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Der Umsturz

Aufsatz in den »Deutschen Stimmen«. 12. 11. 1918

Von dem »rasenden Tempo der Entwicklung« war in der letzten Politischen Umschau gesprochen. Das Wort sagte nicht zuviel. Acht Tage sind seitdem ins Land gezogen, und eine der größten Umwälzungen ist vor sich gegangen. Der Kaiser und Kronprinz haben der Krone entsagt, eine große Anzahl deutscher Bundesfürsten, vielleicht in diesem Augenblick schon alle, haben freiwillig für sich und ihre ganze Dynastie abgedankt oder sind zur Abdankung gezwungen worden. Der Reichstag, das Parlament des freiesten Wahlrechts der Welt, ist von Soldaten besetzt, und die Abgeordneten sind außerstande, zusammenzutreten, um als Volksvertreter zu wirken. Am 15. November muß ein neuer Kriegskredit von fünfzehn Milliarden aufgenommen werden, der der verfassungsmäßigen Zustimmung bedarf. Niemand weiß, ob die inzwischen abgesagte Tagung des Reichstages stattfinden wird oder ob wir einer Entwicklung entgegengehen, die uns in der Schaffung von Arbeiter- und Soldatenräten russische Zustände bringt, wenn wir auch erfreulicherweise noch am Abgrund des Bolschewismus vorbeigekommen sind.

Das deutsche Bürgertum außerhalb der Sozialdemokratie sieht sich gegenwärtig fast zur Einflußlosigkeit verurteilt. In einigen Bundesstaaten wirken bürgerliche Politiker in den Ministerien mit, im wesentlichen handelt es sich aber dabei nur um sachliche Arbeitsministerien, der politische Einfluß liegt in den Händen der Sozialdemokratie, innerhalb welcher der Kampf um die Vorherrschaft stattfindet. In der Zwischenzeit wurden die Waffenstillstandsbedingungen der Entente bekannt, die an Furchtbarkeit alles übertreffen, was jemals einem besiegten Volke auferlegt worden ist. Der Feind vor den Toren, zum Einmarsch in das zur Okkupation überlassene Gebiet bereit, schon heute drohend mit dem Einmarsch in ganz Deutschland, »um Ordnung zu schaffen!« Transportkrisis und Hungersnot vor der Tür! Das große Problem der Demobilisierung ungelöst! Im Innern Bruch mit den jahrhunderte- und jahrtausendelangen monarchischen Überlieferungen! Straßenkämpfe in der Reichshauptstadt und eine Ansprache Liebknechts vom Balkon des Schlosses der Hohenzollern in Berlin ist die Gegenwart, in der wir leben, eine Gegenwart, von der niemand zu sagen weiß, ob sie geordneten Zuständen wieder Platz machen wird oder ob sie zum zeitweiligen Chaos führt.

Wir vermögen unsererseits zu den Ereignissen noch nicht Stellung zu nehmen. Was in diesen letzten Tagen auf uns eingestürmt ist, verlangt nach leidenschaftsloser Betrachtung und Würdigung. Es ist auch unmöglich, mit dem Sturmschritt der Ereignisse überhaupt Tempo zu halten. Wer weiß, ob das, was sich heute als Diktatur des Sechsmännerrates darstellt, morgen noch vorhanden ist? Der sozialdemokratische Führer, Ebert, gibt sich gewiß alle Mühe, die Entwicklung vor einem sich überstürzenden Radikalismus zu bewahren. Er hat auch den Gewaltstreich rückgängig gemacht, mit dem die Spartakustruppe sich eines Berliner Zeitungsunternehmens bemächtigt hatte und deren Drucker zwang, ein bolschewistisches Organ herauszugeben. Auch die Sicherheit der Kriegsanleihe, für die die sozialdemokratische Mehrheitsfraktion mit den Unterschriften von Ebert und Scheidemann noch kürzlich garantierte, ist durch eine Erklärung der neuen Regierung bestätigt worden. Aber was ist heute noch von irgendwelcher Dauer? Unsere Aufgabe ist, alles zu tun, um Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten und uns vor einem Chaos zu bewahren. Völlig falsch wäre es deshalb auch, daran Kritik zu üben, daß die Beamtenschaft sich der neuen Regierung zur Verfügung gestellt hat und weiterarbeitet. Die schwerste Pflichterfüllung ist der Sieg über das eigene Empfinden. Wir begrüßen es, daß eine Persönlichkeit wie Oberst Köth seine Kraft als Staatssekretär für das Demobilisierungswesen zur Verfügung stellt, um dafür zu sorgen, daß die wirtschaftlichen Vorgänge sich in Ruhe vollziehen, und wir verstehen, daß deshalb Beamte wie Krause und Schiffer auf ihrem Posten bleiben, die im Gegensatz zu den Verhältnissen stehen, welche durch die rote Flagge vom Brandenburger Tor gekennzeichnet werden. Besonnenheit und Pflichterfüllung bis zum Äußersten, das wollen wir unsererseits uns bewahren und hinüberretten, auch wenn um uns herum die festesten Grundmauern einstürzen, an deren Unerschütterlichkeit wir fest geglaubt hatten.

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Die Waffenstillstandsbedingungen liefern Deutschland wehrlos dem Feinde aus. Wo sind bei diesen Waffenstillstandsbedingungen irgendwelche Gesichtspunkte, die an einen Verständnisfrieden, Völkerbund und andere hohe Ideale erinnern? Es sind genau dieselben Bedingungen, die Rom Karthago im Dritten Punischen Krieg auferlegte: Auslieferung der Waffen, Auslieferung der Flotte. Als die Auslieferung erfolgt war, verlangte Rom die Niederreißung der Stadt, die Verlegung vom Meere, das die Lebensader für Karthagos Wohlfahrt war. An den Kampf zwischen Rom und Karthago ist oft in diesem Weltkrieg erinnert worden. Karthagos Schicksal war verdient. Es unterlag gegenüber dem Staatsgeiste Roms. Als Hannibal vor den Toren Roms stand, zitterten seine Senatoren nicht, sondern wiesen jeden Gedanken an den Waffenstillstand ab, von dem einen Gesichtspunkte ausgehend, an den Sieg zu glauben bis zum Letzten. Karthago unterlag, weil es seelisch nicht durchhielt. Bei uns hat die Front im Felde bis zum letzten Augenblick in einer Weise gekämpft, daß das größte Heldenlied der Weltgeschichte nicht ausreichen würde, um die Taten zu besingen, die dort getan worden sind. Im Innern aber brach die Heimat ruckweise zusammen. Nur wenige Soldatenräte fanden sich noch in dem durch die neue Lage zur Aussichtslosigkeit verurteilten Einspruch gegen die Waffenstillstandsbedingungen zusammen. Man kämpft nicht nur mit dem Schwert, sondern auch mit dem Herzen. Ist erst die Widerstandskraft des Herzens gebrochen, dann wird das Schwert stumpf. Suchen wir die große Linie der Volksempfindung in diesem Kriege, dann werden wir sagen müssen, daß das Bestreben der Deutschen nach abwägender Objektivität, das sich in Selbstanklagen eines Teiles der Bevölkerung in der Schuldfrage kundgab, nicht standhielt gegenüber der berechnenden, kalten Realpolitik Englands und dem aufschäumenden Chauvinismus Frankreichs. Wie weit die alten Gewalten, die diese Empfindungen in Frankreich und England verkörpern, gegenüber den weltbewegenden Umwälzungen der Gegenwart standhalten werden, müssen allerdings die nächsten Wochen zeigen.

* * *

Der Leiter des größten deutschen Schiffahrtsunternehmens, einstmals der größten Schiffahrtsgesellschaft der Welt, Generaldirektor Albert Ballin, ist am 9. November in Hamburg verstorben. Ob richtig ist, wie erzählt wird, daß ein Schlaganfall seinem Leben ein Ende gemacht hat, der ihn ereilte, als man das Gebäude der Hapag stürmte, ist im Augenblick, bei dem Fehlen von authentischen Mitteilungen aus dem Lande, nicht festzustellen. Es wäre gewissermaßen ein Sinnbild seines Lebens, daß er den Geist aufgab, als er sah, daß sein Lebenswerk im Begriff war, unter den Anstürmen der Gegenwart zusammenzubrechen. Wie stolz waren wir einst darauf, zwei der größten Schifffahrtsgesellschaften der Welt unser eigen zu nennen. In den Kolossen der Hapag und des Lloyd, in dem »Imperator«, »Bismarck« und »Vaterland« sahen wir gewissermaßen die Versinnbildlichung des mächtigen deutschen Volkes, das in der Friedenswirtschaft aufgewachsen war zu unendlicher Entwicklung. Treu haben die Hanseaten während der Kriegsjahre ausgehalten, gekämpft und geharrt auf neue Zeiten, in denen der deutsche Kaufmann wieder ringen würde um seinen Platz an der Sonne. Ob viel übrig bleiben wird von dem, was dieser Kaufmannsgeist geschaffen hat, das ist schwer zu sagen. Trübe, dunkel und grau sieht der Himmel aus auch für die deutsche Schiffahrt. Wer die Waffenstillstandsbedingungen als Tatsache hinnehmen muß, der kann und muß erwarten, daß die Friedensbedingungen noch härter sein werden, daß sie unter Umständen die Hingabe des Restes der uns gebliebenen Handelsflotte, die Übereignung industriellen Eigentums in sich schließen können. Daß der Mann, der an der Spitze der Hapag stand, mit schweren Sorgen in die Zukunft sah und Jahr um Jahr ein Stück zusammenbrechen sah von dem, was er an Hoffnungen der Wiederaufrichtung des alten Ruhmes der Flagge seiner Gesellschaft sich vorgestellt hatte, – wer will ihm das verdenken? Nur war er trotzdem nicht der Mann, als den ihn ein Teil der Öffentlichkeit ansieht, nämlich schwachmütig, verzagt und zu jedem Kompromiß von vornherein entschlossen. Wäre das der Grundzug seines Wesens gewesen, dann hätte er sein eigenes Unternehmen nicht zu dieser Blüte gebracht. Er war ein großzügiger, weitsichtiger Mann von schnellem Entschluß, von durchdringendem Verstand, die Konjunktur einer Lage schnell erfassend, vieles wagend, darum vieles erringend. Gegenüber dem mehr in den Bahnen konservativer Entwicklung geführten Norddeutschen Lloyd versinnbildlicht er gewissermaßen den vorwärtsstürmenden Kapitalismus in seinem Betriebe. Auch er war ein Mann, der in Weltteilen dachte. Sein kluger Rat wurde früher auch vom Kaiser oft in Anspruch genommen. Auch in den letzten Monaten konnte er den Kaiser noch einmal persönlich sprechen. Man hat in der Tagespresse erzählt, daß er dem Kaiser geraten habe, sich mit England zu verständigen. Nach der Erinnerung aus meinem letzten Gespräch mit Ballin möchte ich das insofern bezweifeln, als Ballin lange vor dem Waffenstillstandsgesuch mir gegenüber den Gedanken aussprach, daß man sich direkt mit Wilson in Verbindung setzen müsse, um von dort aus mit der Entente in Fühlung und zum Frieden zu kommen. Ob er die von dieser Aktion erhoffte Wirkung in der weiteren Entwicklung der Dinge erfüllt gesehen hätte, darf wohl nach der Annahme der Waffenstillstandsbedingungen bezweifelt werden. Wir sehen, wie die Dinge heute noch liegen, einem Gewaltfrieden entgegen, den die Entente diktiert. Wäre es nicht so, wäre man zu Friedensverhandlungen gekommen, dann wäre Ballin gewiß ein guter Unterhändler für viele Fragen gewesen und hätte insbesondere seine englischen Beziehungen für uns ausnutzen können. Allerdings galt er ja auch in der Außenwelt als Vertreter des deutschen wirtschaftlichen Imperialismus, und zu weitgehenden Kriegszielen, die über die flandrische Küste hinausgingen, hat auch er sich in den Zeiten bekannt, als der Gedanke des deutschen Sieges fest in uns wurzelte. Wie es denn überhaupt in der Welt so ist und bleiben wird, daß der Sieger seinen Sieg benutzt, um die Macht dauernd zu festigen, die Unterlage der Größe seines Staates ist. So wie der Heimgegangene die Macht und Größe seines Unternehmens gefestigt hat nach den großen geschäftlichen Siegen, die sein Geist der Hapag errang.

Den Generaldirektor Ballin haben viele Menschen gekannt. Den Menschen Ballin nur wenige. Diese aber haben seine Güte und Großzügigkeit, seine Liebenswürdigkeit im Verkehr stets auf das höchste geschätzt und werden sie dankbar in Erinnerung behalten. Eine Erinnerung nun an vergangene Zeiten werden auch die Tage sein, die ein kleinerer Kreis auf der Kieler Woche auf den Dampfern der Hapag mitmachte, von Ballin als Gäste geladen. Wie oft sind da geschichtliche Momente an denen vorübergezogen. Noch sehe ich vor meinem Geiste Herrn von Kiderlen-Wächter vom Fallreep der »Hohenzollern« heruntersteigen nach einer Unterredung mit dem Kaiser, an die sich die Entsendung des »Panther« nach Agadir anschloß. Sehe mich in Gedanken um Mitternacht neben Ballin auf Deck des Hapagdampfers hin- und herschreitend und die Chancen abwägend, die eine kriegerische Verwicklung im Anschluß an die Marokkofrage mit sich bringen würde, höre auch heute noch das Wort, das er damals sprach: »Ich konnte dem Kaiser nicht abreden, ich bin fest davon überzeugt, daß England den gegebenen Moment benutzt, um uns zu vernichten. Wir sind England zu groß geworden, das duldet England nicht. Ich setze in einem Kriege mit England das meiste aufs Spiel, aber ich bin überzeugt, daß es sich nur darum handelt, den Krieg zu verzögern, daß es aber unmöglich ist, ihn zu vermeiden.«

Das letzte Mal hat die Kieler Woche im Jahre 1914 stattgefunden. Wunderbar sonnige Tage lagen über dem Kieler Hafen, die englische Flotte war zu Gast gekommen, englische Offiziere und Matrosen wechselten die Mützenbänder mit denen der Deutschen. Wir standen auf der Kommandobrücke des englischen Kriegsschiffs »Centurio« und blickten von dort über den Kieler Hafen. Ein Sonntag in Sommerlust und Freude lag hinter uns, als plötzlich eine seltsame Mär sich verbreitete von der Ermordung eines österreichischen Erzherzogs, die in irgendeinem bosnischen Winkel von einem Revolutionär vollzogen sein sollte. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gerücht an Bord der Schiffe, Torpedoboote eilten und überbrachten die Mitteilung an Bord der Jacht des Kaisers. Wenige Minuten später gingen die englischen und deutschen Flaggen auf Halbmast, der Ball an Bord wurde abgesagt, dem österreichischen Sektionschef Riedl stattete der Bürgermeister von Hamburg das Beileid Hamburgs zu dem Verluste ab, der Österreich-Ungarn betroffen hatte. In allen Seelen war eine Empfindung von der Tragik des Hauses Habsburg, des Kaisers Franz Josef, dem nichts erspart blieb. Aber es lag eine gewitterschwüle Stimmung in der Luft, von der man nicht wußte, woher sie kam, die aber vorhanden war und bewirkte, daß man die Koffer packte in der Empfindung, man müsse nach Hause eilen, um zur Stelle zu sein, wenn der Strahl aus einer Wolke zuckte, den man erwartete, ohne eigentlich zu wissen, weshalb er kommen mußte. Vierundzwanzig Stunden nach diesem Sonntag verließ die englische Flotte den Kieler Hafen. Ihr Wunsch, durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal zu fahren, wurde ihr abgeschlagen. Irre ich nicht, dann lautete das Abschiedswort des englischen Admirals, als er den Hafen verließ: »Wir waren Freunde in der Vergangenheit, sind Freunde in der Gegenwart und wollen Freunde bleiben in der Zukunft.« Vier Wochen später entlud sich das Wetter des Weltkrieges, in dem am 11. November 1918 der letzte Schuß abgefeuert wurde, dessen politische Auswirkungen sich heute in revolutionären Umwälzungen in Deutschland und – wer weiß? – vielleicht in Bälde in ähnlichem Maße selbst in der Welt unserer siegreichen Feinde zeigen werden.

Eine neue Zeit beginnt. Was sie uns bringen mag, niemand vermag es zu sagen. In Albert Ballin geht ein Träger der alten Zeit zugrunde, ein Mann, der in seiner Eigenart ebenso der Ausdruck des Zeitalters war, das nun zur Rüste geht, wie jener Präsident des Preußischen Abgeordnetenhauses, Graf Schwerin-Löwitz, den man in den letzten Tagen zu Grabe trug und dessen Leichenbegängnis die letzte repräsentative Manifestation des alten Deutschland und Preußen gewesen ist. Vielleicht gilt von ihm, dem Vertreter der altpreußisch-konservativen Geistesrichtung, das Wort aus der Verteidigungsrede des Sokrates: »Mir ist jetzt dieses Geschick nicht zufällig zugestoßen, sondern das ist mir klar, daß es jetzt das Beste für mich war, zu sterben und Ruhe und Frieden zu bekommen. Es ist nun Zeit, daß wir von hinnen ziehen, ich um zu sterben und Ihr um zu leben. Wessen Los aber das bessere ist, Eures oder meins, das weiß niemand als Gott.«


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