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Nach Sokrates' Tod war die Grösse Athens dahin. Sparta herrschte dann seine Zeit, und darauf kam die Reihe an Theben. Nach Theben brachen die Mazedonier ins Land, und diese herrschten bis zum Jahr 196, als die Römer sowohl Mazedonien wie Griechenland einnahmen, Korinth vollständig zerstörten, Athen aber, das unter Sulla seine Befestigungen verlor, wegen seiner grossen Erinnerungen schonten.
Jetzt, unter Caesar, war es sehr in Mode, die Jugend nach Athen zu senden, damit sie dort Grammatik, Rhetorik und Philosophie studiere. Einen grossen Philosophen gab es nicht, sondern man lernte aus der Geschichte der Philosophie. Eine Religion gab es auch nicht, denn niemand glaubte an die Götter des Staates, obwohl man aus alter Gewohnheit Opferfeste feierte.
Athen war tot wie die ganze alte Welt, Egypten, Syrien, Kleinasien. In Rom lebte man von der Vergangenheit Griechenlands, und der grösste Mann, Cicero, begann immer, wenn er ein philosophisches Thema klar machen sollte, davon zu sprechen, was die alten Griechen zu der Sache meinten; und damit schloss er auch, denn eine eigene Ansicht von der Natur der Götter zum Beispiel hatte er nicht.
Eines Vorfrühlingstages in den letzten Jahren Julius Caesars sassen zwei Studenten in einer Laube unterhalb Lykabettos, dem Gymnasium Kynosarges gegenüber. Sie hatten Wein auf dem Tisch, waren aber ihrem gelben Chios nicht sehr ergeben. Sie sassen still, gleichgültig da, als warteten sie.
Aber alles um sie herum schien ebenfalls von der gleichen Schlaffheit ergriffen zu sein. Der Gastwirt sass da und schlief; die Jünglinge im Gymnasium gegenüber lungerten an der Tür herum: die Wanderer auf der Landstrasse trotteten still dahin, ohne zu grüssen: der Bauer auf dem Feld sass auf seinem Pflug und wischte sich den Schweiss aus der Stirn.
Der ältere der Studenten befingerte sein Glas und öffnete schliesslich den Mund:
– Sag etwas!
– Ich habe nichts zu sagen, denn ich weiss nichts.
– Hast du bereits ausgelernt?
– Ja.
– Ich kam gestern aus Rom mit grossen Hoffnungen, etwas Neues lernen zu können und unerhörte Dinge zu hören, aber ich höre nur das Schweigen.
– Mein lieber Maro, ich bin jahrelang hier gewesen, und ich habe gehört, aber nichts Neues. Ich habe in der Poikile gehört, dass Thales behauptet, die Götter hätten nie existiert, sondern alles sei aus etwas Feuchtem entstanden. Ich habe ferner Anaximenes' Lehre gehört, alles sei aus der Luft; Pherekydes' Lehre vom Äther als Urprinzip; Heraklits Lehre vom Feuer. Anaximander hat mich gelehrt, dass das Weltall sich aus einem Urstoff herleite. Leukippos und Demokritos sprachen mir von einem leeren Weltraum mit Urkörpern oder Atomen. Anaxagoras hat mir eingeredet, die Atome hätten Vernunft. Xenophanes wollte mich überzeugen, Gott und die Welt seien eins. Empedokles, der Klügste von der ganzen Gesellschaft, wurde verzweifelt über die Mangelhaftigkeit der Vernunft, und ging in seiner Verzweiflung hin und warf sich in Ätnas brennenden Berg, mit dem Kopf voran.
– Nein! Es ist wohl Lüge wie alles andere.– Darauf lernte ich von Plato eine Menge guter Dinge, die nachher alle von Aristoteles widerlegt wurden. Zuletzt blieb ich stehen bei dem Weisesten der Weisen, Sokrates, der offen erklärte, wie du weist, dass er nichts wisse.
– Das sagten ja die Sophisten: dass man nichts wissen könne, kaum das.
– Du hast recht, und unser guter Sokrates war ein Sophist, ohne es zu wollen! Aber es gibt einen, einen einzigen, der ... ja ich meine Pythagoras. Er hat ja dies und das verkündet, im Osten und im Westen, aber ich habe in seiner Philosophie einen Anker gefunden, den ich in den Boden gesenkt habe. Ich wehe allerdings im Wind, aber ich treibe nicht davon.
– Erzähle!
– Ja, so heisst es: Tu, was du für edel hältst, auch auf die Gefahr hin, aus dem Land gewiesen zu werden; die Menge kann das Edle nicht beurteilen. Darum sollst du ihr Lob geringschätzen und ihren Tadel verachten. Pflege deine Glaubensbrüder, halte aber die übrigen Menschen für eine Masse ohne allen Wert. Mit den Bohnen (die Demokraten meint er) führe stets Krieg. »Odi profanum vulgus et arceo!«
– Du müsstest zu Hause in Rom leben, Flaccus, wo ...
– Ja, was macht ihr jetzt in Rom?
– Caesar ist Caesar, er erobert die Welt, und besitzt alle höchsten Ämter, sogar die priesterlichen, in seiner Person. Dagegen habe ich nichts, aber man behauptet, er trachte nach Vergötterung.
– Warum nicht! Alle Götter sind erst Helden gewesen, und viele Götter sind nicht so gross gewesen wie Caesar. Romulus war doch kein Riese, wenn er auch das Glück hatte, zuerst zu kommen, und einer muss es doch sein. Jetzt ist er Gott, hat Tempel, und man opfert ihm.
– Es ist wohl eine Lüge wie alles andere!
– Wahrscheinlich.
– Ja, ich habe eine andere Geschichte gehört von der Gründung Roms durch Aeneas' Sohn Ascanius, der aus Troja floh; und diese Fabel will ich zum Ausgangspunkt meines grossen Gedichtes machen ...
– Ist es die Aeneis, von der man spricht?
– Ja, die Aeneis!
– Ist es schwer zu dichten?
– Nein, man folgt den guten Mustern. Bisher ist Theokrit mein Vorbild gewesen, jetzt aber werde ich zum Vater Homeros selber gehen.
– Beim Herakles! – Nun, hier bist du ungestört, solange nämlich wie Mäcenas dir die Sesterzen regelmässig schickt!
– Das tut er! – Aber wie schlägst du dich durch?
– Es ist mein alter Vater, ein Freigelassener, der arbeitet sich in der Quästur ab und hält mir dort einen Platz frei für die Zukunft.
– Hast du keine Interessen, keine Leidenschaften, keinen Ehrgeiz?
– Nein, was sollte ich damit? Nihil admirari. Das ist meine Losung. Wenn es Götter gibt, welche die Geschicke der Menschen und Völker lenken, warum sollte ich eingreifen und mich in einem nutzlosen Kampf aufreiben? Denk doch nur an Demosthenes, der dreissig Jahre lang gegen den Mazedonier redete, und seine Landsleute warnte, die nicht auf ihn hören wollten. Die Götter hielten es mit dem Mazedonier und verurteilten Hellas zum Untergang. Demosthenes kam ins Gefängnis. Lächerlicherweise wurde er angeklagt, vom selben Mazedonier bestochen zu sein. Das war natürlich eine Lüge! Dieser Patriot, der sich für die Rettung des Vaterlandes opferte, der glaubte die Sache der Götter zu führen, musste Gift nehmen, und fiel, gegen die Götter kämpfend! Vestigia terrent!
Während dieses Gespräches war die Sonne gesunken, und jetzt in der Dämmerung sah man Feuer aufflammen auf Ägina, auf Salamis, bei Phaleros, im Piräus und schliesslich auf der Akropolis. Das Gemurmel von der Stadt wurde lauter und stieg zu einem einzigen ungeheuren Freudenschrei. Männer kamen die Strasse hinunter, brachten Frauen und Kinder mit; die einen gingen, die andern fuhren und ritten.
Der gute Agathon, der Gastwirt, war erwacht und hinaus auf die Landstrasse gegangen, um die Ursache des Wirrwarrs zu erfahren.
Die beiden Studenten waren aufs Dach des Weinkellers gestiegen, um zu spähen. Aber sie ahnten Gefahr für Fremdlinge, die sie waren, und von den immer lauteren Rufen erschreckt, stiegen sie wieder herunter und versteckten sich im Kelterhaus.
Schliesslich war Agathons Stimme zu hören:
– Caesar ist ermordet! Tod den Römern! Freiheit für Hellas!
Das war die Neuigkeit.
Der Garten der Weinschenke füllte sich mit Volk, der Wein floss und Jubelrufe schallten und wechselten mit Stichelreden auf die vorbeiziehenden Römer ab, die aus der Stadt nach Norden flohen, um die mazedonische Grenze zu erreichen.
Maro und Flaccus standen eine grosse Angst aus, in der Kufe der Weinkelter verborgen, aus welchem Hinterhalt sie die ganze Neuigkeit mit den Nebenumständen erfuhren.
Caesar von Cassius und Brutus auf dem Kapitol ermordet.
– Brutus? flüsterte Maro. Dann ist es wohl aus mit den Caesaren, wie der alte Brutus mit den Königen ein Ende machte!
Und Brutus auf der Flucht nach Hellas, um die Hellenen gegen die Römer zu erheben.
– Es lebe Brutus! rief man im Garten.
– Dann werden wir auch leben, sagte der geschmeidige Flaccus. Caesar ist tot, huldigen wir Brutus, vorläufig.
Viele Jahre waren verflossen, als der frühere Student von Athen, Quintus Horatius Flaccus, im Garten seiner Villa in den Sabiner Bergen spazierte. Diese Villa hatte er von seinem Freund Mäcenas bekommen, der dicht daneben in Tibur selbst ein prächtiges Landhaus besass.
Horatius war nun ein sehr berühmter Dichter, aber doch der gleiche wie der Student in Athen. Das Schicksal oder die Götter hatten mit ihm gespielt, aber der Dichter hatte es auch als einen guten Scherz von den Oberen hingenommen und den mit einer Satire beantwortet.
Nach der Ermordung Caesars war nämlich Brutus nach Griechenland geflohen und dort so gut aufgenommen, dass die Athener ihm eine Statue errichteten und Truppen für ihn anwarben gegen Antonius und die anderen, unter denen sich der kranke Oktavianus (später Augustus) befand.
Horatius wurde als Soldat gepresst, und führte wirklich eine Legion bei Philippi, wo Brutus fiel. Der Dichter, der kein Krieger war, floh vor der Übermacht und kam nach Rom, wo er nach der Amnestie Staatsschreiber wurde. Gleichzeitig hatte er begonnen, Verse zu machen, wurde von Mäcenas entdeckt und erhielt seinen Lohn in einem Landgut.
Kaiser Augustus bewunderte ihn und bot ihm eine Stellung als Sekretär an. Horatius aber lehnte ab; teils weil er niemals etwas anderes als den Usurpator in diesem Imperator sehen konnte, teils weil er Freiheit und Unabhängigkeit vor allem liebte.
Jetzt spazierte er in seinem Garten, dessen Obstbäume er selbst gepfropft hatte. Er pflückte Rosen und Hyazinthen, denn er erwartete Besuch, einen lieben Gast, den alten Studiengenossen aus Athen, Publius Virgilius Maro, ebenso bekannt wie Horatius, obgleich er seine Aeneis noch nicht in Handschrift hatte erscheinen lassen.
In einer Weinlaube war gedeckt; alter Massischer und Falerner lag bereits auf Eis. Austern und Aale waren da; ein Zicklein und einige Wachteln staken am Spies im Brathaus; die Früchte des Gartens waren gepflückt; auf dem für zwei Personen gedeckten Tisch fehlten nur die Blumen.
Ein kleiner schreibkundiger Sklave lief zwischen der Gartentür und dem Taubenturm hin und her, um nach dem erwarteten Gast zu spähen.
Der Dichter stand gerade an der Wassertonne und wusch sich die Hände, da er die Blumenernte beendet hatte, als ihn jemand auf die Schulter klopfte:
– Virgilius! Welchen Weg bist du denn gekommen?
– Über die Höhen von Tibur, von Mäcenas.
– Willkommen, welchen Weg du auch gekommen bist, Wanderer; setz dich, du wirst müde sein, in mein Hemicyklon unter selbstgepflanzte Oliven, während die Bratspiesse kreiseln und die Hackmesser hacken! Hier siehst du meine Scholle, welche die Welt vorstellt ...
Die ersten Grüsse und Fragen waren abgemacht, und die Freunde hatten am Tisch Platz genommen. Der Wirt war allerdings Epikuräer oder Verehrer des Genusses; um aber geniessen zu können, muss man mässig sein, und die Mahlzeit war nach römischer Sitte zu urteilen recht frugal, an sich aber einfach und glänzend.
Dann kamen die Becher, und der Wein weckte die Erinnerungen, trotz seiner angeblichen lethischen Fähigkeit, sie zu löschen.
– Nun, du warst im Krieg, Freund? begann Virgilius.
– Ja, und ich bin schmählich geflohen, wie du weisst.
– Ich habe es in einem von deinen Gedichten gelesen, aber es soll nicht wahr sein, und du hast dich selber verleumdet.
– Habe ich? Vielleicht! Man schwatzt ja, wenn man dichtet.
– Du Dichter, entsinnst du dich, wie du mich in Athen fragtest, ob es schwer sei? Wie bist du zum schreiben gekommen?
– Ich brauchte Geld!
– Jetzt verleumdest du dich wieder! Könnten alle Klienten, die Geld nötig haben, schreiben, so wäre die Welt voll von Dichtern.
– Vielleicht ist es also nicht so gewesen! Aber sprich von dir! Von deiner Aeneis.
Virgilius wurde finster:
– Von der will ich nicht sprechen.
– Ist sie fertig?
– Mehr als das! Es ist aus mit ihr!
– Aus?
– Ja! Als ich sie las, fand ich sie misslungen! Das war nicht Homer, das war nichts! Es war wohl die Strafe, weil ich den Vater überglänzen wollte ...
– Hast du sie vernichtet?
– Noch nicht, aber sie liegt versiegelt, um nach meinem Tod vernichtet zu werden.
– Jetzt verleumdest du dich, und du bist niedergedrückt, Maro, nicht von Jahren, nicht von Arbeit, sondern von etwas anderm.
– Ja, von etwas anderm. Das Zukünftige beunruhigt mich!
Horatius schüttelte seinen Pokal und rezitierte:
Such nicht, strafbar es ist, wissen die Grenz,
die von den Göttern ist
unserm Leben gesetzt; nicht such das Schicksal, o Leuconoë,
in chaldäischer Zahl, dass du ihm ruhiger begegnest ja.
Sei klug! Klär deinen Wein!
Mitten im Wort uns flieht das neidische
Leben! Nütze den Tag, trau im geringsten nicht dem folgenden!
– Das kann ich nicht, unterbrach Virgilius; ich kanns nicht im Becher ertränken, wenn ich mein Vaterland untergehen sehe!
– Ist Rom je so mächtig gewesen wie jetzt? Besitzen wir nicht die ganze bekannte Welt, Egypten, Syrien, Griechenland, Italien, Spanien, Germanien, Gallien, Britannien! Ist mehr zu haben, wenn ich nicht Indien und Persien nenne? Und doch leben wir in Friedenszeit; der Janustempel ist geschlossen, die Erde freut sich, die Künste blühen und der Handel war nie so rege wie jetzt.
– Ja, der Friede vorm Krieg! Denn alle diese eroberten Völker sind erwacht und werfen ihre Blicke nach Rom! Nicht auf Griechenland wie früher, denn Griechenland ist öde und wüst geworden und geht in die grosse Ruhe ein. Weisst du, dass Sulla und Mithridates mordend und plündernd über Hellas dahingefahren sind, so dass Wissenschaft und Kunst zum egyptischen Alexandria oder dem wachsenden Byzanz flohen? Weisst du, dass die Seeräuber, von unbekannter Herkunft, aber von Osten, neulich jeden einzigen Tempel in Hellas geplündert haben, so dass dort kaum noch Gottesdienst gehalten werden kann. Die Orakel sind verstummt, die Dichter schweigen wie Singvögel im Gewitter, die grossen Tragödien werden nicht mehr gespielt; man sieht lieber Farcen und Gladiatorenspiele. Eine Ruine ist Hellas, und Rom wird bald auch eine sein.
– Die Zeit ist schlimm, das gebe ich zu, aber jede Zeit ist eine des Verfalls gewesen und hat doch zugleich eine neue Epoche vorbereitet. Der Laubschmuck des Herbstes soll die Treibbeete des folgenden Frühlings betten; Natur, Leben und Geschichte erneuern sich immer durch den Tod. Darum ist der Tod für mich nur eine Erneuerung, ein Wechsel, und wenn ich einen Leichenzug treffe, sage ich mir immer: O, wie angenehm ist es zu leben!
– Mein geliebter Flaccus, du lebst durch deine Träume im goldenen Zeitalter, während wir andern uns nur mit diesem Leben des eisernen Zeitalters schleppen. Erinnerst du dich, wie Hesiod bereits klagt?
– Nein, das habe ich vergessen, aber um dir angenehm zu sein, will ich es anhören.
– Es ist ein eisernes Volk, das jetzige, und nie ruhen sie von der Last der Arbeit, nicht am Tage, nicht in der Nacht! Ein sündiges Volk sind sie; und die Götter senden ihnen schwere Sorgen! Aber auch wenn sie Freude schicken, wird diese ihnen zum Unglück. Einmal wird Zeus sie ausrotten, diese vielversprechenden Völker, wenn sie mit grauen Schläfen geboren werden. Unsere Kinder werden ja bereits als Greise geboren, zahnlos, runzelig und mit kahlen Köpfen. Der Vater ist seinem Kind nicht gewogen, das Kind nicht seinem Vater, der Gast nicht seinem Wirt, der Diener nicht dem Diener, der Bruder nicht dem Bruder. Die Kinder entehren die alten Eltern, schmähen sie, sprechen unfreundliche Worte; diese jungen Schurken, die von der göttlichen Rache nichts wissen und ihre ergrauenden Eltern niemals für die Pflege in der Kindheit belohnen. Die Faust ist das Recht, und die eine Stadt verheert die andere. Redlichkeit und Treue gegen Eide werden nie belohnt, ebenso wenig wie Güte oder Gerechtigkeit. O nein, wer Sünde verübt und Gesetz bricht, der erlangt Ehre. Die Schurken betrügen edle Menschen und begehen Meineid ohne Skrupel. Der Neid verfolgt die Menschen, diese Unseligen mit ihren widrigen Stimmen und schrecklichen Gesichtern, die sich über das Böse freuen und den Schaden, den sie verüben können.
– Ja, so hat Hesiod vor tausend Jahren gesprochen, und ich muss gestehen, es stimmt! Aber was kann man tun?
– Ja, es stimmt! Cicero wurde ermordet, und ich wäre geneigt, Catos Beispiel zu folgen, der in den Tod ging, um der Sünde zu entgehen. Ich sinke, Flaccus, in Lüge und Heuchelei! Aber ich will nicht hinunter, ich will hinauf ... Ich habe Augustus und seinen Sohn Marcellus in meinen Versen gepriesen, aber ich glaube nicht mehr an sie, denn sie sind nicht die Zukunft! Darum soll die Aeneis verbrannt werden!
– Du beunruhigst mich, Maro! – Aber woran glaubst du?
– Ich glaube an die Sibylle, die vorausgesagt hat, dass das eiserne Zeitalter zu Ende gehen und ein goldenes Zeitalter wieder kommen wird ...
– Du hast das in der vierten Ekloge gesungen, erinnere ich mich ... Hast du Fieber?
– Ich glaube, ich habe es ... Erinnerst du dich, nein, unsere Väter erinnern sich, als das Kapitol brannte und dabei die sibyllinischen Bücher verbrannten. Jetzt aber sind neue Bücher aus Alexandria gekommen, und in denen hat man gelesen, dass eine neue Zeitrechnung bald beginnen wird; dass Rom zerstört, aber bald wieder aufgebaut werden wird, und dass ein goldenes Zeitalter ....
Hier schwieg der Seher.
– Verzeih, Flaccus, aber ich bin krank und muss heimreiten, ehe die Nebel der Campagna steigen.
– Eheu fugaces Postume, Postume! Labuntur anni! Ich folge dir, Freund, auf meinem Esel, denn du bist krank! Aber:
Den Mann gerechten Herzens und festen Muts
nicht blinder Bürger Eifer, der Mord verlangt,
nicht drohender Tyrannen Anblick
macht ihn verzagt oder wankelmütig!
Und fällt der Weltenbau zusammen,
schreckenlos steht er, umkracht von Trümmern.
Einige Tage später starb Virgilius in Neapel.
Man öffnete sein Testament und fand wirklich ein Verlangen, seine Aeneis solle verbrannt werden. Man willfahrte aber dieser Bitte nicht.
Die Nachwelt hat dieses Vorgehen gegen den letzten Willen eines Toten verschieden beurteilt; einige meinen, es sei schade gewesen; andere meinen, es sei ein Vorteil.
Als das Christentum kam, wurde Virgil zu den Propheten gerechnet. Die Aeneide hielt man für ein sibyllinisches Buch, und man nahm sie in die Liturgie auf. Man pilgerte zum Grab des Dichters. Und später wurde er, von Dante, zum Heiligen erhoben.