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22

Bei seiner Rückkehr wurde dem Doktor gemeldet, daß jemand da sei, der ihn zu sprechen wünsche.

»Was haben Sie denn, Mirzl?« fragte er. Obzwar er selbst genug mit seinen Gedanken beschäftigt war, konnte es ihm doch nicht entgehen, daß Mirzl ungewöhnlich erregt sei. Sie schnaufte erheblich und hielt einen Schürzenzipfel derart bereit, als sei jeden Augenblick ein Rückfall in den seinerzeitigen tränenfeuchten Zustand ihrer ländlichen Anfänge zu gewärtigen.

Dennoch antwortete sie auf die Frage des Doktors, es sei nichts.

Als der Doktor in sein Zimmer trat, stand in der Ecke neben dem Ofen eine dunkle Gestalt, die in der Dämmerung nichts weiter erkennen ließ als die allgemeinen Merkmale männlichen Geschlechtes. Der Doktor, der nichts anderes erwartete als jemanden mit einem dringenden Anliegen an den Arzt, ließ die Deckenlampe aufglühen, und da war es sogleich am Licht, warum die Mirzl so aufgeregt war.

Der Mann, der da stand, war nämlich Ferdinand Kehraus, der weiland »g'schliffene Ferdl«.

»Sie sind's?« sagte der Doktor, ein wenig verwundert.

Der g'schliffene Ferdl machte noch einmal eine Art Verbeugung, räusperte sich, und es war ersichtlich, daß ihm seine Hände, diese langen Arme mit den schwer daran hängenden roten Fäusten, sehr im Wege waren und daß er sie, wenn es nur angegangen wäre, am liebsten weggelegt hätte.

»Setzen Sie sich,« lud der Doktor den Besucher ein, und da sich dieser unschlüssig umsah, zog er selbst einen Stuhl heran und mußte ein wenig lächeln, denn es war derselbe Stuhl, auf dem ihm der g'schliffene Ferdl schon einmal gegenübergesessen hatte, in jener Nacht, in der er von Rex –

Der Doktor fuhr hastig mit der Hand über die Augen, als blende ihn das Licht und hielt den Schirm der Höhlung eine kleine Weile über seinem Blick. Dann strich er über das Gesicht bis zum Kinn herab und es war, als glätte er etwas in seinen Zügen, das er nicht gerne von anderen sehen lassen wolle. »Ja ...« fuhr er fort, sich mit Anstrengung aus seiner Zerstreutheit sammelnd, »das ist schön, daß Sie sich endlich doch sehen lassen. Ich habe Ihnen damals doch gesagt, Sie sollen kommen, wenn Sie Ihre Strafe abgebüßt haben. Sie sind aber nicht gekommen ...«

Der g'schliffene Ferdl machte eine Bewegung, als müsse er diesen Vorwurf abwehren.

»Ich weiß,« sagte der Doktor in einem etwas müden, schleppenden Ton, »ich weiß ... Sie haben sich aus eigener Kraft herausarbeiten wollen. Und das ist aller Ehren wert. Ich verstehe Sie, Sie haben es nicht gerade mir verdanken wollen, wenn Sie wieder ein anständiger Mensch werden. Es ist Ihnen gelungen und ich kann Sie heute dazu nur beglückwünschen, daß Sie so dastehen ...«

Der g'schliffene Ferdl hielt die Knie eng aneinander gepreßt und strich sich mit der Hand unaufhörlich darüber. »Ich bin ...« sagte er beklommen ...

»Glauben Sie nicht,« unterbrach ihn der Doktor, »daß ich Sie aus den Augen verloren habe. Ich bin ganz genau über alles unterrichtet, was Sie betrifft. Die Leute haben mir immer alles zugetragen, was Sie treiben und wie Sie sich aufführen, vom Gefängnisdirektor bis zu Ihren jetzigen Vorgesetzten.«

»Das is ...« wollte der Ferdl wieder beginnen, da erhob er sich plötzlich, machte zwei Verbeugungen und stand dann kerzengerade.

Die Wohnungstür hatte sich aufgetan und Frau Hella war eingetreten, hinter ihr drang, solange das Öffnen dauerte, der helle Jubel des kleinen Wolfgang und das Geklirr des tschinellenschlagenden Wurstels mit ein. Frau Hella hatte von Mirzl gehört, daß jemand da sei, und da sie dem verstörten Gebaren und Aussehen der Hausgehilfin in die Gründe drang, hatte sie erfahren, daß es Ferdinand Kehraus sei, der da bei ihrem Mann war. Es beunruhigte sie, ihn mit dem einstigen Kopfschüßler allein zu wissen, wenn sie auch über seine Wandlung unterrichtet war, und so fand sie sich für alle Fälle als Hilfstruppe ein.

»Setzen Sie sich nur,« sagte der Doktor, indem er Frau Hella mit einem kurzen Nicken begrüßte. »Ja ... sehen Sie, gleich wie mir der Gefängnisdirektor den ersten Brief geschrieben hat, da habe ich mir gedacht: der Ferdinand Kehraus, der ist jetzt auf dem rechten Weg. Er hat mir zu berichten gehabt, daß Sie sich brav halten, daß Sie fleißig sind und daß Sie zum Lesen immer nur etwas über Naturwissenschaft oder über Reisen verlangen. Da hab ich mir gesagt: am Ende ist der Kopfschuß doch nicht ganz so arg. Und wie zuletzt das mit der Überschwemmung war, da war ich ganz froh. Ein anderer hätt' sich gedacht, was gehen mich die fremden Leute an? Sollen sie ertrinken oder nicht, sollen ihnen die Sachen wegschwimmen oder dableiben, ich bin ein Sträfling und zum Retten sind die anderen da. Und vielleicht hätt' der eine oder andere den Tumult auch benützt und wär' in ein Boot gesprungen und davongefahren. Aber nein, der Ferdinand Kehraus reißt nicht aus und denkt auch nicht, sollen's die anderen machen, sondern macht's selber, rennt vom Arbeitsplatz weg, aber nicht in den Wald hinein, sondern zu den Pionieren, hilft ihnen, traut sich dorthin, wohin sich kein anderer traut und rettet eine Menge Menschen und Vieh ... mit eigener Lebensgefahr. Donnerwetter, hab ich mir damals gedacht, wenn der Ferdinand Kehraus jetzt solche Sachen macht, die er als Kopfschüßler niemals gemacht hätt', so muß er ja vom Kopfschuß vollständig geheilt sein.«

»Ich bin ... ich hab bei die Pionier' 'dient,« war alles, was der g'schliffene Ferdl zu seiner Entschuldigung zu sagen wußte.

Es schien, als lausche der Doktor auf ein Geräusch in der anstoßenden Wohnung: »Hella, ich glaube, Bubi schreit nach dir!« sagte er.

»Und,« fuhr er fort, nachdem Frau Hella gegangen war, »ich weiß auch alles, was Sie nach Ihrer Entlassung angefangen haben und das hat mich nur noch mehr darin bestärkt, daß Sie jetzt ganz gesund sind. Wenn man als Maurer so fleißig arbeiten kann oben auf dem Gerüst, so darf man nicht schwindlig sein oder einen Rausch haben. Und daß Sie nebenbei die Kenntnisse, die Sie sich in Ihrem früheren Leben erworben haben, jetzt in den Dienst der guten Sache stellen, das tut schon ganz gewiß niemand, der nicht ganz klar im Kopf ist. Der Polizeikommissär Seidinger hat mir einmal gesagt: ›Der Kehraus, wenn wir den nicht hätten! Aber der kennt die ganze Brüderschaft, kennt jeden Keller und jeden Hehler, und wenn der sich in einer Geschichte nicht zurechtfindet, ein anderer findet sich bestimmt nicht zurecht.‹ Früher einmal, meine ich, hat man die Polizei schon allein lassen können und ihr nicht zu helfen brauchen, denn sie war in der Mehrzahl, aber jetzt, wo die anderen in der Mehrzahl sind, muß ein jeder beitragen, wie er nur kann, daß die Welt wieder zur Besinnung kommt.«

»Sie ha'm amal g'sagt,« erhob der g'schliffene Ferdl seine schwerfällige Stimme, »dö Welt muß nach denen g'sunden Köpfen geh'n und nöt nach denen kranken.«

Frau Hella war wieder eingetreten und hatte sich zu den beiden Männern gesellt, leise neben dem Bücherschrank in einen Stuhl gleitend.

»Es ist nur eins,« sagte der Doktor, »der Polizei zu helfen, daß wieder Ordnung wird, ist ein Beruf wie jeder andere, heute vielleicht wichtiger als ein anderer. Nur verträgt er sich nicht mit der Maurerei, verträgt sich überhaupt mit keinem anderen Beruf. Denn es kann einer kommen, der erzählt einem als Maurer etwas, was man als Maurer vielleicht wissen darf, aber nicht als Freund der Polizei. Und wenn der Freund der Polizei dann etwas aus dem macht, was er als Maurer erfahren hat, so ist das nicht ganz ... nicht ganz in Ordnung. Und wenn wir die Welt in Ordnung bringen wollen, so müssen wir zuerst selbst in Ordnung kommen. Wir müssen eins sein, entweder Maurer oder Polizeimann.«

»Dessentwegen bin ich da, Herr Doktor!« beeilte sich der g'schliffene Ferdl eifrig.

»Es hat geläutet,« sagte der Doktor, »ich bitte dich, Hella, schau nach.«

Frau Hella hatte nichts gehört, aber sie ging gehorsam hinaus. Während der Doktor so mit dem g'schliffenen Ferdl sprach, war ihm ein Gedanke gekommen; eine vertrauliche Sache zwischen ihm und dem Mann war zu ordnen, bei der er Frau Hella am wenigsten brauchen konnte.

»Ja, sehn S', Herr Doktor,« sagte der Ferdl, »und was derselbige Polizeikommissär Seidinger is, der hat g'sagt, was i für a kriminalistisches Talent bin und daß es schad' wär', wann mer's net ausbüld'n tät.«

»Da wollen Sie die Maurerei an den Nagel hängen?« fragte Schittelhelm.

Gewiß wolle er das, meinte der Ferdl, denn es sei ja jetzt ohnehin nicht viel los dabei. Die Zeiten wären so, daß ja niemand bauen könne und bei den bißchen Flickarbeiten nehme er nur anderen das Brot, die es vielleicht dringender brauchten. Er sei also dazu ausersehen, fuhr er fort, und seine Worte setzten stolze Segel, als Beamter angestellt zu werden, müsse nur erst eine kriminalistische Schule durchmachen und den Kurs für Polizeihundeführer ...

»Und weil doch dö Mirzl und i nachher heiraten möchten ...«

Das war allerdings eine überraschende und folgenreiche Neuigkeit.

»Ich weiß nicht, warum du mich immer wegschickst,« sagte Frau Hella, die in diesem Augenblick wiederkam, »es hat niemand geläutet.«

»Hast du's gehört?« rief der Doktor dazwischen, »der Ferdinand und die Mirzl wollen ein Paar werden.«

»Ach nein?« sagte Frau Hella, »und bald?« Es war nur eine matte Verwunderung, gar nicht der Größe des angekündigten Ereignisses entsprechend, es hatte den Anschein, als sei Frau Hella von etwas anderem so in Anspruch genommen, daß sie sich nicht völlig auf die neue Gestaltung der Dinge einzustellen vermochte.

»No ... es wird scho' no a Zeit dauern,« grinste der Ferdl, »erst muß i mei' Anstellung ha'm, dann kann g'heirat't werd'n.«

»Verzeih!« fragte Frau Hella, »ich kann den Hund nirgends finden. Weißt du nicht, wo er ist, du bist doch mit ihm ausgegangen.«

Der Doktor gab keine Antwort, sondern blieb dem Ferdl mit krampfhafter Aufmerksamkeit zugewandt: »Da kommen Sie also heute sozusagen, um Mirzls Hand anhalten?« sagte er mit einer gequälten Lustigkeit.

»Noch net ... noch net ... heut komm' i weg'n was ander'm. Weil i nämlich den Kurs für Polizeihundeführer machen soll und ... die Mirzl hat mir erzählt, daß der Hund net mehr gut tut und er is eifersüchti' aufs Kind ... und Sie hab'n ihn scho' amal wegg'schenkt, aber er is wieder'kommen, und da denk' i mir ... geb'n S' mir den Hund!«

Er warf das Wort jäh heraus und sah den Doktor erwartungsvoll und ein wenig ängstlich an.

»Kehraus!« sagte der Doktor ergriffen, indem er den Kopf auf die Brust sinken ließ.

»Schau'n S'« begann der g'schliffene Ferdl wieder beweglich, »Sö dürf'n net glaub'n ... wegen damals ... i kann den Hund freili net bezahl'n, aber Sö woll'n ja aa ka Geld für eahm. I denk mir halt, er kommt in a ganz a neuche Umgebung und wird fleißig sein müss'n und arbeiten, und so ein g'scheiter Hund wie er is und zu alt is er aa no net ... und vielleicht geht's und es verinteressiert ihn und er g'wöhnt si' d'ran ...«

»Nein,« sagte Frau Hella plötzlich, »wir geben den Hund nicht aus dem Haus. Wir haben ihn vielleicht nicht gut behandelt ... man muß auch so ein Tier zu verstehen suchen.« Sie war voll Reue, sie hatte Rex den ganzen Tag gesucht, sehnte sich danach, sein warmes Fell zu streicheln, sich von ihm die Pfote reichen zu lassen, die nervös empfindsam war wie eine Menschenhand.

»Sö dürfen net glauben,« setzte der ehemalige Kopfschüßler die seltsame Enthüllung seines Herzens fort, »Sö dürfen net glauben ... ah na ... er soll's gut bei mir haben ... So a Prachthund, a braver! Muß i eahm net dankbar sein? Der Hund, wann damals net g'wesen wär' ...«

»Ich kann Ihnen den Hund nicht geben, Kehraus!« sagte der Doktor stockend, »ich hab ja alles Vertrauen zu Ihnen ... aber der Hund ist nicht mehr.«

Mit einem scheuen Aufblick sah er in Hellas jäh erblaßtes Gesicht. Die Frau stand auf, griff an die Stirn, die Wange, warf den Kopf zurück, tief Atem schöpfend. »Was heißt das?« stammelte sie.

Auch der Doktor hatte sich erhoben und trat zu ihr: »Es hat sein müssen, Hella, da er dich gebissen hat ... dich

»Tot?« fragte sie.

Der g'schliffene Ferdl hatte seinen Hut genommen und stand an der Tür: »Ja, da ...,« sagte er immer nur, »ja, da!«

»Kommen Sie!« und der Doktor zog ihn am Arm hinaus, »ich muß Sie um etwas bitten, Kehraus. Er liegt draußen am Steinbruch unter einem wilden Rosenstrauch. Wollen Sie mir die Leiche holen? Ich möchte ihn doch daheim begraben, in seinem Garten.«

»Ja!« sagte der g'schliffene Ferdl, »i bring' eahn.«

Sie fuhren beide zusammen, denn aus dem Sprechzimmer des Doktors kam ein bitteres Aufschluchzen, losgerissen vom innersten Grund eines Menschenherzens, der Aufschrei einer Anklage, die bang durch das Haus verwehte, aus dem ein ihm verwachsenes Leben hinausgewiesen worden war.

Spät am Abend brachte der Ferdl in einem Rucksack die Leiche des toten Hundes. Der Doktor stach bei Laternenschein ein Loch in den Rasen neben der Ulme, schachtete das kleine Grab aus und nachdem er Rex hineingelegt hatte, deckte er den Rasen wieder darüber. Es sollte niemand wissen als er, wo der Getreue lag.


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