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Der weisse Berg

Während die Friedensunterhandlungen in Osnabrück und Münster stattfanden, flammte der dreissigjährige Krieg hier und dort wieder auf, mehr vielleicht um die Truppen in Übung zu erhalten, als um Glauben und Glaubensgenossen zu schützen, vor allem aber um der Soldateska Unterhalt und dem Befehl Beute zu verschaffen.

Alles Gerede von Religion hatte aufgehört, und die Mächte spielten jetzt mit offenen Karten. Das protestantische Sachsen, die erste Stütze des Luthertums, arbeitete mit dem katholischen Österreich zusammen, und das katholische Frankreich mit dem protestantischen Schweden. In der Schlacht bei Wolfenbüttel 1641 kämpften französische Katholiken gegen deutsche Katholiken, welch letzte später jedoch die Leiche Johan Banérs in ihren Reihen führten.

Den schwedischen Generalen lag nichts am Frieden; als aber die Verhandlungen nun ins siebente Jahr gingen, fühlten sie, es sei an der Zeit, achtzugeben. »Wer etwas nimmt, der hat etwas«, schrieb Wrangel an seinen Sohn.

Hans Christoph von Königsmarck, der Johan Banérs Überlieferungen fortsetzte, war eben mit bei Zusmarshausen gewesen und wurde jetzt nach Osten gegen Böhmen gesandt. Da er ausser der Reiterei nur fünfhundert Mann Fussvolk besass, wusste er nicht, was er tun sollte, sondern streifte aufs Geratewohl umher und suchte Beute. Es war aber nichts zu finden, denn Johan Banér hatte die Gegend schon verheert.

»Darauf zogen sie weiter«, wie Xenophon, und sie fanden die Wälder an den Landstrassen niedergehauen; auf den Äckern wuchs Unkraut, und in den Bäumen hingen Leichen; die Kirchen waren verbrannt, aber die Kirchhöfe wurden bewacht, damit die Leichen nicht aufgegessen würden.

Eine Nacht hatte Königsmarck ein kleines Streifkorps abgesondert, das er selber führte, und sein Zweck war, Proviant zu suchen. Sie ritten mitten in den Wald hinein, aus dem sie ein Licht leuchten sahen. Aber es war nur ein roter Schein, wie aus einem Kohlenmeiler oder einer Schmiede. Sie stiegen von den Pferden und schlichen sich zu Fuss auf den erleuchteten Platz zu.

An Ort und Stelle gekommen, hörten sie Menschenstimmen leise ein Miserere singen, und sie sahen Männer, Frauen und Kinder um einen Backofen sitzen, den letzten Rest eines Dorfes.

Königsmarck trat allein vor, und von einer jungen Fichte verborgen, sah er ein Schauspiel ... Er hatte wohl schon ähnliches gesehen, aber nicht unter solchen Umständen.

Im Backofen wurde an einer eisernen Schaufel ein Wildbret gebraten, das ein riesengrosser Hase sein konnte, es aber nicht war. Wie der Hase, war es sehr schmalbeinig und mager über Rücken und Brust, nur das Hinterteil allein schien gut entwickelt zu sein; den Kopf hatte es zwischen die Vorderläufe gesteckt ... Nein, es waren keine Vorderläufe, denn dort sassen zwei fünffingrige Hände, Menschenhände, und um den Hals war ein halbverkohlter Strick geknüpft. Es war ein Mensch, ein Gehängter, den man abgeschnitten hatte, um ihn zu verzehren.

Der General war von Natur nicht weichlich, und er hatte in seinem Leben so manches durchgemacht; dies aber überstieg alle Grenzen. Er wurde zuerst böse und wollte die Mahlzeit der Kanibalen unterbrechen; als er aber die kleinen Kinder erblickte, die auf den Knien der Mütter sassen und Grasbüschel im Mund hatten, wurde er von Mitleid erfasst. Die Menschenfresser sahen selber wie Leichen oder Wahnsinnige aus, und aller Augen waren auf den Ofen gerichtet, von dem sie die Rettung erwarteten. Dabei sangen sie ihr »Herr erbarme dich« und baten um Verzeihung für die schwere Sünde, die sie begehen mussten.

– Was geht es eigentlich mich an? sagte sich der General. Ich wünschte nur, ich hätte es nicht gesehen!

Und er kehrte zu seinen Leuten zurück, worauf sie weiter streiften.

Der Wald lichtetet sich, und sie kamen auf einen offenen Platz, der einem Steinhaufen glich, und mitten aus dem Haufen erhob sich ein Pfeiler, ein einziger. In der halben Dämmerung, die herrschte, konnten sie nicht so genau unterscheiden, aber oben auf dem Pfeiler schien sich etwas zu bewegen. Dies Etwas glich einem Menschen, aber er hatte nur einen Arm.

– Dies ist kein Mensch, denn dann würde er zwei Arme haben! schlug einer der Soldaten vor.

– Das wäre doch merkwürdig, wenn einem Menschen nicht ein Arm fehlen könnte.

– Ein ungewöhnlicher Fall! Vielleicht ein Säulenheiliger!

– Gebt ihm einen Schuss Pulver, so werden wir schon sehen!

Beim Waffengerassel, das jetzt entstand, erhob sich ein Geheul, so entsetzlich und vielstimmig, dass niemand glaubte, es komme von dem Säulenheiligen. Im selben Augenblick bewegte sich der Steinhaufen, wurde eine lebendige Masse.

– Das sind Wölfe! Legt an! Feuer!

Die Salve krachte und die Wölfe flohen.

Königsmarck ritt durch den Rauch hindurch und sah nun einen einarmigen Kaiserlichen auf dem Schornstein stehen, der von einer verbrannten Hütte übrig geblieben war.

– Komm herunter, dass wir dich ansehen, sagte er.

Der Verkrüppelte kletterte mit seinem einen Arm herab, wobei er eine unglaubliche Gelenkigkeit entwickelte.

– Den müsste man bei einem Sturm zum Besteigen der Kurtine haben.

Und dann begann das Verhör.

– Bist du allein?

– Jetzt allein, Dank sei Euern Gnaden, denn die Wölfe haben mir sechs Stunden Gesellschaft geleistet.

– Wie heisst du, von wo kommst du, wohin willst du?

– Ich heisse Odowalsky, ich komme von Wien, und ich gehe zur Hölle, wenn ich nicht Hilfe bekomme.

– Willst du mit uns gehen?

– Ja, so gern wie ich lebe! Mit wem es auch sei, wenn ich nur leben darf! Den Arm habe ich verloren; einen Hof erhielt ich; den steckten sie in Brand – und dann warfen sie mich auf die Landstrasse, mit Weib und Kind natürlich!

– Hör mal, findest du den Weg nach Prag?

– Ich finde den Weg bis Prag, in den Hradschin hinein und den kaiserlichen Schatz, Wallensteins Palast und ins königliche Schloss, den spanischen Tanzsaal und das Lorettokloster ... Da gibt es multum plus plurimum.

– Was hast du für einen Grad in der Armee?

– Ich bin Oberstleutnant.

– So, das ist was anders! – Kommt mit mir, dann sollt Ihr ein Pferd haben, Oberstleutnant, und dann lasst sehen, wozu Ihr taugt.

Odowalsky bekam ein Pferd, und der General nahm den Fremdling an seine Seite; er sprach die ganze Nacht vertraulich mit ihm, bis sie wieder auf die Hauptmacht stiessen.

 

Einige Tage später stand Königsmarck mit seiner kleinen Truppe auf dem Weissen Berg links von Prag, der goldenen Praga. Es war in der Dämmerung spät am Abend des fünfzehnten Juni. Er hatte seinen Odowalsky an der Seite und schien besonders gut Freund mit ihm zu sein. Aber die Truppe wusste nichts von den Plänen des Generals, und als die Offiziere sahen, dass er nach Prag ging, waren sie erstaunt, denn die Stadt war gut befestigt und wurde von einer stark bewaffneten Bürgerschaft verteidigt.

– Man kann sich ja immer den Staat ansehen, antwortete Königsmarck auf die Einwendungen. Das kostet ja nichts.

Und sie machten Halt auf dem Weissen Berg, ohne jedoch ein Lager aufzuschlagen. Von der schmucken Stadt aber sahen sie nichts, denn es war dunkel, aber sie hörten von Klöstern und Kirchen Glocken läuten.

– Das ist also der Weisse Berg, wo genau vor dreissig Jahren der Krieg ausbrach, sagte Königsmarck zu Odowalsky.

– Ja, antwortete der Österreicher. Damals brach der Aufruhr der Böhmen aus, und ihr König Friedrich V. von der Pfalz wurde hier geschlagen, dass es nur so hurrate!

– Wenn Ihr vergesst, wer Ihr seid, so vergesst nicht, wer ich bin!

– Wir wollen uns nicht streiten um das, was vor so langer Zeit geschah! Aber Tatsache ist, der Aufruhr wurde erstickt, und die Protestanten mussten abziehen. Was hatten sie nun für ihre Mühe, die armen Böhmen? Hussiten, Taboriten, Utraquisten liessen damals ihr Leben; jetzt aber ist Böhmen doch katholisch. Nur Torheiten!

– Gehört Ihr nicht zur römischen Kirche, Oberstleutnant?

– Ich gehöre überhaupt zu keiner Kirche, ich gehöre zur Armee! Und jetzt wollen wir Prag mit einem Handstreich nehmen.

Und so wurde es gemacht. Um Mitternacht kletterte das Fussvolk über die Mauer, warf den Posten in den Graben, hieb die Torwachen nieder, und damit war die Kleinseite eingenommen.

 

Drei Tage lang wurde die linke Seite der Moldau geplündert, und Königsmarck soll fünf Wagen mit Gold und Silber nach Nordwesten durch Deutschland geschickt haben, auf eigene Rechnung.

Odowalsky erhielt sechstausend Taler für seine Mühe und wurde später im schwedischen Ritterhaus als von Streitberg geadelt.

Aber die rechte Seite war nicht eingenommen. Die wurde von zehntausend Bürgern verteidigt, von Studenten, Mönchen und Juden sogar. Es gab nämlich seit alten Zeiten dort eine grosse Judenkolonie; und diese Juden wollten während des letzten deutschen Kreuzzuges hierher geflohen sein, direkt von Jerusalem; weshalb auch die Insel in der Moldau noch heute Jerusalem heisst. Und die Juden zeichneten sich so aus, dass sie als Ehrengabe von Kaiser Ferdinand III. eine grosse Fahne erhielten, die man in ihrer Synagoge sehen kann.

Königsmarck konnte die Altstadt nicht nehmen, sondern musste zu Wittenberg schicken. Der plünderte wirklich Tabor und Budweis; Prag aber, das schon geplündert war, lockte ihn nicht.

Da musste der Pfalzgraf Karl Gustav kommen, und er belagerte förmlich den östlichen Stadtteil.

Königsmarck wohnte im Schloss, wo er den alten Landtagssaal sehen konnte, aus dessen Fenster Graf Thurn die kaiserlichen Statthalter Martiniz und Slavata geworfen hatte; die Protestanten sagen, sie seien auf einen Dunghaufen gefallen, aber die Katholiken behaupten, es sei ein Fliederbusch gewesen.

Indessen der Pfälzer Karl Gustav, der wohl ein Vetter des Pfälzer Friedrich V. war, hatte ebenso wenig Glück vor Prag wie dieser. Er wurde krank und war überzeugt, man habe ihn vergiftet. Aber er erholte sich und sollte gerade Verstärkung von Wrangel bekommen, als die Nachricht einlief, der Friede sei geschlossen, der westfälische Friede.

Und damit war der dreissigjährige Krieg zu Ende. Schweden bekam zwei Millionen Taler und einige Besitzungen; die sollten jedoch deutsches Lehen sein, für das der Schwede drei Stimmen im deutschen Reichstag erhielt.

Aber Deutschland hatte nur ein Viertel seiner Bevölkerung noch; und während es früher ein Staat unter dem Kaiser gewesen war, bildete es jetzt dreihundert Kleinstaaten.

Doch, die Glaubensfreiheit von Augsburg, von 1555, war wiedergewonnen und auf die Reformierten ausgedehnt, und die war teuer erkauft; aber auch die Freiheit von Rom war für Norddeutschland erreicht, und die konnte nicht teuer genug erkauft werden.

Aus dem Chaos entsteht Schöpfung und Neuschöpfung; aus Deutschlands Chaos wuchs Norddeutschland hervor, und dessen Same hiess Brandenburg, das später Preussen wurde, schliesslich das deutsche Reich, das die Kaiserkrone in Versailles holte und nicht aus Rom.


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