mozart mußte, wenn er jetzt ins Leben trat, eher damit rechnen, daß ihm die Erinnerung an seine Wunderkindschaft schadete, um so mehr als er körperlich allzu jugendlich aussah, seine gesamte Erscheinung jedenfalls nicht den Anspruch unterstützen konnte, den seine Kunst mit vollem Recht erhob: als Werk eines Mannes gewertet zu werden. Mir scheint, daß man diesen Umstand beim Mißlingen der aufs äußere Leben gerichteten Pläne Mozarts allzu wenig berücksichtigt.
Hier ist es nun an der Zeit, einen Blick auf die wunderbare, bis heute in der Kunstgeschichte einzig dastehende Jugendentwicklung Wolfgang Mozarts zurückzuwerfen und die Ergebnisse seiner bisherigen Künstlerlaufbahn zusammenzufassen.
Die Erziehung des trefflichen Vaters hatte sich herrlich bewährt. Er durfte an der wunderbar harmonischen und schönen Entwicklung seines Sohnes das Hauptverdienst beanspruchen. Denn so gewiß die Veranlagung ein unberechenbares Himmelsgeschenk ist, die Entwicklung dieser Gaben zu ihrer jetzigen Blüte war nur durch diese Erziehung möglich gewesen, die in klarer Einsicht der Ziele, in ruhiger Festigkeit der Führung, in liebevoller Warmherzigkeit der Behandlung und in der weisen Zuführung der geistigen und seelischen Nahrung, wie in der Steigerung der Arbeitsleistung ein pädagogisches Meisterstück ist. Wahrlich, Wolfgang hatte ein Recht zu seinem Ausspruch: »Nach Gott kommt gleich der Papa.« Er hat dem Vater durch kindliche Liebe und eine rührende Ergebenheit und Anhänglichkeit sein Erzieherwerk auch menschlich gelohnt. Die Kunstgeschichte hat kein zweites Mal von einem so innigen Verhältnis zwischen Vater und Sohn zu berichten wie hier.
Als des Vaters größtes Verdienst wird man anerkennen, daß er die Einseitigkeit einer nur musikalischen Ausbildung zu vermeiden verstand. So geschickt er alle Einflüsse fernzuhalten wußte, die das leicht erregbare Gemüt des Sohnes von dem hohen künstlerischen Ziel hätten ablenken können, so wenig wollte er eine musikalische Treibhauspflanze heranziehen oder gar einen engbegrenzten Spezialisten. Die frühen Erfolge in der Oper, die doch zuerst einen äußeren Gewinn versprachen, bewogen ihn keineswegs, nun etwa alle Kräfte auf die Ausbildung dieser dramatischen Begabung seines Kindes zu verwenden; vielmehr haben wir eher das Gefühl, daß er nach jedem Erfolge auf einem Felde an die Bearbeitung und Eroberung der anderen, noch nicht so fleißig bebauten Gebiete der Musik dachte. So war nun erreicht, daß der 21jährige Jüngling als Musiker in einer Allseitigkeit dastand, zu der es kaum Gegenbeispiele gibt. Er hatte in der ernsten und in der komischen Oper sich bewährt; er hatte Oratorien und Gelegenheitsmusiken für weltliche Feste geschaffen; auf den verschiedensten Gebieten der Kirchenmusik lagen bedeutende Arbeiten vor; die orchestralen Möglichkeiten der damaligen Musik waren ebenso ausgenutzt wie die der Kammermusik. Neben diesen Sinfonien, Serenaden und dergleichen stehen zahlreiche Konzerte und Stücke für Klavier, Geige und Orgel; aber auch für andere Instrumente hatte er, wo sich das Bedürfnis einstellte, geschaffen. Wolfgang hatte ferner als Knabe eine vollständige gesangliche Ausbildung sich zu eigen gemacht und hatte sich auch nachher, als er die Stimme wechselte, so weitergebildet, daß er in allen Fragen der menschlichen Stimmbildung als Fachmann entscheiden konnte, eine Eigenschaft, die unseren heutigen Opernkomponisten, ja sogar den meisten Liederkomponisten in so hohem Maße abgeht, daß sie es kaum mehr verstehen, für die Singstimme wirklich dankbar zu schreiben. Außerdem aber war Wolfgang vollkommener Virtuose auf dem Klavier, der Geige und der Orgel. Die Naturanlage der Improvisationsfähigkeit hatte er aufs glänzendste ausgebildet durch eine Kenntnis aller musikalischen Formen, die ihm diese so zu eigen machte, daß formale Schwierigkeiten für ihn nicht vorhanden waren, daß vielmehr alle musikalische Form bei ihm ebenso natürlich als Ausdrucksmittel eines innerlich Lebendigen wirkt wie die Beherrschung des Wortes und der Sprache beim Dichter. Also es war nicht der Ton an sich, der ihm Ausdrucksmittel war, sondern bereits eine Form, und das ist es, was ihn davor bewahrte, jemals zu formalen Zwecken zu schaffen. Es ist wie in der Sprachmusik Goethes, die ihm Verse und Reime so natürlich zuführte, daß sie ihm niemals Zweck des Dichtens, sondern immer nur Mittel zum Ausdruck waren.
Über dieser einzigartigen Ausbildung der künstlerischen Fähigkeiten war die geistige nicht versäumt worden. Wir sind darüber im einzelnen nicht genau unterrichtet. Es ist ja klar, daß in den Briefen zwischen Vater und Sohn, die für alle diese Dinge unsere wichtigsten Quellen sind, fast nur von Musik geredet wird, weil es doch darauf ankam. Da Mozart ferner keine Schule besucht hat, können wir auch nicht daraus auf die Art seines Bildungsganges schließen, sondern wir müssen uns, wie ja eigentlich auch in der Musik, an die Ergebnisse halten. Sein Lehrer war auch hier vor allem der Vater. Daß dieser durch seine geistige Bildung weit über den Durchschnitt hinausragte, daß er vor allem über ein bei den Berufsmusikern jener Zeit kaum wieder anzutreffendes Wissen verfügte, haben wir schon wiederholt betont. Sein eigener Studiengang, der ihn ja zum Juristen hatte ausbilden sollen, hatte dazu beigetragen; dann aber blieb er dauernd von stärkster Teilnahme für alle Fragen des Wissens und des Lebens erfüllt. So war also der Umgang mit dem Vater selber bereits ein vorzüglicher Unterricht. Offenbar hat Wolfgang auf diesem Gebiete ebenso leicht gelernt wie in der Musik. Die französische und italienische Sprache hat er vollkommen beherrscht. Das Lateinische hat er sich schnell und leicht zu eigen gemacht. Wie schnell er noch in späteren Jahren lernte, zeigt eine Mitteilung in einem späteren Briefe (17. August 1782), daß er jetzt eifrig Englisch treibe und hoffe, in drei Monaten die engländischen Bücher leicht lesen und verstehen zu können; das alles in der Überfülle der Arbeit der Wiener Jahre. Wenn – wie Goethe meinte – Reisen einen empfänglichen Menschen überhaupt am besten bilden, so mußte Wolfgang mit seiner außerordentlich lebhaften Sinnlichkeit um so besseren Gewinn davon haben, als er auf ihnen fast nur mit den gebildetsten und anregendsten Menschen in Verkehr kam. Als besondere Neigung ist uns aus seiner Jugendzeit die Freude an der Mathematik überliefert. Ich habe schon in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen. (Vgl. S. 112.) Übrigens hat sich auch Richard Wagner über Mozarts »enorme Begabung für Arithmetik« in seiner Schrift »Über das Dirigieren« ausgesprochen. Er stellt dabei Mozart in Gegensatz zu Beethoven mit seiner umständlichen Art sich bei den einfachsten Rechnungen zu helfen. Beethoven »erscheint als ein monstrum per excessum nach der Seite der Sensibilität hin, welche durch ein intellektuales Gegengewicht von der Seite der Arithmetik her nicht fixiert war.« Deshalb ist an seiner Musik auch nichts mehr durch Zahlen zu messen. »In Mozart dagegen begegneten sich die Extreme der Musik« – das rein mathematische Hören, die arithmetische Regelmäßigkeit der Formung und die höchste Empfindungstätigkeit – so ganz unmittelbar, daß sie zu einem so wundervollen Gemeinwesen sich ergänzten. Dagegen findet Wagner, daß die Mehrzahl der Dirigenten, gegen die seine Schrift gerichtet ist, »Monstruositäten nach der Seite der reinen musikalischen Arithmetik hin« sind.
Für die gesamte geistige Ausbildung Mozarts legen seine Briefe ein sehr günstiges Zeugnis ab. Man hat ihnen gegenüber stets das Gefühl der Äußerungen eines gebildeten Mannes. Zu tiefsinnigen Bekenntnissen ist bei der Tatsache, daß weitaus die größte Zahl an den Vater gerichtet ist, keine Veranlassung. Am allerwenigsten hat er da Veranlassung, über sein Verhältnis zur Kunst zu sprechen, denn das war dem Vater ja ebenso vertraut wie ihm selber. Man muß sich also mehr an gelegentliche Äußerungen halten. Die aber zeigen uns einen Künstler, der immer auf das Wesen der Dinge seinen Blick richtet, dem alle Äußerlichkeit, sei sie noch so glänzend, keinerlei Eindruck zu machen imstande ist. Sein Urteil ist scharf und klar, beruht niemals bloß auf Gefühlsempfindung, sondern wird deutlich begründet. Die Briefe zeigen einen Mann, dem es leicht fällt, seine Gedanken in gewinnende Form zu bringen. Stilistische Meisterleistungen zu versuchen hat ihm natürlich ferngelegen, um so mehr, als er in den Familienbriefen am liebsten den leichten Unterhaltungston der häuslichen Umgangssprache anschlug. Bis in verhältnismäßig späte Lebensjahre hinein, ja eigentlich durchs ganze Leben bleibt ihm in diesen Briefen die Freude an einer Spielerei mit Wortverdrehungen und dergleichen, die leicht den Eindruck des Läppischen machen kann, die wir aber zu jenen Äußerungen zu rechnen haben, in denen sich sein körperliches Sein gewissermaßen ein Gegengewicht gegen die verzehrende künstlerische Tätigkeit schuf. Manche sehr derben, ja unschicklichen Ausdrücke in seinen Briefen kann man nur aus dem Charakter der Zeit richtig beurteilen. Diese sah in Wortwendungen nichts, die uns aufs peinlichste berühren können. Wir erfahren ja immer wieder, wie fein empfindend seine Natur überall dort war, wo es sich um Wesentliches handelte.
Auf der Höhe der geistigen und körperlichen Ausbildung stand auch die des Menschen. Wolfgang ist das Kind einer Zeit, in der zum charaktermörderischen Despotismus eine alle gesunde Anschauung verseuchende Unsittlichkeit die höchsten wie die untersten Volksschichten erfaßt hatte. Da ist zunächst festzuhalten, daß er jetzt als sittlich reiner, unschuldiger Jüngling in die Welt hinausging. Was mehr bedeutete, war, daß er eine kernhafte Auffassung von Sittlichkeit mitnahm, die ihn gegenüber den gemeinen Erscheinungen des Lebens nicht blind, noch selbstgerecht machte, die ihm aber die sichere Haltung ihnen gegenüber gab.
Mozarts ganzes Wesen war kindliche Frohnatur. Aber dieser frohe Mut wuchs aus einem ernsten Untergrund heraus. Man wird in seinen Briefen vergeblich nach einer Stelle suchen, in der er eine ernste Angelegenheit scherzhaft behandelt hätte. Dagegen wird man auf zahlreiche Zeugnisse stoßen, die eine so ernste, ja feierliche Auffassung des Lebens bekunden, daß wir erkennen, daß seine Fröhlichkeit nicht bloß Lustigkeit, sondern Humor war. Er war voll Güte, voll Wohlwollen und Reinheit in allen seinen Absichten. Darum ist er nie klug gegenüber der Welt geworden. Er glaubte den Menschen, und da er selber kein Übles wollte, hat er nie gelernt zu begreifen, daß gegen ihn auf allen Seiten der Neid Übelwollen gezeugt hatte. Man muß aber hervorheben, daß diese geringe Kenntnis der Menschen keineswegs auf Oberflächlichkeit der Beobachtung oder auf der Unfähigkeit zur Menschenkenntnis beruhte. Er bekundet immer wieder einen außerordentlich scharfen Blick gegen die Schwächen seiner Nebenmenschen, für ihr Gehaben, was freilich bei der Gutmütigkeit seiner Natur fast immer nur ein heiteres Lachen auslöste. Bemerkenswert ist, daß er trotz seiner frühen Erfolge und trotz der vielen Schmeicheleien, die er von allen Seiten erfahren, von Hochmut völlig frei blieb. Wohl aber hatte er ein festes Bewußtsein seines künstlerischen Wertes und die volle Zuversicht auf sein künstlerisches Vermögen. Irgendwelcher Zweifel in dieser Hinsicht: der Gedanke, nicht zum Höchsten in seiner Kunst berufen zu sein; die Furcht, jemals eine künstlerische Absicht nicht in die vollwertige Tat umsehen zu können, ist ihm offenbar niemals gekommen. Darin ist er der reinste Olympier unter allen Künstlern der Weltgeschichte. Scharf ausgebildet war in ihm das Ehrgefühl. Wir werden später erfahren, daß ihn die tiefe Kränkung seiner Ehre sogar zum scharfen Widerstände gegen seinen Vater stärkte.
Wir haben noch die Stellung zu beleuchten, die Mozart als Kunst schöpfer in dieser Zeit einnahm. Durch die einzigartig frühe Entfaltung seiner erstaunlichen Fähigkeiten sind da vielfach falsche Vorstellungen hervorgerufen. Die richtige Beurteilung hat nicht nur geschichtlichen Wert, sondern schärft den Blick für die Eigenart der späteren großen Mozartischen Kunst.
Wäre Wolfgang um diese Zeit gestorben, ja wäre er noch im Lauft des Jahres 1780 gestorben vor der Vollendung des »Idomeneus«, dessen Erstaufführung (29. Januar 1781) mit dem Abschluß des 25. Lebensjahres unseres Mozart zusammenfiel, so hätte die Musikgeschichte nur von begrabenen Hoffnungen zu berichten. Die Musikgeschichte müßte sich eben an die vorhandenen Werke halten. Bleiben würde natürlich die Wundergeschichte dieser einzigartigen Kindheit und Jünglingszeit, dieser wunderbaren Entfaltung unvergleichlicher Gaben. Aber man könnte nicht behaupten, daß in diesem Falle durch den 25 Jahre alt gewordenen Mozart unser Besitz an Musik eine wirkliche Bereicherung an durchaus neuen oder selbständigen oder über das Vorhandene hinausragenden Werten empfangen hätte. Nehmen wir im Vergleich dazu unter den gleichzeitigen Künstlern Goethe und Schiller, so hatte der erstere als 25jähriger nicht nur in der Lyrik ganz neue Töne angeschlagen, sondern auch in »Götz« (1773) und »Werther« (1774) der Weltliteratur zuvor unbekannte Werte geschenkt; auch Schiller steht in diesem Alter mit den »Räubern« (1781) und »Kabale und Liebe« (1784) als durchaus eigenartiger Charakterkopf und Bereicherer der gesamten Kunst vor uns. Ich führe das natürlich nicht an, um Mozarts Ruhm zu verkleinern, sondern um auf die andere Artung seines Schaffens aufmerksam zu machen. Wir haben die gleiche Erscheinung bei Raffael. Während er schneller als irgend ein anderer höchste künstlerische Gewandtheit errungen hatte, schuf er später als ein Michelangelo ganz persönliche Werte. Auch den 25jährigen Raffael hätte man als wunderbar früh vollendete Zierde der Schule von Perugia feiern können; dagegen wäre in seinen an sich sehr schönen Bildern bis zu dieser Zeit das charakteristisch Raffaelsche nur in Einzelheiten, gewissermaßen als Ankündigung nachweisbar. Dabei sind diese Jünglingswerke Mozarts und Raffaels an sich vollkommen oder doch wenigstens von Auswüchsen und sichtbaren Mängeln freier, als die der andern erwähnten Künstler.
Die Erklärung gibt Goethes Urteil über Raffael, daß er als der endgültige, notwendige Abschluß einer langsam ansteigenden Pyramide, als deren Krönung erscheine. Zweierlei ist klar: erstens daß dieser Abschluß nicht im Widerspruch steht zum vorangehenden, keinen Gegensatz dazu in sich trägt, sondern eben die Krönung ist; zweitens daß man erst nach Vollendung der Pyramide den Gipfel erkennen kann. Auf unsern Fall übertragen heißt das: Künstler wie Raffael oder Mozart können nicht frühzeitig als neuartige Erscheinungen, als Bringer neuer Werte dastehen, weil sie die Sammler und Vollender des Vorhandenen sind. Daß sie aber für dieses Vorhandene den Gipfel bedeuten, zeigt erst ihr großes Lebenswerk, die Arbeit ihrer Meisterschaft. Das Schaffen derartiger Künstler muß dann etwas in sich tragen, wodurch es, trotzdem es von dem der andern nicht im Wesen verschieden erscheint, doch eigenartig, doch einzig ist; genau wie der Gipfel der Pyramide einzig ist gegenüber allen anderen Stellen des Riesenbaues.
Erst bei der innigen Beschäftigung mit den Werken eines solchen Künstlers erfühlt man genauer dieses Persönliche in ihnen. So haben wir auch in der Musik den Begriff »mozartisch«. Das ist einer von jenen künstlerischen Lebenswerten, die unbedingt sicher empfunden werden, sich aber gar nicht beschreiben und analisieren lassen. Fast nichts davon steckt in der Form der Aussprache, obwohl man deutlich spürt, wie das Überkommene gesteigert und leicht verändert ist, obwohl man sicher empfindet, daß die Form reiner, harmonischer, eben schöner geworden ist, als sie vorher war. Das Maßwerk im ganzen ist dabei kaum verändert. Alles, was sich bei Formen verstandesmäßig festhalten läßt, ist gleichgeblieben. Es ist das innere Erleben dieser Form – bei der bildenden Kunst nennt man es wohl die Stimmung, die über dem Ganzen liegt –, wodurch diese Erhöhung auch des Formalen bewirkt ist. Dieses verstandesmäßig nicht scharf definierbare Kriterium des Mozartischen ist im Grunde fast das einzige, nach dem wir die innere künstlerische Entwicklung Mozarts selber verfolgen können. Mit den Mitteln des Kunstverstandes, die bei der Musik noch etwas beschränkter sind als bei anderen Künsten, kommen wir bei Mozart von allen großen Musikern am wenigsten weit, weil das Problem der Form dadurch bei ihm so eigenartig ist, daß es von allem Problematischen freibleibt. Das klingt paradox, ist aber die einfache Tatsache, daß für Mozart das Problem der Formgebung in der Art, wie es sonst für die deutsche Kunst charakteristisch ist, nicht vorhanden ist: nämlich als Zwiespalt zwischen Form und Inhalt, wobei es dann des Künstlers Aufgabe ist, die Form dem Inhalt entsprechend zu machen, im Ideal zu erreichen, daß gerade diese Form als der dem künstlerischen Inhalt gemäßeste Ausdruck erscheint. Mozart hat die Formen, die sich im Laufe der Zeit in der Musik ausgebildet haben, übernommen. Wir wollen bedenken, daß jede dieser Formen einmal etwas Neues war, daß sie einmal sich als der natürlichste Ausdruck eines bestimmten künstlerischen Wollens eingestellt hatte; daß sie gerade vermöge der Überzeugungskraft, der Ausdrucksrichtigkeit von der Gesamtheit als das einem bestimmten Kunstwollen Entsprechende erkannt und damit Gesetz wurde. Formen werden also erst dann in der Kunst etwas völlig Totes, wenn die Gefühlswelt, aus der heraus sie als natürliche Ausdrucksweise entstanden sind, vorbei ist. Ich habe schon oben nachzuweisen gesucht, daß Mozart der Periode vor uns angehört, daß sein Menschen- und Künstlertum in einer Zeit wurzelt, die in den wichtigsten Unterlagen von der unsrigen verschieden ist. Eine Fülle von Formen, vorab aber das Bedürfnis nach Form selbst, war jener Periode natürlich, während sie uns fremd geworden sind.
Wir müssen uns viel mehr gegenwärtig halten, als es gewöhnlich geschieht, daß in diesen Zeiten, die sich ja in ihrer ganzen Lebensbetätigung durch Streben nach formaler Ausgestaltung (Etikette) charakterisieren, jede Form an sich bereits ein starker Lebensausdruck ist; und auch ein bestimmter Lebensausdruck, der als solcher verstanden wird, so daß, wo diese Formen einem begegnen, die ihnen entsprechenden Gefühls- und Empfindungswerte sogleich geweckt werden. Wir können heute Tanzrhythmen aller Art hören, ohne daß sich bei uns das Gefühl des Tanzes einstellt; selbst bei dem doch noch recht jungen Walzer sind wir so weit, daß ein Chopin diese Form benutzen kann, um uns die Intimitäten seines Innenlebens mitzuteilen, in höchst subjektiver Weise, so daß wir bei ihm das Verhältnis haben, daß er eine vorhandene Form benutzt, um in sie einen dieser Form an sich gar nicht verwandten Inhalt hineinzugießen. Wenn so das Verhältnis eintritt, daß Kunstformen außerhalb unseres Gesamtlebens stehen, wenn sie uns als etwas Fertiges und für sich Stehendes gegenübertreten, das an sich keine Bedeutung und keinen Inhalt hat, sondern ihn erst bekommen soll, dann werden wir die Wahl einer solchen fertigen Form für einen nicht auf demselben Boden gewachsenen Inhalt als Zwang und unter Umständen als Lüge empfinden. Dagegen hat es immer Zeiten gegeben, in denen die Menschheit im höchsten Maße formbegabt war, in denen sie für die verschiedensten Lebensempfindungen und Lebensbetätigungen eine Art der Aussprache fand, die allen als zutreffend erschien. Solche Zeitalter sind die Antike für Plastik und Literatur, die Periode des Rittertums für das äußere Lebensgehaben und die ganze Art des Verkehrs. War ja das Rittertum doch selber das Ideal einer Formengebung für Weltanschauung. Für solche Zeitalter hat denn auch die Form an sich bereits Inhalt. Sie ist selber schon Ausdruck. Für die Musik ist die Blütezeit solcher Formenbildung das 17. und 18. Jahrhundert. Die Anfänge der Instrumentalmusik zeigen eine fast unübersehbare Zahl von Formen. Wir sind heute oft gar nicht mehr imstande, die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Formen festzustellen. Es muß aber doch damals den Komponisten ganz deutlich gewesen sein, weshalb sie die verschiedenartigen Bezeichnungen für diese uns so gleichförmig erscheinenden Tonstücke wählten.
Mozart steht am Ende dieser Periode; man kann ihn auch gleichzeitig als den Höhepunkt derselben bezeichnen. Der Unterschied gegenüber einem Raffael beruht nur in der germanischen Universalität Mozarts. Die Musik hatte vorher nicht einen einzelnen Berg gebildet, der der Gipfelkrönung bedurfte, sondern es standen mehrere Berge getrennt nebeneinander; in den Basen waren sie vereinigt, aber sie strebten nach verschiedenen Richtungen. Mozart umfaßt, wenigstens soweit das formale Leben in Betracht kommt, alle diese scheinbar widerstrebenden Elemente; er zwingt das bereits Getrennte durch die Einheit seiner Person wieder zusammen und schafft einen Gipfel, in den nicht nur alle münden, sondern auch jeder für sich seine Krone findet. Bei Mozart haben wir in der ganzen Musikgeschichte das glänzendste Beispiel dafür, daß die Form an sich bereits Ausdruck ist. Wenn Otto Jahn in seiner Biographie bemerkt, daß »Mozart die außerordentliche Leichtigkeit seiner Erfindung eine gegebene Form nie als lästige Beengung erscheinen ließ«, daß es ihm deshalb nicht in den Sinn kam, »an den bis ins geringste Detail der Form und Technik feststehenden Satzungen zu rütteln«, so ist diese Auffassung bereits aus unserer Anschauung heraus und nicht aus geschichtlicher Sehweise entstanden. Denn ihr zugrunde liegt das Gefühl, daß durch dieses Gegebene der Form ein Konflikt zwischen Form und Inhalt sich eingestellt hätte, wenn Mozart nicht so über diese Fülle der Erfindung verfügt hätte. Es ist doch aber klar, daß auch die bedeutendste Erfindungsgabe in einer gegebenen Form für einen bestimmten Inhalt nur einen notdürftigen Ausdruck würde schaffen können, wenn der betreffende Erfinder, d. i. Schöpfer, das Gefühl haben müßte, daß sein Empfinden so subjektiv sei, daß ein anderer dafür die Ausdrucksweise nicht schaffen könne. Dem war aber bei Mozart nicht so. Mozart steht so sehr in der Zeit, die diese Form als echtes Ausdrucksmittel eines bestimmten künstlerischen Empfindens geschaffen hatte, daß er niemals die Form im Ganzen als Widerspruch empfindet. Man wird seine sämtlichen Briefe umsonst nach einer Äußerung durchsuchen, in der er eine bestimmte Form als Zwang oder als unpassend bezeichnet hätte. Dagegen zeigen seine Werke hundert Stellen, an denen er innerhalb der betreffenden Form Einzelheiten verschiebt, weil sie ihm der Wahrheit des Ausdrucks nicht gemäß erscheinen. Gerade die Tatsache, daß er in allen Einzelheiten, bei der Oper z. B., so sehr auf die Wahrheit des Ausdrucks bedacht war, daß er alles so scharf und kritisch empfand, was dieser Wahrheit widersprach, bezeugt, daß die Formen als Ganzes ihm niemals als Zwang oder Unwahrheit zum Bewußtsein gekommen sind. Sonst hätte er sie ganz sicher abgelehnt, hätte er neue geschaffen. Aber er empfindet im Gegenteil alle diese Formen bereits als Ausdruck, und sie sind ihm die Grundlage des Ausdrucks einer Situation, eines Charakters, einer Empfindung. Deshalb bewegt er sich auch mit dieser außerordentlichen Freiheit im einzelnen innerhalb der weiten Umgrenzung und vermag, gerade weil der allgemeine Grundcharakter bereits durch die Form gegeben ist, die ganze Kraft auf die Aussprache des Besonderen im vorliegenden Falle zu verlegen.
In dieser Fähigkeit des Auskostens, des Vertiefens einer ganz subjektiven, nur für diesen Einzelfall völlig zutreffenden Empfindung innerhalb einer Form, die jeden in die Richtung dieser Empfindung einstellt, so daß er für sie besonders empfänglich wird, liegt der eigenartige Zauber des Empfindungsausdrucks, den wir als mozartisch bezeichnen. Die Schönheit der Linienführung innerhalb des Umrisses, die wunderbare Klarheit im Maßhalten, so daß die verschiedenen Teile sich für den ersten Blick wieder zum Ganzen gestalten, tritt hinzu, um diesen Zauber zu erhöhen. Aber diese letzterdings mehr formalen Vorzüge sind nicht so charakteristisch über die Leistungen seiner Vorgänger und Zeitgenossen erhaben, daß sie allein ihm die einzigartige Sonderstellung einzuräumen vermöchten; auch alle Mozartepigonen, die doch diese formale Gestaltung ihm ganz genau abgeguckt haben, wirken leer und unwahr. Nein, bei Mozart ist die Form nur deshalb so unvergleichlich schön, weil sie ganz Inhalt ist, weil sie durch den Inhalt neu auflebt, in diesem Augenblicke für diesen Inhalt neu entstanden ist.
Die Werke, die Mozart bis zu dieser Zeit geschaffen, haben nur geschichtlichen Wert. Sie teilen damit das Schicksal der ganzen damaligen Musik, innerhalb derer sie sich, wie ja auch schon die Erzählung des Lebensganges wiederholt betonen konnte, mit Ehren behaupteten.
Im Gesamtwerke Mozarts wirkt aus dieser Zeit am bedeutsamsten die Kirchenmusik, weil sein dem Anfang nach sehr beträchtliches Schaffen auf kirchlichem Gebiete fast ausschließlich in die letzten Salzburger Jahre fällt. So ist hier der geeignete Ort, der Frage
Mozart und die Kirchenmusik
näherzutreten. Zwanzig Messen, mehrere Litaneien und Vespern, daneben zahlreiche Hymnen, Psalmen, Offertorien und Motetten sind in dieser Zeit entstanden. Später hat er nur noch zweimal für Kirchenmusik gearbeitet: das »Ave verum« und das »Requiem«, Werke von tiefster persönlicher Frömmigkeit und reichem religiösem Gehalt. Sie fallen in die letzte Lebenszeit und bilden auf diesem Gebiete die natürliche Krönung seines Schaffens aus den Jünglingsjahren. Der Geist darin ist derselbe wie früher, wenn auch dem Manne natürlich höhere Würdigkeit und tieferer Lebensernst eignet als dem Jüngling.
Die tiefe Herzensanteilnahme, mit der er als reifer Meister diese beiden kirchlichen Werke schuf, sollte seine Schöpfungen aus der früheren Zeit wenigstens vor dem einen Vorwurf bewahren, daß sie ihm nicht künstlerische Herzensangelegenheit, daß sie für ihn Zwangsarbeit gewesen seien. Das ist nicht der Fall. Wir haben oben ausgeführt, wie sehr in früherer Zeit der Musiker auch von der äußeren Gelegenheit abhing. Und so kam es ganz natürlich, daß Mozart, der später zu kirchenmusikalischen Arbeiten nicht aufgefordert wurde, keine solchen schuf, während er als Konzertmeister und Hofkomponist des Salzburger Erzbischofs fast jedes kirchliche Fest mit neuen Kompositionen zu verherrlichen hatte. Schlimmer wirkte das Äußere dieser Gelegenheit, die musikalischen Verhältnisse an sich. Sie empfand Mozart selber schmerzlich, wie aus dem Briefe vom 4. September 1776 an Padre Martini hervorgeht: »Unsere Kirchenmusik ist sehr verschieden von der in Italien und wird es immer mehr. Eine Messe mit dem Kyrie, Gloria, Credo, der Sonata zur Epistel, dem Offertorium oder Motetto, Sanctus und agnus dei, auch die feierlichste, wenn der Erzbischof selbst das Hochamt hält, darf nicht länger dauern als höchstens drei Viertelstunden. Tiefe Art von Kompositionen verlangt ein eigenes Studium. Und dabei muß es eine Messe mit allen Instrumenten, Trompeten und Pauken usw. sein.« Also Zwang zur Kürze, Verhinderung der Ausbildung großer Formen und dennoch Prunk. Der Widerspruch liegt im letzteren. Sonst hätte gerade für jene Zeit der Kirchenmusik der Zwang zur Kürze nur nutzen können. Aber der Erzbischof hatte einen durchaus verwelschten und weltlichen Geschmack, den Hang zur Opernhaftigkeit. Gegenüber diesen Verhältnissen konnte ein Jüngling um so weniger sich auflehnen, als sie von der ganzen Zeitstimmung gestützt wurden.
Die katholische Kirchenmusik ist seit mehreren Jahrzehnten ein Problem. Im Anschluß an die Bewegung der literarischen Romantik, die für die deutsche Dichtung im Gegensatz zu den Kräften der Antike die des christlichen Mittelalters aufrief, entwickelte sich auch eine Romantik der bildenden Künste und der Musik. Auf diesen beiden Gebieten ist aber eine zwiefache Romantik zu unterscheiden: die echte gesunde, die aus den durch jene literarisch-romantischen Studien geweckten Stimmungen, der dadurch gewonnenen inneren Naturanschauung und aus den reichen, von jener Romantik entdeckten nationalen Stoffen Anregung gewann zu einem neuen selbständigen Schaffen; daneben eine zweite, die man als historische Romantik oder vielleicht noch schärfer als die Romantik der Form bezeichnen kann. Jener ersteren hat die Malerei neben der zum Teil recht unglücklichen Historienmalerei, die einerseits allzusehr im Stofflichen blieb, andererseits von der formalen Romantik zu stark sich beeinflussen ließ, eine so köstliche Erscheinung wie Schwind und in seiner Gefolgschaft bis in die neueste Zeit Männer wie Böcklin und Thoma zu danken. Für die Musik brachte jene Romantik das Lied Schuberts und vor allem die Entwicklung der deutschen Oper zum Musikdrama. Dagegen bedeutete die formale Romantik die Unterjochung unter alte Formen, die einst groß waren, in denen die Vergangenheit herrliche Werke geschaffen hatte, die aber nun unlebendig und damit unwahr geworden waren. Die Schädigung, die die Historienmalerei dadurch erfahren hat, haben wir schon erwähnt; noch schwerer litt darunter die kirchliche Malerei und am allerschwersten die Kirchenmusik.
Gewiß war es ein wunderbarer Gewinn, daß man nunmehr die Werke der großen alten Kontrapunktiker ausgrub und vielfach auch zur Aufführung brachte. Aber es war ein schweres Verhängnis, wenn man nun in dieser alten Kunst nicht mehr eine Form, sondern die Form der kirchlichen Kunst sah. Verhängnisvoll war das für die Kirchenmalerei, weil bei der Gleichheit der vorgeführten Stoffe und der Formgebung im ganzen der Künstler beinahe zum Kopisten, jedenfalls zum Variantenerfinder erniedrigt war. Verhängnisvoller aber noch wirkte dieses Beginnen für die Musik. Im Gegensatz zur bildenden Kunst fehlt der Musik das Stoffliche, damit das für alle Zeiten Bleibende. Musik ist Aussprache des Empfindens, Künderin seelischen Lebens. Sie erheischt also immer einen Gegenwartsausdruck; sie kann nur wahr sein, wenn gegenwärtiges Empfinden darin ausgedrückt wird. Nun wird ja gerade die Kirche sagen, daß kirchliches Empfinden heute ebenso sei wie vor Jahrhunderten. Aber selbst wenn man das bis zu einem hohen Grade zugibt, erhebt sich als Hemmnis, daß dafür die musikalische Fühlweise sich vollständig umgewandelt hat.
Zwischen jener Zeit, in der die von dieser Romantik neu belebte Kirchenmusik geschaffen worden war, und der jetzigen liegt die schwerwiegendste Veränderung des gesamten musikalischen Empfindens, von der die Kunstgeschichte zu berichten hat. Der Unterschied zwischen der polyphonischen Kontrapunktik und dem späteren Musikstil bedeutet nicht nur eine Anwandlung in der musikalischen Formgebung, sondern auch die gänzliche Umkehrung der Einstellung der Hörweise für Musik. Das äußert sich am schärfsten darin, daß das Tonartensystem in den beiden Gruppen völlig verschieden ist. Also selbst wenn man wiederum einen polyphonen Stil entwickelte, wenn man wiederum an die Stelle der aus der Harmonie gewonnenen und von ihr gestützten Melodie das mehrfache Gegen- und Miteinander verschiedener gleichwertiger Melodien setzte, so bliebe doch die innere Hörweise eine verschiedene, und dieser heutigen Hörweise ist jene ältere Kontrapunktik fremd. Es gibt keinen heutigen Musiker und kann ihn schlechterdings nicht geben, der wirklich in den alten Tonarten hört. Wir können alte, aus diesen Tonarten herausgeschaffene Musik genießen; wir können in ihr Erzeugnisse von köstlicher Kunstvollendung bewundern, aber sie bleibt historisch. Ich gehe noch weiter. Wir können zugeben, daß gewisse Empfindungen – und in diesem Falle wären es gerade die kirchlichen – niemals wieder in der Kunstmusik einen ihnen entsprechenderen Ausdruck gefunden haben als in dieser kontrapunktischen Polyphonie. Aber es bleibt trotzdem dabei, daß ein Musiker von heute nicht wieder sein persönliches Empfinden wahrhaftig in diesen Formen aussprechen kann. Einfach, weil diese Formen für ihn historisch sind, weil sie eine zwangsweise Einstellung seiner musikalischen Sprache auf eine nicht mehr lebendige Musiksprache bedeuten. Noch viel weniger, als in einer toten Sprache wahrhaft lebendige Dichtung geschaffen wird, und beherrschte der betreffende Dichter diese tote Sprache auch noch so vollkommen, kann in einem alt gewordenen musikalischen Stil das Empfinden eines heutigen Menschen wahrhaftig ausgesprochen werden. Hier liegt das große Verhängnis.
Ich gebe von vornherein zu, daß die katholische Kirche viele Gründe dafür ins Feld führen könnte, wenn sie nur alte Musik in ihren Mauern duldete. Will sie aber das lebendige Schaffen der Menschheit für sich gewinnen, so muß sie dem Musiker von heute zugestehen, daß er in seiner Tonsprache redet. Die Musik von heute ist als Ausdrucksmusik entstanden. In bewußtem Gegensatze zu der wesentlich von formalen Gesetzen beherrschten, in ihrer Ausdrucksfähigkeit durch diese Formen behinderten alten Musik ist die neuere Musik als Aussprache seelischer Empfindungen auf den Schild gehoben worden. Zugegeben, daß sie vielfach einem ebenso äußerlichen Formalismus verfiel wie die ältere. Aber keiner, der diese neuere Musik kennt, kann leugnen, daß in ihr alle Empfindungen der Menschenbrust ihren Ausdruck gefunden haben, also auch die religiösen, und damit doch unter Umständen auch die kirchlichen.
Vielleicht haben wir hier die tiefste Ursache des Problems berührt. Es ist kein Zufall, daß das Problem der katholischen Kirchenmusik erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund trat, und zwar in Deutschland. Es konnte eigentlich überhaupt nur dadurch entstehen, daß die Begriffe religiös und kirchlich sich nicht mehr deckten. Solange für den Menschen die Empfindungen des Religiösen in einer der verschiedenen Kirchen volle Befriedigung fanden, so lange mußte auch alle übrige Umwandlung menschlicher Fühlweise in diesen Kirchen Platz haben; vor allen Dingen auch auf dem Gebiete der Kunst. Denn alle hohe Kunst geht auf dasselbe menschliche Bedürfen zurück, das den Urgrund aller Religion bildet: Erhebung über die materielle Welt. Die Wege aber, auf denen Kunst und Religion diese Erhebung suchen, können grundverschiedene sein. Sie sind es mit Notwendigkeit, wenn die Religion die Erhebung über die Materie durch Überwindung der Welt oder Abkehr von ihr anstrebt. Denn die Kunst kann ihr Ziel nur durch Verklärung, Verschönerung, Erhöhung dieser Welt erreichen; das trifft auch dann zu, wenn die Kunst ganz Ausdruck eines Seelischen ist. Denn die Ausdrucksmittel der Kunst liegen in der sinnlichen Welt. Gerade weil die Kunst ihre Wurzeln in einen so tiefen Urgrund des rein menschlichen Wesens herabsenkt wie die Religion, kann sie nicht – wie man es oft gesagt hat – ihre beste Nährquelle in der Religion finden. Sie kann nur dieselbe Nährquelle haben. In diesem glücklichen Falle befand sich am längsten die Musik. So glänzend die Entfaltung der kirchlichen Baukunst im Mittelalter war, so wunderherrliche Früchte das Bündnis der Malerei mit der Kirche etwa in der Renaissance gezeitigt hat; es liegt doch hier ein Zwiespalt zwischen der der Erde abgekehrten, ja letzterdings weltvernichtenden Religionsauffassung des Mittelalters und dieser Verherrlichung des menschlichen Körpers, in der die Renaissancemalerei durch alle Heiligengewänder hindurch ihr Ziel sieht, oder der wunderbaren Verklärung und Verschönerung der Materie, deren letzte Schweren in der Gotik überwunden sind. Die Musik aber hat nicht umsonst ihre Blütezeit mit dem Beginn des Christentums begonnen. Sie konnte das, weil sie an den andern Künsten gemessen geradezu immateriell ist. Darum zeigt sich dieser Zwiespalt hier nicht, denn alle sinnliche Tonschönheit der Musik kann, wenn diese Musik die Sprache der Seele ist, als Schönheit des seelischen Lebens gedeutet werden.
Nun ist Religion als Abkehr von der Welt nur die eine, jedenfalls einseitige Auffassung des Christentums. Die katholische Kirche hat sich niemals ganz dieser Auffassung verschrieben, auch dann nicht, wenn sie das Mönchstum als den Gipfel religiösen Lebens hinstellte. Darum fand sie auch immer im Gegensatz zu andern Kirchen ein Verhältnis zu allen Künsten. Alle Kirchen bedeuten Materialisierungen des religiösen Lebens; denn sie sind die Regelung und Sichtbarmachung eines völlig geistigen Lebens. Darum stehen sie immer vor der Frage, wie sie die Materie in ihrem Dasein behandeln sollen. Man hätte die im tiefsten Menschentum wurzelnde Sehnsucht nach Schönheit ertöten müssen, wenn sich nicht der Gedankengang hätte einstellen sollen, daß durch möglichste Verschönerung dieser zum kirchlichen Leben notwendigen Materie eine Ehrung Gottes erreicht werde. So versuchte die Kirche die Kunst immer in ihren Dienst zu nehmen. Keine Kunst dient lieber als die Musik. Weil keine inniger mit dem Leben verwachsen kann, weil bei keiner die Wirkung so sehr mit dem Herauswachsen aus dem Leben verknüpft ist wie bei der Musik. Aber natürlich muß man das »Dienen« recht verstehen. Es heißt die Gelegenheit empfangen, heißt die Gesetze der äußeren Verfassung, nicht aber die Gesetze des inneren Seins überkommen. Die Musik empfängt, wenn sie sich mit der Kirche verbindet, von ihr die Gesetze des äußeren Seins; das heißt sie wächst aus kirchlichen Gelegenheiten heraus, sie wirkt im Gottesdienste mit. Da es sich im wesentlichen um Gesangsmusik handelt, empfängt sie von der Kirche die Texte. Die Kirche gibt natürlich ihrer Musik auch den Inhalt. Sie tut das ja schon mit den Texten. Es wäre eine Unwahrhaftigkeit, wenn ein Nichtgläubiger, ein nicht kirchlich gesinnter Mensch Kirchenmusik schriebe. Aber wie sich dem Musiker sein Kirchentum, sein kirchliches Fühlen ausspricht, darüber kann er nur von seinem Inneren die Gesetze erhalten. Wir sehen, der Kampf, in den der Künstler mit der Kirche geraten kann, liegt in der Behauptung der Subjektivität. In der Kunst ist für uns, wie es Goethe aussprach, Persönlichkeit alles. Die Frage spitzt sich also dahin zu: Hat die Kirche Raum für künstlerische Persönlichkeiten? Die Antwort lautet: Sie hat ihn so lange gehabt, als sie sich selber identisch wußte mit dem Begriff Religion. Wir haben von Michelangelo, der sich gelegentlich auch schon vor diesem Konflikt sah, das herrliche Wort: »Alle wahre Malerei ist edel und fromm durch den Geist, in dem sie arbeitet; denn nichts erhebt die Seele des Einsichtigen mehr und zieht sie mehr zur Frömmigkeit, als die Mühe, etwas Vollendetes zu schaffen. Gott aber ist die Vollendung, und wer dieser nachstrebt, strebt dem Göttlichen nach.« So war das natürliche Verhältnis für den Künstler, der in früherer Zeit für die Kirche schuf, daß er das Beste gab, was er zu geben hatte. Erst wenn die Kirche eingesteht, daß man religiöse Kunst schaffen kann, die nicht kirchlich ist, kann sich ein Zwiespalt erheben. Erst dann wird kirchliche Kunst geradezu zu einer Stil-, einer Formfrage. Man kann auch diesem Standpunkte seine Berechtigung nicht absprechen. Kirche bedeutet Gemeinschaft; ihr Gottesdienst ist die Bekundung des religiösen Fühlens dieser Gemeinschaft. Darüber läßt sich logisch die Forderung rechtfertigen, daß die Ausdrucksform dieses Gottesdienstes etwas allgemein Gültiges habe. Aus diesem Grunde fände ich es begreiflich, wenn man zur Kirchenmusik eine Kunst erkürte, die nicht mehr subjektiver Ausdruck ist. Die Kirche hat das selber sehr wohl gefühlt und durch alle Zeiten dem gregorianischen Choral, der schon früh aus dem lebendigen Gefühlsausdruck entschwunden war, den Vorzug gegeben. Geschichtlich war allerdings dieser Choral in seinen Anfängen eine höchst subjektive Gefühlsaussprache. Zweifellos war sodann die kontrapunktische Polyphonie, in der die Einzelstimme nichts ist, wo erst durch das Zusammenwirken mehrerer gleichberechtigter Einzelkräfte das Kunstwerk entsteht, so daß also dieses Ausdruck ist einer Gesamtheit und nur möglich wird durch das Zusammenwirken dieser Gesamtheit, der sinngemäße Stil für den Gefühlsausdruck einer solchen Gesamtheit. Also dieser Standpunkt der Kirche läßt sich rechtfertigen. Aber er schließt in sich den Verzicht auf die Mitwirkung der neueren Musik. Seit dreihundert Jahren ist die Musik Ausdruck subjektiven Empfindens, seitdem beruht die Musik auf der Melodie, und wenn die Musik heute das Empfinden einer Gesamtheit ausdrücken soll, so kann sie es bezeichnenderweise nur durch eine einstimmige Melodie.
Ein Blick auf den dick angeschwollenen Cäcilienvereinskatalog zeigt, daß man auch in neuerer Zeit zu diesem Verzicht auf eigenes Schaffen in der Kirchenmusik nicht entschlossen ist. Die Untersuchung der Kompositionen aber ergibt das traurige Ergebnis, daß auch zweifellos stark veranlagte Komponisten unter diesem Zwang entweder dem Epigonentum verfallen oder an dem inneren Widerspruch zwischen modernem musikalischen Hören und dem Charakter der zumeist dem Choral entnommenen Grundmotive scheitern. Immerhin ist die Hoffnung nicht ausgeschlossen, daß gerade aus der Neubelebung der Kontrapunktik, wie sie in die moderne Musik zunächst auf einem mehr geistigen Wege eingedrungen ist, vielleicht auch wieder eine gesunde Erneuerung der katholischen Kirchenmusik herauswächst. Das Verhalten gegenüber den Oratorienkompositionen Perosis und Hartmanns beweist, daß der Wunsch nach einer solchen Erneuerung in kirchlichen Kreisen wohl vorhanden ist, wenn er auch vielleicht zurzeit bei der ausgesprochenen Vorliebe des regierenden Papstes für den Choral wieder mehr zurückgetreten ist.
Von diesen Konflikten haben die Komponisten bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein nichts gewußt, obwohl der geschichtliche Werdegang die Entwicklung einer Stilgegensätzlichkeit für kirchliche und weltliche Musik begünstigt hatte. Wir haben ja die merkwürdige Erscheinung, daß die Anfänge der modernen, auf den subjektiven Melodieausdruck begründeten Musik mit der höchsten Blütezeit der kontrapunktischen Polyphonie zusammenfallen. Während man früher in diesem herrschenden kontrapunktisch-polyphonen Stil, der durchaus in und von der Kirche lebte, ohne Bedenken auch alle weltliche Musik geschaffen hatte, so gewann die neue Stilweise jetzt sofort in der Welt die Herrschaft. Um so mehr mochte man dann angesichts der strahlenden Vollkommenheit der Kirchenmusik eines Palästrina und Orlando di Lasso zur Überzeugung gelangen, daß hier der passende Stil der Kirche sei, als die neue weltliche Musik sich, wenigstens in Italien, vorzugsweise dem Theater angliederte. In der Tat sehen wir bei den Komponisten des 17. Jahrhunderts fast durchweg ein scharfes Auseinanderhalten der beiden Schreibweisen, je nachdem sie für die Kirche oder für die Welt schufen. Doch war das natürlich nur so lange mit wahrhaftiger Künstlerschaft vereinbar, als beide Stilweisen als lebendige Ausdrucksformen empfunden werden konnten. Das verlor sich zusehends noch im 17. Jahrhundert, wenigstens soweit die Empfindung für die alten Tonarten in Betracht kommt. Dagegen vermochte man sehr leicht die Formgebilde des alten Stils beizubehalten, da sich diese ebensogut mit den Mitteln der neuen Musik gestalten ließen. Die nächste Stufe der Entwicklung ist denn auch in der Tat die, daß man in gewissen Formen, zumal des fugierten oder auch streng kontrapunktischen Satzes die Kirchlichkeit sah. Das war ein Irrtum, denn auch hier vermochte erst der Geist zu beleben. Wir brauchen zum Beleg nur daran zu erinnern, daß manche neueren Komponisten gerade in den Formen der Fuge oder einer möglichst prägnant geführten Kontrapunktik scharfkomische Wirkungen auslösten (z. B. Berlioz' Amen-Fuge).
So vermochte denn auch dieses äußere Stilgefühl nicht lange dem sieghaften Ansturm der neuen Musik standzuhalten. In Italien, wo das ganze Leben Öffentlichkeitsleben ist, wo die Religiosität sich doch mehr in der äußeren Betätigung eines wiederum ganz öffentlich gehaltenen Kirchentums erschöpft, vollzog sich die Annäherung der Kirchenmusik an die weltliche fast kampflos, obwohl es natürlich an theoretischen Verfechtern der Vorrechte der alten Schreibweise nicht gefehlt hat. Sie vermochten aber nicht zu verhindern, daß, rein musikalisch betrachtet, die italienische Kirchenmusik sich bald von der gleichzeitigen Opernmusik nicht mehr unterschied. Der Unterschied lag jetzt nur im Geiste: ob die betreffenden Komponisten religiöses oder auch kirchliches Empfinden genug besaßen, um dem Ernst und der Würde des Ortes Rechnung tragen zu können.
Was so in Italien nicht nur natürliche Kunstentwicklung, sondern auch volle Befriedigung des Volksempfindens war, mußte in Deutschland in Widerspruch mit dem Volkscharakter geraten. War und blieb die italienische Opernmusik für Deutschland ein fremdes Gebilde, gegenüber dem das einheimische Verlangen nach dramatischer Musik sich noch lange nicht wirksam durchzusetzen vermochte, so fand sich für die weltliche Musik doch bald ein Ersatz durch die dem eigenen Fühlen gemäß entwickelte Instrumentalmusik und das langsame Heranblühen des Liedes. Verhängnisvoll aber war es, wenn nun auch die Kirchenmusik jenem fremdländischen Charakter anheimfiel. Was der lebhafteren Natur des Südländers als ernst und würdig erscheint, wirkt auf den Deutschen infolge der sinnlichen Schönheit der Formgebung, die dem Südländer unentbehrlich ist, sehr leicht als gefällig, als vorab sinnlich. Und so ist es leicht erklärlich, daß für deutsches Empfinden diese ganze Kirchenmusik auch dort, wo sie sich ernster Würdigkeit befleißigt, den Eindruck der Weltlichkeit macht. Es ist auch nicht zu leugnen, daß diese Kirchenmusik den Hang zur Weltlichkeit, der in der Zeit lag, auch noch an der Stelle unterstützte, wo eine ernste Lebensauffassung, eine Gegenwirkung gegen die überhandnehmende Sinnenlust der Zeit Gebot war. Ferner mußte auch für die deutschen Komponisten diese ganze Art der Kirchenmusik viel eher formelhaft werden, als sie dem Wesen deutscher Religiosität nicht leicht entsprechen konnte. Das ist um so verhängnisvoller geworden, als dank dem außerordentlichen Bedarf gerade in der Kirchenmusik der Musikhandwerker viel leichter zu Bedeutung gelangt als auf anderen Gebieten, etwa in der Oper, wo eine viel schärfere Kritik und viel strengere Auswahl durch die Verhältnisse herbeigeführt wird.
Wir wollen also hier die Entwicklung, die die katholische Kirchenmusik zumal in Deutschland im 18. und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahm, keineswegs beschönigen. Aber gerade darum müssen wir um so lauter betonen, daß Mozart gezeigt hat, daß innerhalb dieser Musikformen ein tiefes religiöses Fühlen sich ausdrücken ließ. Und an einzelnen seiner Werke, vor allem aber an zahlreichen Stellen in diesen Werken, ist überzeugend nachzuweisen, wie sich eine dem heutigen Leben entsprechende katholische Kirchenmusik hätte entwickeln können. Es bleibt in diesem Sinne ein Unglück, daß Mozart nur in seinen Jünglingsjahren Kirchenmusik geschaffen hat, wobei er noch überdies durch die äußeren Verhältnisse arg eingeengt, ja vielfach in die falsche Bahn hineingezwungen wurde.
Auch Mozart war ein Kind seiner Zeit und es ist klar, daß diese Zeit auch auf das Wesen der Religiosität und damit der Kirchlichkeit Einfluß hatte. Im 18. Jahrhundert war wohl als Rückwirkung gegen die jahrhundertelangen kirchlichen Streitigkeiten und Kämpfe eine Zeit angebrochen, die von einer kämpfenden Kirche nichts wissen wollte. Gewiß war im allgemeinen die ganze Zeit oberflächlich eingestimmt, weniger religiös, und die heitere Sinnlichkeit der Lebensführung verdeckte nur schwach die Unsittlichkeit der gesamten Lebensgrundlage. Trotzdem hat es auch in dieser Zeit nicht an wahrhaft religiösen Menschen gefehlt, und diese gingen jetzt noch durchweg im Kirchentum auf; vielleicht gerade deshalb, weil diese Kirche nirgendwo die Schroffheiten betonte. Die ernst zu nehmende Gegnerschaft gegen das Kirchentum war in dieser Zeit immer Atheismus. Wie sich die allgemeine Irreligiosität mit den kirchlichen Formen abfand, so fühlte auch die wahre Religiosität keinen Zwang durch das Dogma und die Regelung des religiösen Lebens in den kirchlichen Formen. Gerade dieser Untergrund einer kampflosen Stimmung ist besonders günstig für das Herauswachsen einer naiv kirchlichen Kunst.
Mozart war eine tiefe religiöse Natur. Man hat allgemein eine ganz falsche Vorstellung von seiner Heiterkeit. Diese war nicht Ausgelassenheit, sogar nicht einmal Lustigkeit im gewöhnlichen Sinne, sondern Empfindungsseligkeit. Sein ganzes Wesen stand in Harmonie mit der Welt, nicht aus Oberflächlichkeit, sondern aus Tiefe. Man muß in seinen Briefen nachlesen, wie er bereits als Jüngling mit dem Gedanken des Todes nahezu befreundet ist, wie ihm die Mühen und Heimsuchungen des irdischen Lebens als das eben Unvermeidliche den aus Gott- und Weltfreudigkeit geborenen Frieden nicht zu trüben vermögen, um diese Heiterkeit richtig einzuschätzen. Es ist etwas in der neueren Kunst sonst kaum Vorhandenes: das völlige Fehlen des Prometheischen, Titanischen, Faustischen. Man muß sich gegenwärtig halten, daß Goethe trotz der wunderbaren Fähigkeit zur Freude und Schönheit, mit der er geboren war, bereits als Jüngling seinen Prometheus schafft und die Faustidee gebiert, um das merkwürdige Phänomen seines Zeitgenossen Mozart richtig einzuschätzen, der wie Goethe alle Erscheinungen der Welt aus liebevollem Mitempfinden heraus begriff und dennoch in keinen Widerspruch, in keine Auflehnung gegen die Welt geriet. Ich glaube, daß seit den Tagen des Christentums nur innerhalb der katholischen Kirche diese Erscheinung möglich geworden war. Von Kind an aufgewachsen sein, in einem Glauben, der das Verhältnis der Menschen zu Gott und zueinander regelt; in dem Glauben, daß die Kirche die gottgewollte Einrichtung ist; ohne Zwang von dem darin gleichgestimmten Vater in der Auffassung bestärkt werden, daß die keineswegs übersehenen Fehler an der Kirche und ihren Dienern nicht auf dieser göttlichen Institution, sondern auf der Mangelhaftigkeit ihrer Träger beruhen; niemals von seiten des Verstandes aus in Zwiespalt geraten mit den Lehren; endlich mit einer Freudigkeit der Sinne begabt sein, die die wunderbare Ausbildung des kirchlichen Festewesens aufs tiefste empfindet: das ist eine Herzens- und Gemütsanlage, aus der heraus eine Kunst erblühen kann, die einerseits der rein persönliche Ausdruck des subjektiven Empfindens eines solchen Menschenkindes ist, und andererseits doch auch für die gesamte Menschheit die ideale Form des Bekenntnisses ihrer freudigen Gotteskindschaft bedeuten kann.
Mozart hat noch in späteren Jahren für diese Einstellung seines Empfindens zur katholischen Kirche Zeugnis abgelegt. Joh. F. Rochlitz (1769–1842), der bekannte Musikschriftsteller, berichtet das Begebnis, wahrscheinlich nicht in jedem einzelnen Wort getreu, aber der Hauptsache nach sicher wahrheitsgemäß. »Mozart war im Jahre 1789 in Leipzig. ›Unersetzlicher Schade,‹ sagte einer, ›daß es so vielen großen Musikern, besonders der vorigen Zeit, ergangen ist wie den alten Malern, daß sie nämlich ihre ungeheuren Kräfte auf meistens nicht nur unfruchtbare, sondern auch geisttötende Sujets der Kirche wenden mußten.‹ Ganz umgestimmt und trübe wendete sich Mozart hier zu dem andern und sagte, dem Sinne nach, obschon nicht auf diese Weise: ›Das ist mir auch einmal wieder so ein Kunstgeschwätz! Bei euch aufgeklärten Protestanten, wie ihr euch nennt, wenn ihr eure Religion im Kopfe habt, kann etwas Wahres darin sein, das weiß ich nicht. Aber bei uns ist das anders. Ihr fühlt gar nicht, was das heißen will: Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem! Aber wenn man von frühester Kindheit, wie ich, in das mystische Heiligtum unserer Religion eingeführt ist; wenn man da, als man noch nicht wußte, wo man mit seinen dunkeln, aber drängenden Gefühlen hin sollte, in voller Inbrunst des Herzens seinen Gottesdienst abwartete, ohne eigentlich zu wissen, was man gehabt habe; wenn man diejenigen glücklich pries, die unter dem rührenden Agnus Dei hinknieten und das Abendmahl empfingen und beim Empfang die Musik in sanfter Freude aus dem Herzen der Knienden sprach: Benedictus qui venit usw., dann ist's anders. Nun ja, das geht dann freilich durch das Leben der Welt verloren, aber – wenigstens ist's mir so – wenn man nun die tausendmal gehörten Worte nochmals vornimmt, sie in Musik zu setzen, so kommt das alles wieder und steht vor einem und bewegt einem die Seele.«
Man kann das Urteil dahin zusammenfassen, daß Mozart keineswegs die religiöse, ja ausgesprochen kirchlich-katholische Gesinnung abging, aus der eine nach Form und Inhalt echte Kirchenmusik hätte hervorgehen können. Daß der Katholizismus damals eine andere Grundstimmung besaß als heute, beweisen zahlreiche Männer, deren Andenken nicht nur die Geschichte des deutschen Geistes, sondern auch die der katholischen Kirche hochhalten muß. Für diese Zeit einer durchaus irenischen kirchlichen Gesinnung, einer den Schwerpunkt in die Gefühlsseite des Religiösen verlegenden Andächtigkeit war Mozart mit seinem adeligen und tiefen Empfinden der geeignete Mann. Daß ihm, gleich Raffael, die Not und das Elend des Lebens hinter der Schönheit verschwand, gibt seiner Kunst mit ihrer doch nicht umsonst als »göttlich« bezeichneten Heiterkeit die Kraft, zu läutern und zu erheben, den Alltag in uns abzutun.
Mozarts Fehler, die Ursache, weshalb es ihm nun trotzdem nicht gelang, in dieser Zeit kirchenmusikalische Werke von unantastbarer Bedeutung zu schaffen, ist seine Jugend. Er war noch zu jung, um die überlieferten Werte kritisch daraufhin zu untersuchen, ob sie sich überhaupt für Kirchenmusik eigneten oder nicht. So schuf er innerhalb der üblichen Formen, und diese widerstreiten vielfach dem kirchlichen Charakter. Aber es ist nicht zu leugnen, daß vor allem die Messen in F- und D-dur aus dem Jahre 1774 zum mindesten Versprechungen einer wunderbaren Kirchenmusik im neuen Geiste sind, die wir bis heute nicht erhalten haben, und zwar nach den Richtungen der großartigen Feierlichkeit und der anmutigen Andacht hin. Bezeichnend ist es auch, wie Mozart in den ihm vorliegenden Texten die gefühlsmäßigen Stellen ihrer innersten Bedeutung nach erfaßt hat, während er gegenüber dem mehr Abstrakten und Symbolischen versagte. Auch darin offenbart sich die Jugendlichkeit des ja kaum Zwanzigjährigen. Daß fast alle übrigen Kirchenkompositionen Mozarts nicht auf der Höhe der beiden Messen stehen, daß sie dem Zeitgeschmack, ja sogar den persönlichen Wünschen des Erzbischofs nachgingen, kann ruhig zugegeben werden. Aber es kommt uns ja auch gar nicht darauf an, die Kompositionen Mozarts selber etwa für den heutigen kirchlichen Gebrauch zu retten, sondern nur auf den Weg hinzuweisen, auf dem eine neue, wirklich künstlerisch lebendige katholische Kirchenmusik geschaffen werden könnte. Ihn hat Mozart zweifellos gewiesen. Und darin liegt seine große Bedeutung auf diesem Gebiete. Daß er uns außerdem in seinen letzten Lebensjahren im »Ave verum« und im »Requiem« wunderbare Zeugnisse einer kampflosen, gottgläubigen und gottfreudigen Religion gegeben hat, ist gerade in der deutschen Geistesgeschichte von außerordentlicher Bedeutung. Denn die Geschichte des deutschen religiösen Gefühls spricht gerade im 19. Jahrhundert fast immer von Kampf und Zweifel, vom Ringen um Gott, und kommt in diesem schweren Kampfe fast nie von der Erde weg, während Mozart den Blick in den Himmel erschließt.
Auf Mozarts übrige Kompositionen aus dieser Zeit soll hier nicht eingegangen werden. Wir haben seine Bedeutung für Instrumentalmusik und Oper später im Zusammenhang zu würdigen.
Hinsichtlich der Oper sei aber doch schon an dieser Stelle ein Irrtum berichtigt, der sich bei der wahrheitsgetreuen biographischen Darstellung von Mozarts Entwicklung leicht einschleichen kann, der denn auch durch die musikgeschichtliche Wissenschaft lange unterstützt worden ist. Aus der Tatsache, daß Mozart als Knabe mit seinen Opern neben den bewährtesten Komponisten seiner Zeit zu bestehen vermochte, ist man vielfach zu einer Überschätzung dieser Arbeiten Mozarts gelangt. Dazu verhalf dann noch die Unterschätzung der gesamten italienischen Oper, die hauptsächlich dadurch verursacht war, daß eigentlich nur die spätere neapolitanische Oper zum Vergleich herangezogen wurde, daß überhaupt die italienische Opernliteratur des 18. Jahrhunderts unseren Musikhistorikern nur wenig bekannt war. Je mehr in neuerer Zeit diesem Übelstande abgeholfen worden ist, um so höher steigt die Schätzung der älteren italienischen Oper, um so deutlicher erkennt man, daß Mozarts dieser Richtung angehörige Werke keineswegs den Gipfel dieser Gattung bedeuten. Er war dazu auch viel zu jung, und es ist erstaunlich genug, daß er sich der formalen Seite dieser ganzen Kunst in so erstaunlicher Weise zu bemächtigen vermochte. Auch für die herrlichen Meisterwerke Mozarts erkennen wir aus dieser Betrachtung der italienischen Oper – für den vorliegenden Zusammenhang bietet sie meisterhaft Hermann Kretzschmars Abhandlung »Mozart in der Geschichte der Oper« (Jahrbuch der Musikbibl. Peters 1905) – daß sie nicht so außer allem Vergleich stehen, wie man das oft angenommen hat. Wir dürfen auch hier ruhig auf Raffael hinweisen und wollen uns daran erinnern, daß die Spitze einer Pyramide zwar der höchste Punkt ist, daß ihr aber andere Stellen des riesenhaften Bauwerks ganz naherücken. Man kann für die wunderbare Melodiebildung Mozarts zahlreiche Seitenstücke aus den Werken italienischer Komponisten heranziehen. Er selber hat auch keineswegs so verächtlich auf diese hinabgeschaut wie viele seiner Biographen.
Trotzdem ist Mozarts Stellung in dieser Opernentwicklung einzigartig, und zwar auch hier dank seinem wunderbar tiefen Empfinden, dank der einzigartigen Liebefähigkeit seiner Natur. Durch diese Liebefähigkeit wurde Mozart auch zum Herzenskenner, zum Herzenskündiger. So seltsam es im ersten Augenblicke klingen mag, es ist doch Tatsache, daß er eine Shakespeare-Natur war. Und zwar shakespearisch rein in der Musik. Nur aus einer solchen Natur aber vermag Musik dramatisch zu arbeiten, nur für eine solche Natur entwickelt sich das eigentlich Dramatische innerhalb der Musik. Bislang war auch in den vollendetsten italienischen Opern, ebenso bei Gluck, die Musik zum Drama hinzugetreten. Das Höchste, was die Musik in dieser Richtung erreicht hatte, war die Fähigkeit, zu charakterisieren: Situationen, einzelne Worte, Charaktere. Aber sie trat an etwas Fertiges heran; sie schuf nicht erst mit ihren eigenen Mitteln Menschen und Geschehnisse. Erst durch Mozart gewann sie die Kraft, zu individualisieren. Da die Musik die Sprache des Gefühls ist, muß sie nicht nur die verschiedenen Gefühle, sondern auch die verschiedenen Gefühlsweisen ausdrücken können. Die Darstellung dieser Fühlweise, der Empfindungsweise, der Gesinnung aber bedeutet Offenbarung des inneren Menschen. Und das ist echte Musikdramatik, nur durch Musik völlig auszudrücken. Daher bei Mozart von allem Anfang an die Unmöglichkeit einer völligen Trennung von komisch und ernst. Die Menschen, die er uns vorführt, leben ihr ganzes Empfinden aus. So einen sich ernste, ja tragische Töne dem heitersten Spiel. Daß sich dieser Zug in Mozarts Jugendopern bereits ankündigt, darin liegt ihre große Bedeutung. Das war es vielleicht auch, was in einzelnen bedeutenden zeitgenössischen Künstlern, wie Hasse, die überschwenglichen Urteile hervorgerufen hat, von denen wir berichtet haben.
Es ist bezeichnend, daß sich dieser Zug auch in Mozarts Instrumentalmusik offenbart. Auch hier hat er das kantabile Element in die Allegrosätze der Sinfonie, des Konzerts eingeführt. Es gibt für ihn eben nichts, wo nicht das Herzensfühlen das Recht hätte, sich auszusprechen. Und schon jene erste Sinfonie, die er als achtjähriger Knabe geschrieben, zeigt in ihrem Hauptthema neben der charakteristischen Beweglichkeit und Feurigkeit die tiefe, fast melancholische Empfindung.
So erkennen wir in den Jugendwerken Mozarts deutlich die Elemente, deren wunderbar harmonischen Ausbildung und wechselseitigen Durchdringung wir seine Einzigartigkeit innerhalb der deutschen Kunst, ja innerhalb der Kunst der ganzen Welt verdanken. Da seine Meisterwerke in jene spätere Zeit fallen, in der die deutsche Kunst durch die Literatur ein scharfes und neuartiges Gepräge erhalten hatte, fühlen wir nicht deutlich genug, daß sich in Mozarts Musik zum einzigen Male die Kräfte ganz verschiedener Kulturperioden glücklich vereinigt haben. Vielleicht war das gerade in Deutschland nur in der Musik möglich. Diese Musik hat unter den schweren Heimsuchungen, denen unser Vaterland ausgesetzt war, niemals so arg gelitten wie die Literatur. Und auch später konnte sie an dem Geisteskampfe nicht teilnehmen, der zur Befreiung führte. So war es bei ihr dann möglich, daß die Kräfte zweier sonst so entgegengesetzter Zeitalter nebeneinander wirksam sein konnten: indem die sinnlich-frohe, ritterlich-adlige Rokokolustigkeit neben der weltschmerzlerischen Wertherstimmung stand, und beide durch die lyrische, aus der Tiefe heraufströmende Sehnsucht, wie sie aus dem lange unterdrückten Bürgertum Deutschlands herausgewachsen war, verbunden wurden. So enthält Mozarts Kunst ein Element, das auch Goethes glücklichste Lyrik nicht besitzt: das der ganz apollinischen Heiterkeit. Die echt deutsche Lyrik hatte nur durch die Überwindung der Anakreontik geboren werden können. Mozarts Musik aber einigte beide Elemente. Die Verbindung wäre vielleicht nur äußerlich, nur formal geblieben, wenn nicht das Leben dem Komponisten jene Kämpfe gebracht hätte, aus denen der Mensch erst die wahre Reife gewinnt, von denen aber Mozarts Kunst nicht kündet, außer durch die Tiefe und würdevolle Heiterkeit, die erst der Sieg verleiht.