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Eginhard an Emma

Zu Ostern anno 843 nach Christi Geburt im Benediktinerkloster Seligenstadt am Main geschrieben.

 

An meine liebe Hausfrau und jetzige Schwester in Christo, Emma; von Eginhard, früher Sekretär bei Karl dem Grossen, jetzt Mönch in Seligenstadt am Main.

Die Woche des Leidens ist zu Ende und die Auferstehungstage sind da; der Frühling hat den Frost aus der Erde getaut, Geist und Gedächtnis sind erwacht und die Vergangenheit steht auf.

Gestern am Osterabend, ging ich im Garten des Klosters spazieren und dachte über meine verflossenen fünfundsiebzig Jahre nach; ich gedachte der schönen Worte, die einmal in dem Gelehrtenkreis oder der Akademie des grossen Unvergesslichen fielen, als wir mit Worten und Gedanken wie Schachspieler spielten.

– Was ist der Mensch? fragte unser Lehrer, der weiseste Alkuin, den wir Flaccus nannten.

Darauf antwortete Angilbert, der Schwiegersohn des Kaisers, der Gatte der schönen Bertha.

– Der Mensch ist der Knecht des Todes, ein flüchtiger Reisender, ein Gast in seiner Wohnung.

– Ja, wahrhaftig, antwortete ich mir, ein Gast; und bald will ich mein Ränzel packen, meine Rechnung bezahlen und weiter reisen.

Ich ging am Ufer des Flusses entlang und dachte: derselbe Fluss, ewig derselbe Fluss, aber immer neues Wasser, niemals rinnt dasselbe Wasser hier vorbei. So ist das Leben, so ist der Fluss der Zeit; die Helden und Ereignisse der Geschichte, das hohe Lied der Historie, die Jahre und die Ehre, alles rinnt vorbei und vergeht.

Wollte dann die ersten Osterlilien pflücken, um sie Dir zu senden, die einmal meine Gattin war, und ging zum Gärtner unten am Teich mit den Karpfen. Wen treffe ich auf dem Fusssteig unter dem Efeu, dieser Ewigkeitspflanze, die nur von Geburt und Tod weiss, aber nicht den Wechsel der Jahreszeiten kennt? Ich treffe den Letzten, der ausser mir von den grossen Tagen, aus des Kaisers Tafelrunde, noch am Leben ist: Thiodolf, den Goten, jetzt Bischof von Orleans.

Ich kann Dir meine Freude beim Wiedersehen nicht beschreiben, nicht meine Gefühle darstellen, als ich im Gesicht des Alten die ganze Geschichte unsers Lebens las.

Die Uhr war sechs am Abend, und nachdem wir die Vesper gesungen, hörten die Fasten auf.

Ich liess einen grossen runden Tisch im Refektorium decken, nur für uns beide allein, aber mit zwölf Stühlen und zwölf Aufsätzen. Aus dem Gastzimmer des Bischofs holte ich den grössten Lehnstuhl, den ich mit Laub und Blumen schmückte; das war der des hochseligen Kaisers, der jetzt im Münster zu Aachen ruht, in dem Münster, den ich die Gnade und Ehre hatte, bauen zu lassen. Die andern Stühle teilten wir an die Freunde aus; zuerst kam Alkuin, dann der Dichter Angilbert-Homerus, der Irländer Clemens, der Baier Leidrade und die andern, die Du gekannt, aber vergessen hast.

Welcher Abend, welche Nacht, beim offnen Gartenfenster!

Wir sprachen natürlich von dem Grossen, Unvergesslichen, und lebten sein reiches Leben in unsern Gedanken noch einmal. Wir folgten ihm gegen Longobarden und Sarazenen, gegen Ungarn und andere Slaven. Aber bei seinem dreissigjährigen Krieg gegen die Sachsen verweilten wir ungern, meist aus Ehrfurcht vor der Erinnerung an den Grossen, denn er hätte nur die Waffen des Geistes in seinem Bekehrungszug gebrauchen sollen.

Denk doch nur an den Frankenkönig, der unsern Freund Ansgarius zu den wilden Schweden sandte. Der hatte keine bewaffnete Männer, sondern nur Gottes heiliges Wort. Er wurde allerdings wie Paulus von den Räubern geplündert, aber einmal angekommen, gewann er den König und die Ritter des Landes mit seinem milden Wesen und durch Verkündigung des Wortes.

Dagegen verweilten wir gern in unserm Gespräch bei dem grossen Weihnachtstag des Jahres 800 in Rom, als das abendländische römische Kaisertum wieder hergestellt und die Krone Germanien gegeben wurde; was Tacitus angekündigt und was Hermann im Teutoburger Wald als Märtyrer besiegelt hatte. Rom und Deutschland! Ein geistiges und ein weltliches Reich! Unerforschlich sind die Wege des Herrn!

Als wir auf den starken und milden Carolus Magnus Augustus tranken, erhoben wir uns beide, Thiodolf und ich, und verneigten uns vor dem leeren Platz, als sässe er dort leibhaftig.

Wo ist er jetzt, der Selige, Entschlafene, wo ist sein grosses Reich, das nur sein gewaltiger Geist zusammenhalten konnte? Was er geeinigt, ist nun durch seine Nachkommen zerstreut! Du weisst, nach dem letzten Vertrag zu Verdun hat das Reich Karls des Grossen aufgehört zu existieren; an seiner Stelle besitzen wir nun drei: Deutschland, Frankreich und Italien. Vielleicht muss es so sein, und vielleicht kann ein einziger Mann ein so grosses Reich nicht regieren. Schwer ist indessen die Einsicht, dass in der Geschichte jedes Grosswerk das Vergängnis in sich trägt, und dass die Höhen immer von der Tiefe d es Falles begrenzt werden.

Bruder Thiodolf brachte beunruhigende Neuigkeiten aus Frankreich mit. Die Sachsen, die schliesslich niedergeworfen wurden, mit ihrem gewaltigen Häuptling Widukind, sind auf eine schreckliche Rache verfallen. Sie haben nämlich dänische und schwedische Seeräuber, die Wikinger genannt werden, ins Land gelockt. Die sind den Rheinstrom hinaufgefahren, in die Seine hinein bis nach Rouen und in die Loire hinein.

Diese Skandinaven sind Germanen, also mit uns Franken verwandt, stehen aber in näherer Verwandtschaft mit Goten, Herulern, Rugiern und Longobarden, von denen die drei letzten Völker Skandinaven sind. Odovaker, der das weströmische Reich stürzte und den letzten Kaiser Romulus Augustulus absetzte, war ein Rugier, von der dänischen Insel Rügen. Diese Männer aus dem Norden scheinen jetzt an der Reihe zu sein, die Schaubühne zu betreten, und vielleicht sind sie gemeint mit den Völkern Gog und Magog, von denen das alte Testament prophezeite, dass sie aus dem Norden kommen werden.

Wir hörten erst um Mitternacht auf, Thiodolf und ich; gingen dann aber im Garten auf und ab bis zur Frühmesse; denn wir konnten nicht schlafen.

Und jetzt schliesse ich diesen Brief, teure Gattin, indem ich Dir selige Tage wünsche, fern von aller Unruhe der Welt. Ich selbst warte nur auf meinen Hingang, denn das Leben hat seine Lust für mich verloren, seit mein Herr und Kaiser in die grosse Ruhe eingegangen ist.

Grüsse die Brüder und die wenigen, die noch von der Zeit des Grossen leben, und sei selber gegrüsst, meine teure Emma, von Deinem toten Gatten, den du nicht eher wiedersehen wirst als am Tag der Auferstehung, dem grossen Ostertag, an dem wir uns alle wiedersehen werden.

Bis dahin: »Seid eines Sinns, seid friedfertig, und der Gott der Liebe und des Friedens wird mit euch sein.«


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