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31.
Aufzeichnung des Staatsanwalts Dr. Sigrist

Als die Luise Heidebluth in jener Nacht noch halb betäubt und schwankenden Ganges, aber sichtlich durch ihr Geständnis von einer schweren Seelenlast befreit, den Saal verlassen hatte, um sich auf freiem Fuß in ihre Wohnung zu begeben, da merkte ich an dem milden und abgeklärten Gesichtsausdruck, mit dem der Herr Staatspräsident aus seinem Sessel heraus ihr nachblickte, daß dank seiner Altersweisheit die Sühne für ihre Eidverletzung glimpflich ausfallen und in Strafaufschub oder Straferlaß enden würde.

Die Heidebluth und Daniel Nottebohm waren für uns hier Versammelte erledigt. Sie schieden aus dem Kreis der Verdächtigen aus. Gab es überhaupt Verdächtige? Um uns war die große Leere. Vor uns stand in der dunkeln, unruhig vom Volkslärm unten bewegten Nacht dunkler denn je der Fall Sandner.

Ich schwieg eine Weile und dachte nach. Dann sagte ich zu den Anwesenden:

»Das Ergebnis dieser Nacht ist bisher nur: Es ist möglich, daß es wirklich einen grauen Herrn in unserer Stadt gibt!«

»Es ist nachgewiesen! Ich lege meine Hand dafür ins Feuer!« rief leidenschaftlich der Rechtsanwalt Paul Morell.

»Bitte, unterbrechen Sie mich nicht, Herr Doktor! ... Einwandfreie Zeugen wollen einen ältlichen Herrn beobachtet haben, der als nächtlicher Besucher, wo er hinkam, den Tod oder ein Unheil hinter sich ließ!«

»... so auch in der Villa Sandner!« Dr. Morell ließ sich nicht hemmen. »Drei Leute haben diesen Schicksalsboten dort eintreten sehen! Wie? Fragwürdige Persönlichkeiten? Gerade diesen Primitiven liegt jede Erfindungsgabe fern. Sie können nur das uns sagen, was sich wirklich vor ihren Augen abgespielt hat!«

»Nehmen wir, laut diesen Zeugen, an, der graue Herr sei vor dem Schuß in das Haus eingetreten«, sagte ich. »Nach dem Schuß wurde er in dem Haus nicht gefunden. Verlassen kann er das Haus nicht haben! Was den Vordereingang betrifft, so haben wir da zwei klassische Zeugen – die beiden Schutzleute, die unmittelbar nach dem Schuß das Haustor besetzten. Und die fest verwahrte und verschlossene Rückseite der Villa – auch da haben wir die seinerzeit gerichtlich beeidete Aussage einer absolut objektiven und glaubwürdigen Augenzeugin!«

Ich wandte mich zu Dr. Morell.

»Es ist zwar an sich ganz unnötig, es dient nur meiner eigenen Gewissensberuhigung«, sagte ich. »Bei der Vernehmung Ihrer Frau Gemahlin vor einigen Stunden war von einem grauen Herrn noch nichts bekannt. Ich möchte auf alle Fälle Ihre verehrte Gattin noch fragen, ob sie irgend etwas von diesem Schemen weiß. Aber wahrscheinlich hat sie sich schon lange zur Ruhe begeben!«

»Nein«, antwortete der Rechtsanwalt Morell. »Ich habe meine Frau angewiesen, sich heute nacht als Zeugin zur Verfügung der Behörden zu halten, falls sie noch einmal gebraucht würde, wie das ja nun der Fall ist. Sie ist in einer befreundeten Familie in der Nachbarschaft, hier gerade um die Ecke. Sie kann jeden Augenblick geholt werden!«

Es dauerte auch wirklich nur kurze Zeit, bis Frau Lisbeth Morell eintrat und uns in ihrer damenhaften Kühle mit einer leichten Kopfneigung begrüßte. Diese Frau brachte etwas Nüchternes in das stille, kalte Fieber, das uns Anwesende alle – wir mochten es wahr haben oder nicht – durchpulste. Es haftete an ihrer Persönlichkeit. Sie war in ihrer Art an sich unzweifelhaft ganz hübsch, aber alles an ihr wirkte bläßlich. Die blonden Haare. Die blauen Augen. Keine Spur von Temperament. Doch für eine Zeugenaussage war solch ein ruhiges, philiströses Naturell ja gerade von Wert.

»Bitte, nehmen Sie Platz, gnädige Frau!« sagte ich. »Ich muß Sie leider noch einmal bemühen!«

»Oh, bitte: wenn ich der armen Margot irgendwie helfen könnte – oder meinem Mann bei ihrer Verteidigung! Aber was ich weiß, habe ich ja schon alles gesagt.«

»Sie wurden nach einem nicht gefragt: Kennen Sie einen grauen Herrn?«

Lisbeth Morell sah mich verständnislos an.

»Was für einen grauen Herrn?«

»Sie haben nie etwas von ihm gehört oder gesehen?«

»Ich weiß nicht, wen Sie meinen!«

»Ich fragte auch nur, weil Sie Frau Sandners nächste Freundin sind und Frau Sandner in der Villa in jener Nacht diesen grauen Herrn gesehen haben müßte und Ihnen vielleicht schon früher einmal von solch einem Mann erzählt haben könnte? Besinnen Sie sich, bitte: hat sie das vielleicht doch einmal getan?«

»Nein. Nie. Wenn mit so jemand etwas Besonderes gewesen wäre, hätte es mir die Margot sicher erzählt. Die Margot hatte keine Geheimnisse vor mir.«

»Eine Frage, gnädige Frau! Sie standen in jener Nacht am Parkgitter, vor sich die Rückseite der Villa, und sahen, kurz vor elf Uhr, wie Leopold Sandner an einem hell erleuchteten Fenster zu ebener Erde stand und den Vorhang vorzog?«

»Ja, gewiß!«

»Etwas später, nach elf Uhr, sahen Sie hinter dem matt durchscheinenden Vorhang den Schatten eines Mannes sich bewegen. Ob das Leopold Sandner war, konnten Sie nicht erkennen. Es könnte auch ein anderer Mann gewesen sein?«

»Ja. Das habe ich ja schon alles gesagt.«

»Und daß dann nach dem Schuß niemand rückwärts aus der Villa herauskam, das steht mit absoluter Sicherheit fest?«

»Das habe ich doch schon alles gesagt!« Es war eine Spur von Unmut in Lisbeth Morells Stimme. Sie sprach länger und geläufiger als sonst. »Das habe ich vor Gericht beschworen und vorhin hier wiederholt. Mein Mann ist doch Verteidiger vor Gericht. Ich lebe doch mit ihm den ganzen Tag mitten in all den Sachen, die das Gericht betreffen. Ich weiß doch, wie ernst das da zugeht, und wie groß die Verantwortung von allen ist, die bei Gericht zu tun haben. Ich rede doch, wo es um das Leben meiner besten Freundin geht, nicht ins Blaue hinein. Niemand wäre froher als ich, wenn ich sagen könnte: Es ist jemand aus dem Haus gelaufen und also war es die Margot nicht! Aber es war nun einmal nicht so!«

»Sie hatten auch keinen dicken Schleier vor dem Gesicht, gnädige Frau, der Sie etwa am Sehen hinderte?«

»Absolut nicht!«

»Sie sind nicht kurzsichtig?«

»Absolut nicht!«

»Sie haben nicht etwa kurze Zeit sich umgedreht und die Villa außer Augen gelassen?«

»Absolut nicht!«

»Dann danke ich Ihnen sehr, gnädige Frau!«

Lisbeth Morell verabschiedete sich in ihrer zurückhaltenden und immer gleichmäßigen Art und entfernte sich. Ihr Mann trat leidenschaftlich in die Mitte des Saals. Er war immer so aufgeregt, wie sie unerschütterlich ruhig.

»Sie fragen immer: Hat ein dritter das Haus verlassen?« keuchte er mir zu. »Ich frage: Hat ein dritter das Haus betreten? Ich antworte mit einem feierlichen ›Ja‹! Ein unheimlicher Gast, ein Unglücksbringer, ein Todesbote hat das Haus betreten, der Tod selber! Dieser ältliche Herr hat da drinnen Leopold Sandner erschossen. Zucken Sie nicht die Achseln! Man hat diese unheimliche Gestalt schon früher in einer ähnlichen Situation gesehen – in jenem Bankgeschäft –, er und der andere mit erhobenem Revolver einander gegenüber. Diesmal schoß er, und er traf gut!«

»Und wo soll er selbst geblieben sein? Verzeihen Sie meine Neugier!«

Paul Morell ballte die Fäuste. Er holte tief Atem. Seine schwarzen Augen suchten in der Luft nach Möglichkeiten. Der ganze Mann war von einem Krampf der Einbildungskraft gebannt.

»Die Villa ist groß!« stieß er hervor. »Vielleicht hat er sich, als wider sein Erwarten gleich nach dem Schuß die Polizei eindrang, in irgendeinen verborgenen und verborgen gebliebenen Winkel geflüchtet und hat sich dort, etwa durch Gift, selbst gerichtet, ehe er entdeckt und seinem Schicksal zugeführt werden konnte!«

»Na – na – Herr Doktor Morell! Nur nicht zu toll ... «

»... oder er ist in einem solchen Versteck, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte – etwa einem Schacht –, dem Hunger und der Kälte erlegen, und die Leiche liegt jetzt noch dort!«

»Ihre blühende Phantasie in Ehren ... «

»... oder« – die Worte überstürzten sich unter dem kleinen schwarzen Schnurrbart auf Morells Lippen. Sein immer nervös bewegtes Gesicht hatte jetzt einen ganz irren Ausdruck.

»Oder er versuchte, durch eine Kanalisationsröhre zu flüchten«, fuhr er fort, »und ist dabei erstickt!«

»Ich halte Ihrem berechtigten Eifer als Verteidiger viel zugut!« sagte ich. »Aber nun wollen wir es genug sein lassen des grausamen Spiels Ihrer Einbildungskraft!«

»Ich habe das Recht«, rief der Rechtsanwalt Morell atemlos, »jede, auch die entfernteste Möglichkeit, ins Auge zu fassen!«

»– – – – und ich habe die Pflicht, jede solche Möglichkeit zu prüfen«, versetzte ich. »Ich werde den Auftrag geben, die Villa morgen noch einmal von oben bis unten bis in die kleinste Ecke zu untersuchen. Das ist zwar seinerzeit schon auf das Gründlichste, sogar mit Polizeihunden, geschehen. Man hat nicht die geringste Spur gefunden. Ich bin natürlich überzeugt, daß man auch diesmal nichts finden wird. Aber Sie sollen Ihren Willen haben!«

Ich brach ab. Denn der Herr Staatspräsident gebot aus seinem Sessel mit erhobener Hand, wie es seine Art war, Schweigen.

»Bleiben wir streng bei den drei zu Beweis stehenden Thesen, auf die allein es ankommt!« sprach er mit seiner leisen, leidenschaftslosen, klaren Stimme. »In allem übrigen können wir unsere Einbildungskraft und unseren Scharfsinn und unsere Beredsamkeit nach Belieben spazieren führen, aber wir promenieren in einem Irrgarten und enden wieder da, von wo wir ausgegangen sind.

Erstens: dieser steinerne Gast hat die Villa betreten«, fuhr er fort. »Dafür haben wir drei höchst brüchige Zeugen: einen Strolch, eine Dirne und einen zweifelhaften Ausländer der untersten Stände. Ich muß gestehen, die Bekundungen dieser schönen Seelen genügen mir noch nicht, um mir die Existenz dieses Nachtschattens glaubhaft zu machen!

Zweitens: dieser Nachtschatten hat die Villa nicht verlassen. Dafür besitzen wir völlig einwandfreie Zeugen: die beiden Schutzleute und Frau Morell.

Drittens: dieser Nachtschatten ist trotzdem in der Villa gewesen, obwohl er dort nicht vorgefunden wurde. Für diese These der Verteidigung besitzen wir auch nicht einen einzigen Zeugen. Es ist die Aufgabe der Verteidigung, einen solchen Zeugen herbeizuschaffen. Es gibt aber dafür nur einen einzigen lebenden Zeugen, denn Leopold Sandner ist tot. Das ist seine Frau.«

Der Herr Staatspräsident wandte sich an den Rechtsanwalt Morell und sah ihm sehr ernst in sein bleiches Gesicht.

»Ihre Klientin, Herr Verteidiger, ist der einzige Mensch auf der Welt, der uns sagen kann, ob diese Schattengestalt des grauen Herrn ... «

»... an die ich nicht glaube!« konnte ich mich nicht enthalten dazwischen zu rufen. »Niemand mit nur halbwegs gesundem Menschenverstand kann daran glauben, daß ein Mensch sich plötzlich in Wohlgefallen auflöst!«

»Ob diese Gestalt ein Schatten ist oder von Fleisch und Blut!« fuhr der Herr Staatspräsident fort, ohne sich um meinen Einwurf zu kümmern. »Wir tappen hier im Dunkeln. Frau Sandner weiß alles, was wir nicht wissen. Sie könnte mit wenigen Worten das Dunkel klären. Aber sie schweigt!«

»Auch mir gegenüber!« sprach der Rechtsanwalt Morell dumpf.

»Dann ist es die höchste Aufgabe Ihrer Verteidigerlaufbahn, diese unglückliche Frau zum Reden zu bringen«, versetzte der Herr Staatspräsident. »Gott schenkte Ihnen doch nicht umsonst diese Gabe der Beredsamkeit. Sie waren einer der nächsten Freunde des Toten. Sie kennen genau alle in Frage kommenden Umstände. Sie sind von einem glühenden Eifer beseelt, eine nach Ihrer Meinung Unschuldige zu retten. Führen Sie das alles jetzt ins Treffen. Unterrichten Sie Frau Sandner von der neuen Wendung der Dinge. Ein neues, formelles Verhör würde bei ihr zu nichts führen. Das wissen wir alle!«

»Sie würde selbstverständlich erklären, daß sie nichts von einem grauen Herrn weiß!« sagte ich. »Und damit bei der Wahrheit und ihrem Geständnis als Täterin bleiben!«

»Vielleicht kriegen Sie mehr aus ihr heraus, wenn einmal der Name des grauen Herrn fällt«, wandte sich der Herr Staatspräsident an den Dr. Morell. »Sie allein können das. Kein anderer. Versuchen Sie es mit Gott, der uns erleuchten möge!«

»Ich werde sofort zu Frau Sandner fahren«, sprach der Rechtsanwalt Morell, »und sie beschwören, mir zu sagen ... «

»... daß sie nicht das Geringste von diesem nächtlichen Phantasiegebilde einiger Parias der Menschheit weiß!« meinte ich achselzuckend. Und Morell leidenschaftlich:

»Nein: was sie von ihm weiß! Denn er existiert. Davon bin ich felsenfest überzeugt!«


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