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Schon war wieder Schnee über die Felder gebreitet und die hochgeschwungenen Waldrücken standen in einem zottigen, schwarz und weiß gefleckten Winterpelz. Blaue Schatten lagen in den Falten der Hügelwellen, während die sonst grauen Häuserklumpen der Ebene in einem gelbroten Licht standen, gleich Sandsteinklippen am Strand eines Meeres von Blau und Weiß.
Der Himmel war heiter aufgeräumt und bot viel Platz für einzelne weiße Wolken, die mit unendlichem Behagen langsam und genießerisch angeschwommen kamen. Es strahlte ein Märchenglanz von ihnen herab, ein kühler Hauch, als kämen sie geradenwegs aus dem Palast der Eiskönigin.
Auf dem Berghang drüben, der unter dem gezackten Waldrand hervorkam und sich mit vielen Buckeln zur Ebene senkte, war ein lebhaftes schwärzliches Getümmel von Skiläufern, die sich ameisenhaft um ein dem fernen Betrachter Unverständliches bemühten.
»Ich möchte heute hoch hinaus!« sagte der Oberlehrer Bartosch. Er war auffällig fröhlich und unternehmend, hatte nachmittags an des Doktors Gartentür geläutet und hineinsagen lassen, Bimm bitte Rex zu einem Spaziergang, es sei so schön, daß man unbedingt in die Sonne hinaus müsse. Da hatte der Doktor, sobald seine heute ohnehin spärlich besuchte Sprechstunde geendet war, sich fertig gemacht und nun stieg er mit Bartosch einen Waldweg hinan, in dem nur eine ganz schmale Schrittspur ausgetreten war, so daß einer hinter dem andern gehen mußte.
Auf Lichtungen und Aushauen blieben sie bisweilen stehen und schauten zurück, wie die Ferne sich immer weiter öffnete und sich aus dem Dunst entlegene blaue neue Berge aufwölbten. Von den Wipfeln der Bäume lösten sich im warmen Sonnengeleucht Schneeklumpen los und fielen zwischen das Gesträuch, wo sie im kalten Schatten der Bodennähe wieder festfroren. Mit lautem Warnungsgebrüll kam von obenher den abschüssigen Hohlweg ein verwegener Skifahrer gesaust. Sie sprangen zur Seite, der Wildling raste vorbei wie ein Speiteufel, die Spitzen der Schneeschuhe im Winkel gegeneinander gestellt, den bremsenden Stock hinten eingestemmt, einen ganzen Schweif eiskalter Luft hinter sich herziehend.
Wie der Weg nun weniger steil wurde, begann der Oberlehrer wieder: »Es mag etwas an dem sein, was Sie sagen, lieber Doktor. Das Unbewußte ... gut ... aber was ist damit erklärt? Sie haben mir von dem Traum ihrer Frau Gemahlin erzählt. Nun ist es ja wirklich mehr als seltsam, daß die Beschreibung, die Ihre Frau von der Flucht empfangen hat, mit der Örtlichkeit, um die es handelt, völlig übereinstimmt.«
»Ja ... ich habe mich natürlich genauestens erkundigt, und es ist alles aufs Haar so, wie es der Hund im Traum meiner Frau geschildert hat. Der Sims unter dem Fenster, das niedrigere Dach, sogar die Leiter lehnte noch dort. Der Bildhauer hat mir auf meine Bitte auch eine Skizze gesandt, auf der alles deutlich ersichtlich ist. Und ich muß erwähnen, daß meine Frau niemals vorher dieses Atelier, in das der Künstler erst vor kurzem eingezogen ist, und seine Umgebung kennen gelernt hat; man muß also wirklich an eine Art Hellsehen glauben.«
»Was meint Ihre Frau dazu?«
»Ich habe ihr nichts von meinen Nachforschungen und ihren Ergebnissen gesagt. Sie ist in einem eigentümlichen Zustand von innerer Unsicherheit dem Hund gegenüber. Er scheint, als mache es ihr Gewissensbisse, ihn zurücksetzen zu müssen und doch sieht sie ein, daß sie dem Kind nichts von ihrer Aufmerksamkeit entgehen darf. Ich möchte sie nicht noch nachdenklicher machen; ich habe lieber von alledem geschwiegen.«
Sie standen auf einer flimmernden Wiese, auf der die schrägen Sonnenstrahlen ein blendendes Gefunkel von Schneekristallen entzündeten. Plötzlich sprang in den Glast ein graues, gestrecktes Waldwesen, ein Hase, der, aus seinem Winterlager aufgescheucht, mit todesängstlicher Hast zu entkommen suchte. Rex, der hinter den beiden Männern herstapfte, stieß einen kurzen, jauchzenden Jagdruf aus und warf sich auf die Spur, aber er machte nur ein paar Sätze, dann blieb er stehen und, nachdem er gesenkten Kopfes eine Weile den Schnee angestarrt hatte, kehrte er um und schlich mit gesenktem Schwanz wieder hinter seinem Herrn. Bimm, der ihm erst in steifbeiniger Kameradschaftlichkeit gefolgt war, hielt gleichfalls an, schüttelte verwundert die Ohren, und da er einsehen mochte, daß für ihn allein eine Jagd aussichtslos sei, gesellte er sich ergeben wieder dem Freund.
»Da haben Sie ein Bild seiner Gemütsbeschaffenheit,« sagte der Doktor, »er ist nicht wiederzuerkennen. Die Jagdlust war das, was ihm trotz aller Mühe nicht auszutreiben war, weder im Guten, noch im Bösen. Ich war immer in Sorgen, daß er einmal diesem unwiderstehlichen Drang zum Opfer fallen werde. Vorhin ... wie der Skifahrer an uns vorüberkam ... glauben Sie, daß er ihn sonst so ohne alle Umstände vorübergelassen hätte? Er wäre ihm sonst gewiß ein Stück mit Gebell nachgehetzt. Wenn er sich jetzt so gesittet benimmt, so ist das nicht Gehorsam und Einsicht, es ist einfach Lebensüberdruß. Es macht den Eindruck, als sei er gemütskrank. Zuerst nach seiner Heimkehr war er voll Dankbarkeit. Dann aber kam es wieder über ihn, als sei es stärker als alle seine guten Vorsätze. Er ist wieder verdrossen, mürrisch, wehleidig geworden. Wie ein armer Kranker wandert er unruhig durchs Haus. Er benimmt sich wie ein unglücklich Verliebter.«
Der Oberlehrer nickte, als stimme dies alles sehr gut zu seinen eigenen Ansichten. Sie hatten mit einem letzten Anstieg die Höhe erreicht und ein rotes Glitzern glomm zwischen den tiefhängenden, verschneiten Zweigen. Das waren die Fenster der Glasveranda des Schutzhauses, die das brennende Rot der Abendsonne auffingen und über den Schnee warfen.
»Ich habe gesagt, ich möchte heute hoch hinaus,« sagte der Oberlehrer, »kommen Sie, wir wollen dort oben ein Glas Wein miteinander trinken.« Der Doktor verwunderte sich, denn noch nie hatte der alte Herr auf ihren Spaziergängen den Wunsch geäußert, irgendwo einzukehren, so verlockend auch in diesem gesegneten Weinland allenthalben die grünen Buschen an langen Stangen vor den Heurigenschenken schaukelten. »Unser Herrgott streckt den Arm aus,« sagt der Volksmund von diesen Anzeigungen trinkbarer Tropfen. Aber da der Doktor um die mehr als bescheidenen Lebensumstände wußte, unter denen der Oberlehrer sein Dasein fristete, hatte er immer getan, als übersehe er den feuchtfröhlichen Herrgottswink. Froh erstaunt, daß die Stimmung des alten Herrn heute nach einem Trunk stand, willigte er ein, und sie traten in die Veranda, in der ein lautes, qualmendes Durcheinander von Menschen war.
Fußwanderer und Skiläufer saßen hier vergnügt beieinander, gerötet von der gerbenden Wintersonne, aufgepulvert von den kleinen Abenteuern des Weges, von kühnen Schwüngen und atemberaubenden Abfahrten. Die Eintretenden brachten in ihren Kleidern den Geruch der frischen Winterluft mit und erregten in dem Dampf der Zigarren und den Dünsten warmen Tees und Glühweins kleine Wirbel, die sich blau zur Decke zogen und dann in breiten Schwaden wieder niedersenkten.
Der Doktor und Bartosch fanden zum guten Glück einen eben verlassenen Tisch, der dicht an der Glaswand stand, so daß man das ganze Stück Winterwelt vor sich hatte, von den belasteten Baumwipfeln des Vordergrundes an, über die Häusergruppen der Ebene bis an die fernen, unsagbar köstlichen, freien Umrisse der Grenzberge jenseits des Stromes. Rex, der sonst bei solcher Einkehr niemals Ruhe hatte und den Raum eingehend untersuchen mußte, warf sich unter den Tisch, als sei er von ermüdender Wanderung erschöpft.
Der Oberlehrer ließ einen Flaschenwein kommen, der seiner Güte entsprechend hoch im Preis stand, goß ein und stieß mit Schittelhelm an. Dann sah er in die Landschaft hinaus, aus der die Sonne gewichen war, während sich ein silbernes Grau über die Ebene breitete. Sein Gespräch aber galt nicht ihr, sondern nahm den abgerissenen Faden hartnäckig wieder auf: »Sehen Sie ... das Unbewußte. Sie sagen, das Unbewußte. Das ist nur eine Ausflucht. Da sind doch diese Pferde, die rechnen und schreiben. Da sind diese Hunde, die das gleiche tun, die lesen, Briefe diktieren, die Quadrat- und Kubikwurzeln ziehen. Was sagen Sie dazu?«
»Was ich sage? Ich habe mich zu wenig damit beschäftigt. Ich meine, daß jedes Wesen das ihm zugewiesene Bereich hat, das es nicht verlassen sollte, um nicht gegen seine Natur zu sündigen.«
»Ich aber habe mich damit beschäftigt. Ich bin sogar mit einem dieser Hunde, dem berühmtesten, in Briefwechsel gestanden. Es war so, als schreibe ein begabtes, etwas verzogenes Kind voll drolliger Einfälle und Eigenwilligkeiten. Später ist dann ein Buch über diesen Hund erschienen und darin war auch mein Briefwechsel mit ihm abgedruckt. Darauf schrieb mir ein Jünger der okkulten Wissenschaften, einer von denen, die Vorträge mit Lichtbildern halten und alles ganz genau wissen, was zwischen Himmel und Erde ist. Er machte mir beinahe Vorwürfe, an diese Dinge zu glauben. Er sagte: das Unbewußte! Es ist das Unbewußte, aus dem heraus dieses Tier liest, schreibt, rechnet, das Unbewußte, das sich mit dem seiner Herrin in Rapport setzt.«
»Es ist doch schwer, ein anderes Wort dafür zu finden,« sagte der Doktor.
»Ist nicht auch schon das wunderbar? Dann wären die Tiere das, was man am Menschen Medium nennt und sie hätten allesamt dieselbe Gabe, die bei uns nur als etwas Seltenes und Gepriesenes in Erscheinung tritt. Denken Sie, wir sind von stummen Wesen umgeben, die auf geheimnisvolle Weise jede Regung unseres Allerinnersten, die uns selbst unbekannt bleibt, aufnehmen, nachempfinden und vielleicht sogar wiedergeben können ...!«
»Es ist ein ergreifender Gedanke!« gab der Doktor zu.
»Glauben Sie wirklich, daß dem Tier in dem ganzen wundervollen Schöpfungsplan keine andere Aufgabe zugewiesen ist, als von uns gefressen zu werden, für uns zu arbeiten, sich von uns mißhandeln zu lassen und uns im besten Fall zur Unterhaltung zu dienen? Wir sind ärmer und dümmer als unsere Vorfahren, von denen die weisesten den Tieren eine Heiligkeit zusprachen, die es schützte. Die Symbolik des Tieres ... haben uns nicht die Alten durch sie die erhabensten Geheimnisse näher zu bringen versucht? Das Tier war den Kirchenvätern nicht zu verworfen und nicht zu gering, um es nicht im Gleichnis sogar für den Heiland zu setzen. Sie nennen Jesus einen Löwen, weil er, so wie der Löwe mit dem Schweif seine Spur verwischt, seinen göttlichen Ursprung verbarg. Wie der Löwe, schläft auch Christus mit wachen Augen. Und wie die Löwin ihr junges tot zur Welt bringt und dieses erst nach drei Tagen dadurch ins Leben gerufen wird, daß der nun erst herbeikommende Löwe es anhaucht, so ging Christus nach dreitägigem Tod durch den Anhauch seines Vaters in die Gloria der Auferstehung zu neuem Leben ein. Sie vergleichen Jesus mit dem Panther, weil er wie dieser ein Feind des Drachen, das ist des Teufels ist. Nach der Jagd schläft der Panther drei Tage und brüllt dann beim Erwachen, wobei er einen solchen Wohlgeruch ausströmt, daß sich mit Ausnahme des Drachen alle Tiere um ihn sammeln. Wie erhaben sind alle diese – naturwissenschaftlich ungerechtfertigten – Bilder! Und der Hund, wie rührend ist diese mittelalterliche Gepflogenheit, ihn den steinernen Königinnen und Fürstinnen, die auf dem Deckel ihrer Grüfte liegen, in einem marmornen Abbild zu Füßen beizugeben, als Symbol der Treue, dieses wunderreichsten aller Geheimnisse der Seele.«
Es war draußen Nacht geworden und die Finsternis flutete in dunkelm Faltenwurf die Waldberge hinab bis dahin, wo ein schimmernder Saum von Lichtern sie wie ein Reifen zu umfassen schien. Der Oberlehrer schenkte den Rest der Flasche ein und hob das Glas, als trinke er jemandem zu, der draußen stand oder vielleicht der ganzen, von unsichtbarem Leben erfüllten Landschaft.
»Und welche Rolle weisen Sie also dem Tier für uns zu?« fragte der Doktor nach einer Weile. »Vielleicht ..., ich weiß es nicht, aber wozu auch alles wissen wollen ..., vielleicht die einer Vorstufe zur Erkenntnis unseres eigenen Selbst, von der wir ja noch weit entfernt sind. Dies eine weiß ich jedenfalls, daß wir uns nicht länger aus törichter Überheblichkeit weigern sollten, in ihm eine Seele zu sehen, von derselben Art wie die unsere; wenn auch die kleine Scholle, die als Bewußtsein auf dem Meer des Unbewußten schwimmt, bei ihm noch enger begrenzt sein mag als bei uns.«
Es war ausgetrunken, aber da der Doktor die Brieftasche zog, um die Flasche zu bezahlen, sagte der alte Herr leise und beinahe demütig: »Beleidigen Sie mich nicht. Ich habe Sie eingeladen und Sie sind mein Gast gewesen.« Da steckte der Doktor beschämt seine Brieftasche wieder ein.
Sie wanderten schweigend in Gedanken die schön in die Bergwindungen geschwungene breite Waldstraße hinab, auf der sich die Schritte leicht und rasch aneinanderfügten, während der zunehmende Mond über den Bäumen anstieg. In seinem Sichelrund war der unbeleuchtete Teil seiner Scheibe grau dämmernd sichtbar.
»Die Mondbarke,« sagte der alte Herr, »bei den alten Ägyptern war der Schakal der Führer der Toten, wenn sie auf der Mondbarke zur Unterwelt schifften ... also ein Hundevorfahre sozusagen,« setzte er hinzu, und der Doktor fühlte sein Lächeln durch die Finsternis.
Mit einem festen Händedruck verabschiedete sich der Oberlehrer vor dem ebenerdigen Häuschen, in dem er wohnte, von seinem Begleiter. »Und vielen Dank für alles,« rief er dem Davonschreitenden nach, aber Schittelhelm wußte nicht wofür.
Er erfuhr es am nächsten Morgen, da er von einem Polizeimann gerufen wurde, um dem Oberlehrer Bartosch beizustehen, der während der Nacht verunglückt sei. Er folgte ihm so rasch als möglich zu dem Haus, das der Alte bewohnte. Trotz der geöffneten Fenster war der Gasgeruch aus dem armseligen Raum, in dem nur die allernotwendigsten Einrichtungsstücke standen, noch immer nicht völlig gewichen. Es schien, als strömten die Wände, die sich mit den giftigen Dünsten vollgesogen hatten, noch immer ihren lähmenden Hauch aus, und sohin blieb kein Zweifel darüber, woran Bartosch eigentlich gestorben war. Er lag friedlich, bis ans Kinn zugedeckt, im Bett, mit einem Ausdruck von Genugtuung auf dem müden Gesicht, wie nach vollbrachter Tat, und auf seinen Füßen lag Bimm, sorgfältig zusammengeringelt, und war tot wie sein Herr. Wenn Schittelhelm noch gezweifelt hätte, daß der Abgang des alten Herrn ein freiwilliger gewesen war, so hätte er es dem Brief entnehmen müssen, der offensichtlich und mit seinem Namen versehen auf dem Tisch lag. Er lautete:
»Noch einmal vielen Dank für die Stunden unserer Gänge. Sie waren der letzte Mensch! Ich habe Ihnen von meiner Frau und meinen Söhnen erzählt, die tot sind. Nichts von meiner Tochter, die auch tot ist, obwohl sie noch lebt. Ich flüchtete in meiner Not zu ihr, aber es erging mir wie Lear, meine Speise war mit Kränkungen gewürzt und jeder Tag ließ mich fühlen, wie enge in sich versponnen ein Mensch sein kann, der niemand liebt als sich. Sie werden begreifen, daß ich mich geweigert habe, unter ein fremdes Dach zu treten und an einem fremden Tisch zu sitzen. Ich habe nichts mehr von den Menschen zu erwarten. Nun sind meine letzten Ersparnisse aufgebraucht. Bimm habe ich mit mir genommen. Ich bitte Sie, meiner Leiche die Socken aus seiner Wolle mitzugeben. Vielleicht begegne ich Ihnen noch einmal in einem Hunde, aber ich bitte Sie, nennen Sie darum nicht etwa jeden Hund ohne gründliche Prüfung Bartosch.«