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Der alte Ebenholztischler und Schatullenmacher Amram wohnte am Flussufer in einer Lehmhütte, die mit Palmenblättern gedeckt war. Dort hatte er seine Frau und seine drei Kinder. Er war gelb im Gesicht und trug einen langen Bart. In seinem Gewerbe, Elfenbein und hartes Holz zu schnitzen, sehr bewandert, diente er am Hofe Pharaos und arbeitete darum auch in den Tempeln.
Jetzt eines Morgens im Hochsommer unmittelbar vor Sonnenaufgang stieg er aus seinem Bett, sammelte sein Werkzeug in einen Sack und trat aus der Hütte heraus. Auf der Schwelle blieb er stehen und sprach, sich gen Osten wendend, ein leises Gebet. Und dann begann er die Wanderung, zwischen Fischerbuden immer dem schwarzen geborstenen Flusshügel folgend, auf dem Reiher und Tauben nach ihrem Morgenmahl sich ruhten.
Fischer Nepht, der Nachbar, besichtigte seine Netze, und legte Karpfen, Äschen und Welse in die verschieden grossen Fächer des Bootes.
Amram grüsste und wollte einige Worte zum Zeichen der Freundschaft sagen:
– Der Nil hat aufgehört zu steigen? sagte er.
– Bei zehn Ellen stehen geblieben! Das ist die Hungersnot!
– Weisst du, warum er nur fünfzehn Ellen steigen kann, Nepht?
– Weil wir sonst ertrinken würden, antwortete der Fischer einfältig.
– Ja allerdings, und das dürfen wir nicht. Der Nil hat also einen Herrn, der über den Wasserstand herrscht, und er, der das Sternengewölbe ausgemessen und den Erdboden entworfen, hat dem Wasser eine Mauer gesetzt, und diese Mauer, die wir nicht sehen, ist fünfzehn Ellen. Denn bei der grossen Flut im Land unsrer Väter, dem Land Ur in Chaldäa, stieg das Wasser bis fünfzehn Ellen, nicht mehr, nicht weniger. – Ja, Nepht, ich sage wir, denn du bist von unserm Volk, wenn du auch eine andre Sprache sprichst und fremde Götter verehrst. Einen guten Morgen wünsche ich dir, Nepht, einen sehr guten Morgen!
Er verliess den beschämten Fischer, ging weiter und warf sich in die Vorstadt hinein, wo die Häuser der Bürger aus Nilziegel und Holz anfingen.
Der Handelsmann und Wechsler Eleazar öffnete eben das Ladenfenster, während sein Bursche draussen die Strasse begoss.
– Ein gesegneter Morgen, Eleazar, Vetter, grüsste Amram.
– Kann nicht sagen, antwortete der Kaufmann mürrisch. Der Nil ist stehen geblieben und beginnt zu sinken; es sind schlechte Zeiten.
– Auf schlechte Zeiten folgen gute Zeiten, das wusste unser Vater Abraham schon; und als Josef, Jakobs Sohn, die sieben magern Jahre voraussah, riet er Pharao, in die Scheunen zu sammeln ...
– Mag sein, aber das ist jetzt ganz vergessen!
– Ja, du hast auch die Verheissung vergessen, die der Herr seinem Freund Abraham gab ...
– Die vom Land Kanaan? Darauf haben wir vierhundert Jahre gewartet, und jetzt sind statt dessen Abrahams Kinder Leibeigene geworden ...
– Abraham glaubte in guten und in bösen Tagen, in Lust und in Leid, und das ward ihm zur Gerechtigkeit angerechnet.
– Ich glaube überhaupt nicht, unterbrach ihn Eleazar. Doch, ich glaube, dass es rückwärts geht, und dass ich den Laden schliessen muss, wenn es Misswachs gibt ...
Amram ging betrübt weiter und kam zum Markt, wo er sich ein Durrabrot, ein Stück Aal und einige Zwiebeln kaufte ...
Als die Verkäuferin das Geldstück nahm, spuckte sie darauf; als Amram Wechselgeld zurückbekam, tat er es auch.
– Spuckst du auf das Geld, Hebräer, schnaubte die Hökerin.
– Man nimmt die Sitten des Landes an! erwiderte Amram.
– Antwortest du, unreiner Hund?
– Auf Anrede antworte ich; aber nicht auf Schimpfworte.
Der Hebräer ging weiter, denn es rottete sich Volk zusammen. Er traf den Barbier Enoch, und sie grüssten sich mit einem Zeichen, das die Fremdlinge erfunden und das bedeutete: Wir glauben an Abrahams Verheissung und warten geduldig in Hoffnung.
Amram erreichte schliesslich den Tempelplatz, ging durch die Allee der Sphinxe und stand vor einer kleinen Tür des linken Pylons. Er schlug siebenmal mit der Hand dagegen; ein Diener zeigte sich, nahm Amram beim Arm und führte ihn hinein. Ein junger Priester band ihm eine Binde um die Augen; und nachdem man seinen Sack untersucht hatte, fasste man den Ebenholztischler bei der Hand und führte ihn in den Tempel. Bald ging es Treppen auf, bald Treppen ab; bald gerade aus. Man wich Pfeilern aus, und Geriesel von Wasser war zu hören. Einmal rochs nach Feuchtigkeit, ein andermal nach Weihrauch.
Schliesslich blieb man stehen, und die Binde wurde Amram von den Augen genommen. Er befand sich in einer kleinen Kammer mit bemalten Wänden, einigen Bänken und einem Schrank. Eine reich geschnitzte Tür aus Ebenholz trennte die Kammer von einem grössern Saal, der sich auf der einen Seite mit einer breiten Treppe zu einer Terrasse nach Osten öffnete.
Der Priester liess Amram allein, nachdem er ihm gezeigt, dass die Tür ausgebessert werden sollte, und ihm mit einer nicht misszuverstehenden Gebärde Schweigen und Verschwiegenheit auferlegt hatte.
Als Amran allein blieb und sich zum erstenmal innerhalb der heiligen Mauern befand, die einem Hebräer keine Ehrfurcht einflössen konnten, wurde er doch von einem gewissen Entsetzen vor all dem Geheimnisvollen ergriffen, von dem er seit seiner Jugend hatte erzählen hören. Um die Furcht vor dem Unbekannten loszuwerden, beschloss er, seine Neugier zu befriedigen, auf die Gefahr hin, hinausgewiesen zu werden, wenn er jemand traf.
Zum Schein nahm er einen Feinhobel in die Hand, als er in den grossen Saal hinaustrat.
Es war ein sehr grosser Raum. In der Mitte befand sich ein Springbrunnen aus Rosengranit, und ein Obelisk war ins Becken eingepfählt. Die Wände waren mit Gestalten in einfachen Farben bemalt, meist in rotem Ocker, aber auch gelb und schwarz.
Er zog die Sandalen aus und ging weiter in eine Galerie hinein, in der Mumiensärge gegen die Wände gelehnt waren.
Darauf trat er in einen Kuppelraum, dessen Gewölbe mit den grossen Konstellationen des nördlichen Sternhimmels bemalt war. Mitten darunter stand ein Tisch, auf dem eine mit kartenähnlichen Zeichnungen bedeckte Halbkugel lag. Am Fenster stand noch ein Tisch mit einem Modell der grössten Pyramide, das auf einem Landmesserbrett mit Skala aufgestellt war. Daneben stand ein Alidad, ein Werkzeug zum Messen von Winkeln.
Hier war kein Ausgang zu sehen, nach einigem Suchen aber fand der Uneingeweihte eine Treppe aus Akazienholz, die sich in einem Eckturm hinaufwand. Amram stieg und stieg. Als er aber durch ein Guckloch hinaussah, fand er sich immer noch auf einer Höhe mit dem Dach des Kuppelsaals. Aber er stieg weiter; und als er wieder hundert Schritte gezählt hatte und durch ein Guckloch hinaussah, befand er sich in einer Höhe mit dem Boden des Kuppelsaals.
Da öffnete sich eine Brettertür und ein älterer Mann in halb priesterlichem Gewand empfing Amram mit einem Gruss wie einen bekannten, erwarteten Vorgesetzten. Als er aber einen Fremden sah, stutzte er; und die beiden Männer betrachteten einander lange, ehe sie zu Wort kommen konnten.
Amram, der sich in der unvorteilhaften Stellung des Überraschten befand, schritt zuerst zu den Kämpfen der Zunge:
– Ruben, kennst du mich nicht? Deinen Jugendfreund und Verwandten in der Verheissung?
– Amram, Jochebeths Gatte, Kehats Sohn! Ja, ich kenne dich!
– Und du hier? Seit du vor 30 Jahren aus meinem Gesichtskreis verschwandest.
– Und du?
– Ich bin hergerufen, um eine Tür auszubessern, das ist alles; und als ich allein gelassen wurde, wollte ich mich umsehen.
– Ich bin Schreiber an der Hochschule ...
– Und opferst fremden Göttern?
– Nein, ich opfere nicht, Amram, und ich habe mir den Glauben an die Verheissung bewahrt, Amram. Ich bin in dieses Haus eingetreten, um die Geheimnisse der Weisen zu erfahren und von innen die Festung öffnen zu können, die Israel gefangen hält.
– Geheimnisse? Warum soll das Höchste geheim sein?
– Weil das Volk nur das Niedrige begreift.
– Ihr glaubt ja selbst nicht an diese Tiere, die ihr heilige nennt?
– Nein, die sind nur Symbole. Sichtbare Zeichen, um das Unsichtbare zu veranschaulichen. Wir Priester und Gelehrte verehren den Einzigen, den Verborgenen, unter seiner sichtbaren Gestalt: der Sonne, die das Leben gibt und erhält. – Du erinnerst dich aus unserer Jugend, dass der Pharao Amenophis der Vierte mit Gewalt die alten Götter und die Verehrung der heiligen Tiere abschaffte. Er zog von Theben den Fluss hinab und verkündete die Lehre von einem Gott. Weisst du, wo er die Lehre her bekam? Von Israel, das sich nach Josefs Vermählung mit Anset, der Tochter des vornehmen Onpriesters, vermehrte und sogar Töchter aus den Familien der Pharaonen ehelichte. Nach Amenophis' Tod aber wurde alles wiederhergestellt, die Residenz nach Theben zurückverlegt, und die alten Götter wieder hervorgeholt, alles des Volkes wegen.
– Und ihr fahrt fort, den Einzigen, den Verborgenen, den Ewigen zu verehren?
– Das tun wir!
– Ist denn euer Gott nicht derselbe wie Abrahams, Isaaks und Jakobs Gott?
– Wahrscheinlich, da es doch nur einen gibt!
– Seltsam ist es! Warum aber verfolgt ihr dann die Hebräer?
– Fremde Völker pflegen einander nicht zu lieben. Du weisst, dass unser Pharao eben die Syrer bekriegt hat, das Chetavolk.
– Im Land Kanaan und Umgebung, im Land unsrer Väter und der Verheissung! Siehst du, der Herr Zebaoth, unser Gott, sendet ihn, unserm Volk den Weg zu bahnen.
– Glaubst du noch an die Verheissung?
– So gewiss wie der Herr lebt! Und mir ist gesagt, dass die Zeit bald erfüllt ist, da wir die Knechtschaft verlassen und ins gelobte Land wandern werden.
Der Schreiber antwortete nicht, aber sein Antlitz drückte sowohl Zweifel an Amrams Angabe aus wie die Gewissheit von etwas ganz anderm, das bald eintreffen würde.
Amram, der sich durch keinerlei Aufklärungen in seinem Glauben erschüttern lassen wollte, liess das Thema fallen und sprach von etwas Anderm, Gleichgültigen.
– Das ist eine seltsame Treppe.
– Ein Aufzug ist es und keine Treppe. Amram warf einen Blick zum Kuppeldach hinauf und fand einen neuen Haken, an dem er das Gespräch, das er nicht lassen wollte, festhalten konnte.
– Ist das der Himmel? fragte er.
– Das ist der Himmel.
– Und seine Geheimnisse?
– Ach die Geheimnisse? Für jeden, der sie begreifen kann, sind sie zugänglich.
– Sag sie in wenigen Worten!
– Die Sternkunde ist nicht mein Gebiet und wenig weiss ich, aber dennoch und in wenigen Worten. Das Gewölbe, das dort hängt, ist der Himmel; das Brett, das dort auf dem Tisch liegt, ist die Erde. Nun sprechen die Weisen so: Im Anfang ruhten Erde, Sibu, und Himmel, Nuit, neben einander. Das bedeutet: Sie waren eins! Aber die Gottheit der Luft und des Sonnenlichts, Shu, hob den Himmel und setzte ihn als ein Gewölbe über die Erde. Die festen Sternbilder, die wir kennen, bilden also gleichsam einen Abdruck, ein Wachssiegel von der Erde; und wenn die Gelehrten in den Sternen lesen, können sie die unbekannten Gegenden unsrer Erde erforschen. Sieh die Sternbilder an, die du kennst. Im Norden der grosse Bär, im Süden zu einer gewissen Jahreszeit der Jäger (Orion) mit seinen vier Sternen im Viereck und seinen drei mitten darin. Diese drei nennen wir Hebräer Jakobs Stab, und durch den obersten von diesen geht der Himmelsgleicher oder Äquator, der dem Erdgleicher entspricht, wo unser Nil seine Quellen haben soll. Nun kennst du auch das uns so liebe Sternbild Der Fluss (Nil). Sieh, wie der vom Jäger (Orion) fliesst, sich am Himmel in ebenso vielen Windungen krümmt, wie der Nil hier auf der Erde. Also: Wer die verborgenen Geheimnisse der Erde wissen will, soll sie vom Himmel lernen. Unsere Gelehrten kennen nur die Länder, die gegen Sonnenaufgang liegen; die Gegenden aber, die im Norden unter dem grossen Bären ruhen, sind uns unbekannt, wie die Länder, die gegen Sonnenuntergang liegen. Aber es hat den Anschein, als seien die Länder des Bären zu grossen Aufgaben bestimmt. Vier und drei sind ihre Zahlen, wie die des Jägers. Drei ist das Göttliche mit seinen Attributen, vier ist das Vollkommene in der Möglichkeit; drei und vier bilden die wunderbare Zahlen sieben. Den Menschen opfert man in der ungeraden Zahl, drei, den Göttern in der geraden Zahl, vier.
Das ist ungefähr, was ich im Vorbeigehen von den Geheimnissen des Himmels begriffen habe. Willst du jetzt einige von den entsprechenden der Erde erfahren, so lass uns unsere Pharaonengräber betrachten, die, abgesehen von dem sichtbaren Zweck, Gräber zu sein, auch eine geheime Aufgabe besitzen, nämlich die, in Zahlen und Massen zu verbergen, was die Weisen über Sibus und Nuits gegenseitige Beziehungen haben erforschen können. Zuerst dies: Das Pharaonengrab oder die Pyramide arbeitet mit den Zahlen vier und drei: die Grundfläche mit vier, die Seiten mit drei. Das war ja eins von den Geheimnissen des Himmels. Aber die Grundfläche der grossen Pyramide ist 365 heilige Ellen breit. Da hast du die 365 Tage des grossen Jahres. Aber die dreizahlige Seite der Pyramide ist 186 Grossellen oder ein Stadion lang. Da siehst du, wo das Wegemass hergenommen ist. Vervielfältigst du die Breite der Grundfläche mit der Zahl 500, die ungefähr die doppelte Breite in Grossellen ist, erhältst du eine Länge, die gleich 1/360 des ganzen Kreises ist, den die Sonne in einem Jahr wandert, da 360 die Tage des kleinen Jahres sind. Diese Länge entspricht vier Zeitminuten, und die Erdbewohner, die einen Grad westlich von uns wohnen, sehen die Sonne vier Zeitminuten später aufgehen als wir ... Mehr weiss ich nicht von Zahlen und Massen! Willst du weiteres erfahren, zum Beispiel, warum die Seiten der Pyramide 51 Grad geneigt sind, so musst du Sternkundige fragen. Die Treppe zur Grabkammer hat dagegen einen Winkel von 27 Grad: der entspricht dem Unterschied zwischen der Neigung der Weltachse und der Erdachse.
Amram hatte mit besonderer Aufmerksamkeit des gelehrten Schreibers Erklärung der Pharaonengräber angehört, und wenn Ruben Zahlen nannte, lauschte er und schloss die Augen, als wolle er sich etwas genau merken. Schliesslich griff er ein und nahm selbst das Wort:
– Du erwähntest zuletzt 27 Grad. Gut! Das ist nicht die Neigung der Weltachse, sondern des Mittelpunkts, der Milchstrasse, die wahrscheinlich die eigentliche Weltachse ist und 27 Grad nördlich vom Äquator liegt, während die Neigung der Erdachse gegen die Sonnenbahn 23 Grad ist. Aber du hast die dritte Pyramide vergessen, die des Menkheres, deren Grundfläche eine Breite von 107 Grossellen hat. Diese Zahl 107 ist im Weltall drei- oder fünfmal wiederzufinden. Denn 107 Sonnen haben zwischen Erde und Sonne Platz; 107 ist die Entfernung des Planeten Venus von der Sonne; 107 ist die Entfernung des Jupiters von der Sonne, ausgedrückt in Einheiten oder deren Vielheit.
Ruben stutzte.
– Was? Wo hast du das her? Hier lässt du mich stehen und hältst mich zum Narrn! Wo hast du das gelernt?
– Von unsern Ältesten und Weisen, welche die Erinnerungen an die Heimat Ur in Chaldäa bewahrt haben. Ihr verachtet Assur, ihr Männer von Egypten, denn ihr glaubt, der Nil sei der Mittelpunkt der Erde. Aber es gibt viele Mittelpunkte im Unendlichen. Hinter Assur am Euphrat und Tigris liegt ein anderes Land an einem anderen Fluss, und das Land heisst Siebenflussland, weil dessen Flüsse auch in sieben Armen wie der Nil münden.
– Der Nil hat sieben Arme. Du hast recht, wie der siebenarmige Leuchter ...
– Der das Licht der Welt bedeutet, das von jedem Land leuchten soll, wo ein Fluss sich spaltet, um ins Weltmeer zu münden. Die Flüsse, siehst du, sind die Blutgefässe der Erde, und wie diese führen sie abwechselnd blaues Blut und rotes; so hat unser Land seinen blauen Nil und seinen blutroten. Der blaue ist giftig wie das dunkle Blut, und der rote ist fruchttragend, lebengebend wie das rote Blut. So hat alles Geschaffene seine Gegenstücke oben im Himmel und unten auf der Erde, denn alles ist eins, und der Herr des Alls ist einer, ein und derselbe!
Ruben schwieg und lauschte:
– Sprich weiter! sagte er schliesslich.
Amram fuhr also fort:
– Die Pharaonengräber sind auch aus der Erde gewachsen, auf der sie ruhen. Die erste oder grosse Pyramide ist nach dem Vorbild des Meersalzes geschaffen, wenn es in der Sonnenwärme gerinnt. Könntest du durch einen Tautropfen in einen Salzstein hineinsehen, so fändest du ihn aufgebaut aus einer unendlichen Menge Quadersteinen wie die grosse Pyramide. Wenn du aber Alaunlauge zu Stein gerinnen lässt, wirst du ein ganzes Feld von Pyramiden sehen. Alaun ist das Salz des Lehms. Da hast du das Salz der Erde und des Meers! – Aber es gibt noch eine andere Art Pyramiden, deren Spitze abgestutzt ist. Das ist die Urform des Schwefels, wenn er aus dem Kalk wächst. Nun haben wir Wasser, Erde und Kalk mit seinem Feuerstein. Doch es gibt noch eine dritte Art Pyramiden, bei denen sind die Ecken abgestutzt, und die gleichen dem geronnenen Kiesel oder Bergkristall. Da hast du den Berggrund. Nun soll man bei genauerer Untersuchung des Nilschlamms alle diese Formen und Urstoffe wiederfinden: Lehm, Salz, Schwefel und Kiesel. Darum ist der Nil das Blut der Erde. Und die Berge sind das Fleisch, nicht die Knochen.
Ruben, der jetzt Phater genannt wurde, hatte Amram mit Entsetzen und Bewunderung betrachtet; und erst als dieser schwieg, öffnete Ruben seinen Mund wieder:
– Du bist nicht Ebenholztischler und Schatullenmacher, du bist nicht Amram.
– Ich bin allerdings Ebenholztischler und Schatullenmacher, aber ich bin auch aus Israels Priestertum. Ich bin Kehats Sohn, der war Levis Sohn, der war Jakobs Sohn, der war Isaaks Sohn, der war Abrahams Sohn. Ich bin Levit und Jochebeths Gatte. Mirjam und Aron sind meine geborenen Kinder, das ungeborene erwarte ich. – Jetzt kehre ich zu meiner Arbeit zurück; begleite mich!
Phater ging voran, schlug aber einen andern Weg ein als den, welchen Amram gekommen war.
Als sie an einer offnen Tür vorbeikamen, die in einen grossen Saal mit Büchergestellen führte, blieb Amram neugierig stehen und wollte eintreten, um die vielen Bücher anzusehen. Phater aber hielt ihn am Rock zurück.
– Geh nicht hinein! Dort sind lauter Hinterhalte und Schlingen. Der Buchhüter sitzt mitten im Saal versteckt und bewacht neidisch die Schätze. Er hat den Boden aus trocknen Weidenruten legen lassen, die schreien, wenn man auf sie tritt. Er hört, wenn jemand sich einschleicht, und er hört, wenn ein Schreiber die verbotenen Bücher besucht; es ist ein Zauberer! Er hat uns gehört, und – er tastet. Fühlst du nicht, wie eine kalte Schlangenzunge deine Backe, deine Stirn, dein Augenlid berührt?
– Wahrhaftig!
– Er ists, der die Finger seiner Seele ausstreckt, wie wir unsern Arm! Jetzt aber schneide ich seinen Fühler, der uns untersuchen will, ab.
Er nahm ein Messer und machte vor ihnen einen Schnitt durch die Luft.
Amram hatte ein Gefühl von Wärme, und im selben Augenblick sah er eine grosse Natter sich im Todeskampf auf dem Boden winden.
– Ihr übt Schwarzkunst hier? sagte er.
– Wusstest du das nicht?
– Ich habe es nicht erwartet!
In diesem Augenblick war es, als öffnete sich die Wand und eine feuchte Mauer aus Nilschlamm zeigte sich, wo Krokodile und Schlangen sich umeinander wanden, während ein Flusspferd drohend mit den Vorderfüssen trampelte.
Amram erschrak, Phater aber holte ein Amulett in Form einer Skarabäe hervor, und die wie einen Schild haltend, ging er mitten durch die Schrecken, die sich wie Rauch auflösten, während Amram ihm folgte.
– Er verdreht einem nur das Gesicht, der schwarze Mann, sagte Phater.
Und als er mit der Hand fächelte, verdunstete der ganze Anblick.
Jetzt standen sie wieder im ersten Saal, und auf den Nilmesser zeigend, sagte Amram:
– Hungersnot!
– Daran ist nicht zu zweifeln! Deshalb sollen alle überflüssigen Mäuler gestopft werden ...
– Was ...
Phater hatte sich versprochen und merkte es.
– Ich meine, fuhr er fort, Pharao muss darauf bedacht sein, Korn zu schaffen.
– Er könnte jetzt einen Josef gebrauchen.
– Wozu? fiel Phater ein, heftiger als er wollte. Weisst du nicht, dass Josef, Jakobs Sohn, die Egypter zu Leibeigenen unter Pharao machte? Eure Urkunden, unsere Urkunden erzählen, dass er den Bauern ihr Land als Pfand für die Hilfe während der sieben magern Jahre nahm, und dass dadurch Pharao allein Besitzer des Grundes und Bodens von Egypten wurde.
– Du bist nicht Ruben, du bist Phater der egyptische Mann, denn wärst du von Israel, hättest du nicht so gesprochen! Unsere Wege trennen sich! Ich gehe an meine Arbeit!
Amram begann Hand an die Tür zu legen, und Phater glitt in die Schatten der Pfeiler hinaus und verschwand. Amram aber sah an seinem gekrümmten Rücken, dass er sich mit bösen Anschlägen trug.
Als Amram am Abend nach Haus kam, hatte seine Frau ein Knäblein geboren. Das war wie andere kräftige Kinder, schrie aber nicht; und es wurde nach dem Bad in leinene Kleider gehüllt und in den dunkelsten Winkel der Hütte gelegt.
Am folgenden Morgen vor Sonnenaufgang ging Amram wieder an seine Arbeit in den Sonnentempel und wurde mit verbundenen Augen in die Kammer geführt; dort liess man ihn allein, ohne einen Rat oder eine Warnung über die Aufführung, die er zu beobachten habe.
Diese Sorglosigkeit erschien ihm als Gleichgültigkeit und deutete auf allgemeine Schlaffheit im Tempeldienst. Darum ging er wieder in den Pfeilersaal. Sah mit Unruhe am Nilmesser, wie das Wasser gesunken war. Also keine Hoffnung auf die fünfzehn Ellen, welche die Erde für die Ernte des Jahres verlangte.
Er trat weiter auf die Terrasse hinaus gegen Sonnenaufgang und kam unter einen offnen Pfeilergang. Ehe er aber weiter ging, traf er die Vorsichtsmassregel, kleine Stücke Papyrus als Wegweiser für die Rückkehr fallen zu lassen.
Er ging über die Höfe, die eng wie Brunnen waren, hütete sich aber vor Treppen; die gestrige Erfahrung hatte ihn gewarnt.
Schliesslich befand er sich in einem Pfeilerwald, in dem die Baumkrone von Lotusknospen gebildet wurden, und als er lauschte, strich es dahin wie ein leiser Gesang von Kinderstimmen oben vom Dach. Als er das Ohr an einen Pfeiler legte, hörte er es stärker, wie klingende Musik von Zither und Harfe. Das war ja die Sonne, das wusste er, die bereits die Dachsteine erwärmt hatte und eben jetzt aufgehen wollte.
Er tat einige Schritte vorwärts, und auf einmal öffnete sich eine Terrasse mit einem Opferaltar. Die Terrasse senkte sich mit einer Sphinxtreppe zum Fluss hinunter, und die ganze Talsenkung öffnete sich, im Osten von der Bergkette am Roten Meer begrenzt.
Am Altar stand ein Priester in weissleinenem Gewand mit Purpursäumen. Er hatte die Arme gegen den Himmel erhoben und stand unbeweglich. Die Hände waren ganz weiss, da das Blut in die Arme gesunken war, und das Gesicht des alten Mannes schien sich zu spannen von der Kraft, die er von oben mit den Händen holte. Zuweilen zuckte es im Körper, als durcheilten ihn Ströme von Feuer. Er war still und schaute gen Osten.
Da schob sich ein glänzender Rand der Sonnenscheibe über den Gebirgskamm, und die weissen Hände des Priesters wurden durchsichtig rosenrot wie sein Gesicht. Und er öffnete seinen Mund und sprach:
– Sonnengott, Herrscher des Strahlenglanzes, sei gepriesen am Morgen, wenn du aufgehst, und am Abend, wenn du untergehst! Ich rufe dich an, Herr der Ewigkeit, du Sonne beider Horizonte, du Schöpfer, der du dich selbst geschaffen hast. Alle Götter jubeln laut, wenn sie dich schauen, König des Himmels; ich werde von neuem jung, wenn ich deine Schönheit sehe. Heil dir, wenn du zum Land des Lebens gehst, du Vater der Götter!
Er schwieg und blieb stehen, die Arme gegen die Sonne gestreckt, als sauge er Wärme aus ihr.
Da war im Pfeilerwald ein Gerassel von Waffen zu hören, das gleich wieder verstummte, und unmittelbar darauf erschien ein stattlicher Mann, bartlos, in Gold und Purpur gekleidet. Sein Gang war lautlos wie der eines Panthers, und er schien über den Boden zu schweben; der Boden spiegelte sein Bild, das ihm folgte: ein heller Schatten, auf dem er dahin ging.
Als er auf die Terrasse hinausgekommen war. gab die Sonne ihm einen dunklen Riesenschatten, der wie ein Teppich hinter ihm lag.
– Schon im Gebet, du Weisester unter den Weisen, begrüsste Pharao den Oberpriester.
– Mein Herrscher hat mich gerufen, dein Diener hat gehorcht. Mein Herrscher ist in sein Land zurückgekehrt nach langen und ehrenreichen Siegeszügen in fernen fremden Gegenden. Dein Diener grüsst Pharao auf seinem Angesicht.
Pharao setzte sich auf einen Thronsessel, das Gesicht der aufgehenden Sonne zugewandt, und begann zu sprechen wie einer, der seine Gedanken ordnen will.
– Meine Wagen sind über die rote Erde Syriens dahingerollt; meine Pferde haben die Heerstrassen von Babylon und Ninive getreten; ich bin über Euphrat und Tigris gegangen und durch das Land zwischen den beiden Strömen gezogen; ich bin zu dem Land der fünf Flüsse gekommen und habe die sieben in der Ferne gesehen, wo das Seidenland beginnt, um sich bis Sonnenaufgang zu erstrecken; ich bin auf meinen Spuren umgekehrt und habe meine Schritte nach Norden gelenkt, nach Skythien und Kolchis. Wohin ich kam, hörte ich Gemurmel und sah ich Bewegung. Die Völker sind erwacht; in den Tempeln weissagte man die Rückkehr der Götter; denn die Menschen waren allein gelassen worden, ihre Geschäfte zu besorgen und ihre Geschicke zu lenken; sie hatten sie aber schlecht besorgt und übel gelenkt. Recht war Unrecht geworden und Wahrheit Lüge; die ganze Erde seufzte nach Erlösung. Schliesslich erreichten die Gebete den Thron, den Thron des Allerbarmers. Und nun verkünden die Weisen, die Milden, die Heiligen in allen Zungen die frohe Botschaft: die Götter kommen wieder! Kommen wieder um den Menschenkindern ordnen zu helfen, was sie verwirrt haben; Gesetze zu geben und das Recht zu schirmen. Diese Botschaft bringe ich als Siegesbeute heim, und du Weisester unter den Weisen sollst sie zuerst von deinem Herrscher empfangen!
– Du hörst, Herr Pharao, was über den ganzen Erdkreis gesprochen wird; dein Auge schaut weiter als die Sterne des Himmels, sieht ferner als das Auge der Sonne!
– Und doch, was die Götter mir im Traum zu hören gegeben, hat mein Ohr begriffen, mein Verstand aber nicht. Deute mir den Traum!
– Sag ihn, Herrscher!
– Nichts sah ich, aber ich hörte eine Stimme, als der Schlaf das Licht meiner Augen gelöscht hatte. Und die sprach im Dunkel und sagte: »Die rote Erde wird sich über alle Länder der Welt verbreiten, die schwarze aber wird verrinnen, wie der Sand am Meer.«
– Schwer zu deuten ist der Traum meines Herrschers nicht, aber nichts Gutes verkündet er.
– Deute ihn!
– Wohlan! Die rote Erde ist Syrien, das weisst du, Herr; Syrien, wo das elende Chetavolk wohnt, ist das Erbland der Hebräer, Kanaan. Die schwarze Erde ist die des Nils, Egypten, dein Land, Herr?
– Wieder die Hebräer, immer die Hebräer. Die Jahrhunderte sind geflohen, seit dieses Volk in unser Land eingewandert ist. Sie haben sich vermehrt, ohne uns zu beunruhigen. Ich liebe sie nicht, hasse sie auch nicht; jetzt aber fürchte ich sie. Arbeiten haben sie müssen, zuletzt schwerer als je, aber sie murren nicht; geduldig sind sie, als erwarteten sie etwas Gewisses, das kommen wird.
– Lass sie los, Herr!
– Nein, dann gehen sie und gründen ein eigenes Reich.
– Lass sie!
– Nein, ich will sie vernichten!
– Lass sie!
– Gewiss, ich werde sie vernichten!
– Aber der Traum, Herr?
– Den deute ich als eine Warnung und Mahnung.
– Nicht als Voraussage des unvermeidlich Kommenden?
– Nein, als eine Warnung und Mahnung.
– Rühr nicht an das Volk, Herr, denn ihr Gott ist stärker als unserer!
– Ihr Gott ist der der Chaldäer. Unsere Götter mögen kämpfen! – Ich habe gesprochen, du hast gehört; ich füge nichts hinzu und nehme nicht davon.
– Herr, du siehst eine Sonne am Himmel und du glaubst, dass sie über allen Völkern scheint; glaubst du nicht, dass der Herr des Himmels ein und derselbe ist, der über die Schicksale aller Völker herrscht?
– Es müsste so sein! Aber über dieses Land hat der Herr des Himmels mich zum Lenker gesetzt, und nun lenke ich.
– Du lenkst, Herr, aber du herrschst nicht über Wetter und Wind; du kannst das Wasser des Nils nicht um einen Zoll erhöhen, und du kannst nicht hindern, dass wir dieses Jahr wieder Misswachs bekommen.
– Misswachs? Was sagt der Nilmesser?
– Herr, die Sonne ist ins Zeichen der Wage getreten, und das Wasser sinkt bereits. Das ist die Hungersnot!
– Da werde ich ausroden alle unnützen und fremden Münder, die den Landeskindern das Brot fortnehmen. Ich will die Hebräer vernichten.
– Lass sie frei, Herr!
– Ich will die Hebammen rufen, und alle Knäblein, die von einem hebräischen Weib geboren werden, umbringen lassen. Ich habe gesprochen; jetzt handle ich!
Pharao stand vom Stuhl auf und ging, schneller als er gekommen war, und Amram kehrte auf seinen Spuren zurück, fand aber nicht mehr als ein Papyrusstück.
Da blieb er stehen und fürchtete sich sehr, denn er konnte seinen Weg nicht finden.
Die Sonne war gestiegen und es spielte nicht mehr im Pfeilerwald, sondern dort war es still geworden. Nachdem er eine Weile gelauscht hatte, begann Amram dieses verdichtete Schweigen zu vernehmen, das ein Lauschender von sich gibt; oder Kinder, die etwas Unerlaubtes tun und sich nicht verraten wollen. Er fühlte, dass jemand in der Nähe war und dass dieser verborgen sein wollte, aber doch seine Gedanken auf ihn richtete.
Um Gewissheit zu erhalten, ging Amram nach der Seite, auf der das Schweigen am dichtesten war. Und siehe, hinter einem Pfeiler stand Phater, der nicht einen Schimmer von Verlegenheit zeigte, sondern nur seine offene Hand ausstreckte, in der alle Papyrusstücke lagen, die Amram ausgestreut hatte.
– Du musst nicht Papierstücke auf den Boden legen, sagte Phater mit einem unbeschreiblichen Lächeln. Ja, werde nicht zornig, ich will dir nur wohl! Denn jetzt wirst du mir folgen und nicht an deine Arbeit zurückkehren, die nur eine Schlinge war, denn man steht dir nach dem Leben. Du musst in dein Haus zurückkehren und für dein neugeborenes Kind sorgen, dass es nicht umgebracht wird. Siehst du, dass Ruben-Phater ein wahrer Israelit ist, wenn dus ihm auch nicht glauben wolltest!
Und Amram folgte ihm und kam hinaus und kam heim.
Jochebeth ging in Pharaos Garten umher und begoss Kürbisse. Sie ging mit ihrem Eimer zwischen der Wassertür am Fluss und dem Kürbisbeet hin und her. Zuweilen aber ging sie durch die Tür hinaus und blieb eine Weile fort.
Mirjam, die Tochter, ästete die Weinstöcke an der Gartenmauer, schien ihre Aufmerksamkeit aber mehr nach dem grossen Gang zu richten, der zum Sommerpalast der Prinzessinnen hinauf führte. Ihr Kopf bewegte sich wie das Laub des Palmbaums, wenn der Wind hindurchzieht, hierhin und dorthin, zwischen der Wassertür und dem grossen Gang, während die Hände die Arbeit ausführten.
Als die Mutter verzog, ging sie von der Mauer zur Tür hinunter, und auf den niedrigen Strand hinaus, wo die Binse in einem schwachen südlichen Wind schaukelte. Ein Steinschmätzer der Wüste sass auf einem Strandstein und wippte mit dem Schwanz, flatterte mit den Schwingen, als wollte er etwas zeigen, das er erspäht; und er schwatzte und schnatterte über etwas Ungewöhnliches in den Binsen. Hoch oben in der Luft schwebte ein Weih in Schraubenlinien, mit dem Kopf nach dem Boden spähend.
Mirjam brach Lotusknospen ab und warf sie nach dem Steinschmätzer, der ein Stück weiter flog, aber immer mit dem Schnabel nach der Binse zeigte.
Das Mädchen schürzte sich, stieg ins Wasser hinein, und nun sah sie die Mutter im Papyruswald stehen, bis zur Mitte verdeckt, sich über einen Binsenkorb beugen und einem kleinen Kind ihre linke Brust geben.
– Mutter, flüsterte Mirjam, Pharaos Tochter nähert sich; sie kommt, um im Fluss zu baden.
– Herr, Gott Israels, erbarm dich über mein Kind.
– Hast du dem Knaben genug zu trinken gegeben, so beeile dich, komm!
Die Mutter beugte sich wie ein Gewölbe über das Kind; ihr Haar hing wie ein Mückennetz herab, und zwei Tränen fielen aus ihren Augen auf die ausgestreckten Hände des Kleinen. Dann erhob sich die Mutter, steckte eine süsse Dattel in den Mund des Kindes, machte sacht den Deckel zu, murmelte einen Segen und stieg aus dem Wasser.
Eine schwache Brise vom Land schaukelte die Binsen und das Wasser kräuselte sich.
– Der Korb schwimmt, sagte sie, aber der Fluss fliesst dahin, er ist rot von Blut und dick wie Rahm! Herr, Gott Israels, erbarme dich!
– Das wird er, antwortete Mirjam, wie er sich erbarmt hat über unsern Vater Abraham, der die Verheissung bekam, weil er gehorchte und glaubte: »Durch deinen Samen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden.«
– Und nun schlägt er alle Erstgeburt ...
– Deinen Sohn nicht!
– Noch nicht!
– Bete und hoffe!
– Was? Dass die Untiere des Flusses ihn nicht fressen, dass die Wellen des Flusses ihn nicht verschlingen, dass die Henker Pharaos ihn nicht töten. Das ist die Hoffnung!
– Die Verheissung ist grösser und sie lebt: »Dein Same soll besitzen die Tore seiner Feinde!«
– Und dann ist Amram, dein Vater geflohen ...
– Nach Ramses und Pithom, wo unser Volk beim Bau front; dahin ist er gegangen, zu warnen und zu mahnen! Wohl hat er getan. – Still, Pharaos Tochter kommt!
– Sie kann doch nicht im Blut unseres Kindes baden.
– Sie kommt jedoch! Aber sie ist die Freundin der armen Hebräer, fürchte dich nicht!
– Sie ist ihres Vaters Tochter!
– Die Egypter sind unsere Geschwisterkinder, Hams Nachkommen sind sie, Sems wir! Sem und Ham waren Brüder!
– Aber Ham ward verbannt von seinem Vater Noah, und Kanaan war Hams Sohn.
– Aber Noah sagte: Gelobt sei der Herr, Sems Gott, und Kanaan sei sein Knecht. Hast du gehört? Sem erhielt die Verheissung, und Sems sind wir.
– Herr Zebaoth, steh uns bei, der Korb treibt mit dem Wind! Er treibt gegen das Badehaus, und der Geier dort oben in der Luft ...
– Das ist ein Weih, Mutter!
Jochebeth lief am Ufer auf und ab, wie ein verlassener Hund, sie schlug sich die Brust und sie weinte grosse schwere Tränen.
Schritte und Stimmen waren zu hören.
– Pharaos Tochter ist vor uns.
– Der Herr, der Gott Israels, ist über uns.
Die beiden Frauen versteckten sich im Schilf und Pharaos Tochter erschien mit ihren Sklavinnen in der Wassertür.
Sie trat auf die Brücke zum Badehaus, das eine Hütte aus gefärbtem Kamelhaar war und von Pfählen im Flussgrund zusammengehalten wurde.
Aber der Korb trieb bis an die Brücke und erregte die Neugier der Prinzessin. Sie blieb stehen und wartete. Jochebeth und Mirjam konnten des Windes wegen nicht hören, was sie sagte, aber sie sahen an ihren ruhigen Bewegungen, dass sie von den seltsamen Gaben des Flusses eine Zerstreuung erwartete.
Jetzt schickte sie eine Sklavin ans Ufer. Die lief und brach ein langes Rohr ab, das sie ihrer Herrin überreichte. Diese fischte nach dem Korb und brachte ihn bis an die Brücke. Sie beugte sich nieder, fiel auf die Knie. Jetzt öffnete sie den Deckel. Jochebeth sah die beiden kleinen Arme sich in die Höhe strecken. Die Prinzessin lachte laut und wandte sich zu den Frauen. Sie sagte etwas, das Freude ausdrückte, und dann hob sie das Kind auf, das sofort an ihren jungfräulichen Busen kroch und in dem weissen Hemd herumtastete. Da küsste die Prinzessin das kleine Kind und drückte es an ihre Brust, erhob sich und wandte sich nach dem Ufer um.
Mirjam, die jetzt alle Furcht verloren hatte, trat vor und warf sich auf ihr Angesicht.
– Siehst du, ich habe ein kleines Kind bekommen, Mirjam, sagte die Prinzessin, die Temma hiess. Ich habe es vom Nil bekommen, und darum ist es ein Götterkind. Jetzt aber musst du eine Amme schaffen.
– Wo soll ich eine solche finden, hohe Herrscherin?
– Such! Aber vor Abend musst du gefunden haben! Vergiss jedoch nicht, dass es mein Kind ist, da ich es aus dem Wasser gezogen habe. Da habe ich ihm seinen Namen gegeben, und Moses soll er heissen. Und ich will ihn erziehen, dass er ein Mann nach unserm Sinn werde! Geh in Frieden und such mir eine Amme!
Pharaos Tochter ging mit dem Kind zum Palast hinauf, und Mirjam suchte ihre Mutter im Schilf, wo sie gehört hatte, was Pharaos Tochter gesagt und beschlossen.
– Mutter, Pharaos Tochter wird Amrams und Jochebeths Sohn erziehen! Hams Kinder werden denen Sems dienen. Gelobt sei der Herr, Sems Gott! – Jetzt glaubst du an die Verheissung, Mutter!
– Jetzt glaube ich, und gelobt sei Gott für seine grosse Barmherzigkeit!