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Ich war von dem Staatspräsidenten bis auf weiteres entlassen. Eine leere Stunde, eine Stunde des Wartens lag vor mir. Ich konnte sie nicht im Gespräch mit gleichgültigen dritten Menschen, an einem gleichgültigen Ort verbringen. Dazu war ich viel zu erregt. In mir war eine leises inneres Grauen, das mir bis dahin Gott sei Dank noch immer in meinem Beruf erspart geblieben war: Sollte sich die Anklage trotz des klaren, freiwilligen Geständnisses der Angeklagten, trotz der erdrückenden Beweise geirrt haben?
In seelischen Nöten habe ich nur einen einzigen Menschen, zu dem ich mich flüchten kann: Das ist meine liebe Frau. Zu ihr fuhr ich heim. Sie hatte auf mich gewartet. Sie hatte auf alle Fälle Abendbrot bereitgestellt. Sie saß neben mir. Tiefer Frieden umfing mich, nach der Unrast draußen: Weib und Kind. Das Beste auf der Welt.
Die Kinder waren natürlich längst zu Bett. Aber die Racker schliefen nicht. Die hatten Pappis Stimme nebenan gehört. Auf einmal kommt wie ein kleines weißes Gespenst der Hemdenmatz, das Paulemännchen, herein, krabbelt mir auf den Schoß, macht es sich bequem und fragt:
»Pappi! Habt ihr die böse Frau jetzt totgemacht?«
»Nein, Kind! Die Frau lebt!« sagte ich. Und Klara, unwillig zu dem kleinen Mann:
»Du sollst nicht ›böse Frau‹ sagen! Ich habe es euch schon einmal verboten! Und nun, marsch ins Bett zurück.«
Sie verstaute den Stammhalter nebenan in den Kissen. Als sie zurückkam, war ihr Gesicht wieder klar und heiter wie sonst. Sie nahm wieder neben mir Platz und fuhr mir leise mit der Hand über meine roten Stoppeln. Denn sie merkte wohl, daß mir unterdessen Vieles und Wirres durch den Kopf ging, und allmählich strömte aus ihrer inneren Ruhe etwas in mich über. Ich schaute ihr in ihr liebes, immer noch ein wenig mädchenhaftes Gesicht, in dem soviel Hingabe und doch auch wieder soviel Selbständigkeit eines ichbewußten Menschen lag. Ich fühlte eine sonderbare, mir ungewohnte Traurigkeit.
»Wenn ich in deine blauen Augen sehe, Klara«, versetzte ich, »dann möchte ich dich immer beneiden, wie du mit diesen reinen Augen die Welt ansiehst. Während ich ... «
»Wenn man nicht an das Gute im Menschen glaubt«, sagte meine Frau, »dann ist die Welt trostlos. Da möchte ich nicht leben!«
»Darf ich denn an das Gute glauben?«
»In deinem Amt gewiß nicht. Da siehst du das Niedrige und Schlechte und verfolgst es kraft deiner Pflicht. Aber das ist doch nur ein Bruchteil, Hans – die Entarteten und Willensschwachen und erblich Belasteten, mit denen du zu tun hast!«
»Für mich sind sie nun einmal das tägliche Brot ... «
»... und wir anderen haben diesen Teil der Menschheit bisher viel zu wichtig genommen und für höchst interessant gehalten und als unseresgleichen betrachtet oder womöglich als noch mehr, als merkwürdige Ausnahmefälle. Davon müssen wir uns frei machen und sind auf dem Weg. Wir müssen wieder den derben, selbstverständlichen Willen zur Gesundheit haben! Du auch, Hans, wenn du aus deinem Gerichtsgebäude trittst!«
Sie wandte mir ihren blonden Kopf zu und hatte ein rechtes sonniges Lächeln.
»Denn da draußen ist doch erst das wirkliche Leben!« sagte sie. »Das große herrliche deutsche Leben. Das war uns ja allmählich ganz fremd geworden. Das haben wir jetzt wieder entdeckt, das wächst jetzt wieder und wird!«
Nach ihrer Gewohnheit warf sie, in ihrer unbeirrbaren inneren Selbständigkeit, den Kopf in den Nacken, und fuhr fort:
»An das deutsche Leben glaube ich – nicht an euer Häuflein armer Sünder, mit denen wir vielzuviel Wesens gemacht haben, und den Gesunden und den Treuen hat man damit unrecht getan. Und für dieses deutsche Leben erziehe ich unsere Kinder!«
»Und weil ich so bin«, setzte sie nach einer Weile hinzu, »glaube ich nicht an die Schuld der Margot Sandner! Und mir scheint, du glaubst jetzt auf einmal auch nicht mehr so steif und fest daran!«
»Es wäre furchtbar, wenn wir uns geirrt hätten ... «, murmelte ich.
»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen!« sagte Klara. »Sie hat den Irrtum – einen Irrtum – dafür lege ich die Hand ins Feuer – ja mit allen Kräften selbst erzeugt. Sie ist eine leidenschaftlich suchende Seele, die, Gott weiß, warum, den Ausweg aus der Welt sucht. Sie ist das Opfer – nicht dein Opfer – sondern ihrer selbst!«
»Aber der Spruch ist über sie gefällt!«
»Es ist ja noch Zeit, ihn gutzumachen!«
»Ja – Gott sei Dank!« Ich sah auf die Uhr. Es war fast eine Stunde vergangen. Unten wartete mein Wagen. Und in diesem Augenblick läutete der Fernsprecher. Ich ging selbst hin. Mein Assessor Fabri war am Apparat. Noch kürzer von Atem wie gewöhnlich.
»Der Kohlentrimmer De Poorter ist eben draußen auf dem Flugplatz gelandet und wird in einem Auto ins Ministerium gebracht. In ein paar Minuten ist er da!«
Ich küßte Klara. Ich eilte die Treppe hinab. Ich sprang in den Wagen. Ich gab Befehl, so schnell wie möglich zu fahren. Selbst ich, der Staatsanwalt, konnte es ohne polizeiliche Bedenken. Denn die Straßen waren jetzt, wo es auf Mitternacht ging, fast menschenleer. Erst in der Innenstadt begannen sie sich zusehends und in ungewohntem Getriebe zu beleben, und vor dem Ministerium standen nach wie vor unentwegt die dunklen Menschenmauern.
Ich drängte mich durch. Ich trat bei dem Herrn Staatspräsidenten ein. Der Verteidiger Dr. Morell war schon da und eine ganze Reihe höherer Beamter. Aber der fliegende Holländer noch nicht. Er mußte sich unterwegs vom Flugplatz in die Stadt irgendwo aufgehalten haben – jedenfalls nur mit Genehmigung des Wachtmeisters, der ihn draußen abgeholt hatte und begleitete.
Statt seiner erschien der Arzt von der Rettungswache. Die Luise Heidebluth sei nun zu sich gekommen, aber noch sehr schwach. Es sei zu befürchten, daß bei einer sofortigen Vernehmung ihr wieder blümerant würde. Man warte besser noch eine Weile zu.
Es wäre jetzt auch gar keine Zeit mehr zu einem Verhör gewesen. Denn unten auf dem Platz entstand ein plötzlicher Lärm. Es mußte sich schon irgendwie herumgesprochen haben, daß eine Wendung der Dinge bevorstand. Eine Kraftdroschke bahnte sich langsam, Schritt für Schritt, ihren Weg durch die aufgeregte, neugierig in das dunkle Innere starrende Menge. Gleich darauf wurde gemeldet, der Zeuge sei draußen.
Er wurde hereingeführt. Es war ein untersetzter, vierschrötiger Mann von etwa vierzig Jahren, mit einem gebräunten, bartlosen, pockennarbigen Gesicht, mit kleinen blinzelnden Augen und schadhaften Zähnen. In den Ohrläppchen hatte er zwei dünne messingene Ringe. Er trug, zu einem Schal um den bloßen Hals, ein dunkelblaues Wollwams, alte schwarze Hosen, hohe Seemannsstiefel und eine dunkle Schirmkappe. Die hielt er, als er sich schwerfällig auf eine Aufforderung hinsetzte, zwischen seinen mächtigen, blau tätowierten Fäusten.
Schon bei seinen ersten Worten zeigte es sich, daß er, ein Holländer, die deutsche Sprache zwar kannte, aber doch mit ihr auf Kriegsfuß stand. Schriftlich hätte er sich in ihr gar nicht ausdrücken können. Ich habe daher seine Aussage, in seiner Sprechart, mitstenographiert, zusammen mit den Fragen des Herrn Präsidenten und den Erläuterungen eines in Eile herbeigerufenen Dolmetschers, der, wo es nötig war, eingriff.